Ausgabe 1 / 2005 Material von Erich Kästner

420 Stunden in der Luft

Von Erich Kästner

Das Fliegen ist schon längst nicht mehr gefährlich.
Es turnt sich in den Lüften wie am Reck.
Die Erde wird nun nach und nach entbehrlich.
Sie dient als Start. Sonst hat sie keinen Zweck.
Wo sich Rekorde zeigen, wird gebrochen.
Man sitzt im Flugzeug wie im ersten Rang.
Erst flog man einen Tag. Jetzt fliegt man Wochen.
Ab nächsten Dienstag fliegt man jahrelang.
Die Luft hat keine Balken. Das ist richtig.
Doch ohne Balken geht es schließlich auch.
Natur und Städte – alles nicht so wichtig.
Benzin ist nötig! Und ein langer Schlauch.
Wer keine Wohnung hat, lernt morgen fliegen.
Im Himmel ist für viele Leute Raum.
Wenn erst die Kolonien im Himmel liegen,
Stört das die andern Völkerschaften kaum.
So löst das Fliegen selbst die schwersten Fragen,
Weil nun der Globus an Gewicht verliert.
Die Luft ist groß. Wozu soll man sich plagen?
Der Himmel wird ganz einfach parzelliert.
Wer Kinder hat, soll sich nicht weiter grämen.
Man kauft ein Flugzeug. Und man schickt sie fort.
Sie werden Luftgeschäfte übernehmen.
Der Himmel ist dafür der rechte Ort.
Die Menschen werden allesamt Piloten.
Die ganze Erde wird zur Alten Welt.
Sie zu besuchen, ist zwar nicht verboten.
Doch keiner tut's. Falls er nicht runterfällt.
So ist der Mensch. Und Gott hat ihn erschaffen.
New York versinkt. Und London. Auch Berlin.
In Wilmersdorf und Steglitz klettern Affen.
Und selbst die Engel stinken nach Benzin.
5. August 1929

Ende Juli 1929 wurde in Frankreich ein Dauerflugrekord von 386 Stunden aufgestellt. Eine Woche vorher lag er bei 247 Stunden.

aus: Montagsgedichte
© Atrium Verlag, Zürich, und Thomas Kästner

 

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