Alle Ausgaben / 2010 Artikel von Beate Blatz

8samkeit

Kleine Zahlenlehre für den Alltag

Von Beate Blatz


„Gib Acht, dass Du Dir nichts tust“, sagte meine Großmutter fürsorglich, wenn wir Kleinen die Treppe aus der Wohnung in ihren Laden herunterpolterten. „Gib Acht!“ sagte sie mit hörbarem Ausrufungszeichen, wenn wir sanft aber nachdrücklich dazu aufgefordert waren, das Unsrige zu tun, damit der Familienfrieden erhalten bliebe.

„Gib Acht“, führte meine Mutter die Tradition fort, und meinte beides: Kletter da bloß nicht hoch, will sagen: du kommst vom rechten Pfad ab. Und: Fall mir nicht vom Apfelbaum – tu dir bloß nichts.

Dem Wort, das die Frauen in meiner Familie benutzten, um uns auf den richtigen Pfad zu setzen und durch gelegentliche Wiederholung der Ermahnung oder Erinnerung dort zu halten, wohnt ein Zauber inne.

Es ist der Zauber dieser doppelt gedrehten Zahl. Es sind zwei Kreise, die sich berühren und an den Außenrändern in der Mitte der Figur verbunden sind. Es ist der Schwung, der gleichzeitig kraftvolle Vorwärtsbewegung und vorsichtige Distanz beinhaltet. Selbstbewusstsein, dort zu stehen, wo ich stehe, und „das, die andere, den anderen“ zu beobachten, der, die, das im anderen Kreis steht und zu mir herüber schaut. Getrennt und doch verbunden sind wir durch den Schwung der Linie.

Und was heißt Achtsamkeit? Woher kommt die Acht in „gib Acht“? Gleich drei Wortstämme im deutschen Sprachraum stehen hinter dem Achtsamkeit gebietenden „Gib Acht“:

– mittelhochdeutsch/althochdeutsch aht/ahta: zu ächten, ahta = Verfolgung, Friedlosigkeit, Verachtung
– mittelhochdeutsch ahten / althochdeutsch ahton = nachdenken, beachten, werten, glauben, schätzen, beraten, wachen über, preisen; achte als Hauptwort hierzu bedeutet demnach Rat, Beratung, Schätzung, Wert, diesem Wortstamm ist allerdings auch ein Zaudern eigen, das mit zu viel Nachdenken zusammenhängen mag.
– Und schließlich ist acht die Ordnungszahl, die ordentlich zwischen der Sieben und der Neun steht.

Fangen wir da an, wo die Germanistik uns sofort die Arbeit am falschen Wortstamm quittiert, die Religionswissenschaft uns auf einen eigenen Pfad führt. Gib also Acht.

Zahlen in der Kulturgeschichte sind nicht einfach nur Ziffern, mit denen der Mensch Berechnungen anstellen kann. Sie haben ordnende Funktion, indem sie die Vielfalt der Dinge zu einander ins Verhältnis setzen, Zahlen setzen Maßstäbe, eröffnen Dimensionen des Denkens.

„Es ist schwer zu sagen, ob das Hantieren mit Zahlen zunächst eine Notwendigkeit der Alltagspraxis war, oder ob die Priester und Kultdiener als erste die Zahlen erfunden haben, um die rechte Zeit für ihre Opferfeiern und Festriten ablesen zu können.“(1)  Mathematik war beides, Zahlen waren und sind religiös geladen und für die Alltagswelt bestimmt.


mitten zwischen 7 und 9

Die Acht steht zunächst einmal ordnungsgemäß zwischen der Sieben und der Neun. Beide Nachbarzahlen sind Stars der Zahlensymbolik.

Die Sieben steht für das Gute, die Gottheit und die Weisheit, sie steht aber auch für die dunkle Seite des Daseins. Das gilt für alle Religionen, die ihren Ursprung im Mittelmeerraum haben. Sieben Tage hat die Woche, sieben Planeten das Altertum: Jupiter, Mars, Merkur, Venus, Saturn, Sonne und Mond. Sieben Säulen der Weisheit, Siebenmeilenstiefel, nach Shakespeare auch sieben Menschenalter. Alle sieben Jahre vollende sich ein Wachstumszyklus, hieß es in China, heißt es in der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners.

Im Ersten Testament dauert ein Fest in der Regel sieben Tage, Josef deutet den Traum des Pharao und prophezeit sieben fette und sieben magere Jahre, die Menora hat sieben Arme. Im Zweiten Testament ist es vor allem die Johannesapokalypse, die in der Symbolik der Sieben geradezu schwelgt. Sieben Siegel werden aufgetan, sieben Posaunen leiten die Apokalypse ein. In der christlichen Frömmigkeit stehen sieben Gaben des Heiligen Geistes sieben Todsünden entgegen. Sieben Sakramente prägen das rituelle Leben. Sieben

Bitten hat das Vater Unser, drei auf Gott gerichtete, vier auf den Menschen bezogene. Die erste Sure des Koran, die Fatiha, weist die gleiche Struktur auf

Die Sieben ist im klassischen Griechenland dem Apoll, dem Gott des Lichtes, gewidmet. Im indischen Raum gehört sie zu Agni, dem Sonnengott, dem Gott des Feuers, der Hinduismus kennt sieben Weltgegenden, sieben Jahreszeiten. Und bei Hippokrates heißt es: „Die Siebenzahl beherrscht die Krankheiten und alles, was im Körper von Zerstörung betroffen ist.“

Die Sieben ist gut oder zeigt die Regel für das, was nicht gut ist. – Wie leichtfertig singen wir da doch den Kinderreim: „Wer will guten Kuchen backen, der muss haben sieben Sachen …“

Die Neun ist die potenzierte heilige Drei. Der magischen Neun wird die Kraft zu heilen und zu stärken zugeschrieben, Geister zu rufen oder zu bannen. Neun Welten kannten die germanischen Religionen, neun Sphären des Himmels kennen die christlichen und semitischen Kosmologien. Neun Musen sind neun Sphären zugeteilt. Neun Unterwelten kennen die Maya, neun Ströme durchziehen die Unterwelt, heißt es in China, wo die gesamte Weltordnung auf der Neun basiert.

Die Neun ist rund und kraftvoll, aber eben noch nicht die Vollendung, die mit der 10 kommt.


8 Ecken und 8 Paradiese

Eine beeindruckende Nachbarschaft. Doch nun zur Acht selbst. Die Acht, eine doppelte Vier und eine vierfache Zwei, vier Winde, vier Himmelsrichtungen, acht Strahlen hat die Windrose. Die Acht hat, ähnlich wie die das Quadrat berechnende Vier, wenig Dynamik, dafür Ruhe, ein Achteck ist fast die Quadratur des Kreises.

Acht, lehrt die Numerologie, ist die Vollendung der Sieben – hinter den sieben Sphären der Planeten liegt die achte Sphäre der Fixsterne. Acht Speichen hat das Glücksrad. Durch sieben Tore gehen die Suchenden im Mithraskult, das achte Tor öffnet den Weg zur Lichtheimat. Der Islam kennt sieben Höllen, aber acht Paradiese, „denn die Barmherzigkeit Gottes ist größer als sein Zorn.“(2)

Acht Speichen hat das buddhistische Rad der Erlösung, denn Acht Schritte hat der Weg, der Edle Pfad, über den die Erlösung vom Leiden erreicht wird und der Kreislauf der Wiedergeburten durchbrochen ist.(3)  Der achtblättrige Lotus ist das Symbol der zur Erlösung führenden Meditation, in der buddhistischen Ikonographie ist er der Schoß, aus dem Buddha geboren wird.

Auch mit der babylonischen Himmelsgöttin Ischtar ist die Acht verbunden, die gleichzeitig als Morgen- und als Abendstern, also Venus, verehrt wurde. Ischtar stand als Morgenstern in der Nähe der Sonne und hatte dann männliche Attribute, als Abendstern stand sie in der Nähe des Mondes und hatte weibliche Attribute. Ischtar erscheint in der Form dreier Geschlechter: neben weiblich und männlich ist Ischtar auch als ein Drittes. Ischtars Symbol ist ein achteckiger Stern. Der wiederum kommt uns bekannt vor: Der achteckige Stern steht in altchristlichen Darstellungen auch für Maria.

Aber die Acht hat noch größere Bedeutung im Christentum. „Denn nach alter Tradition hat der Stern von Bethlehem acht Strahlen oder Zacken. Die Acht definiert im Christentum Christus, der am Tag nach dem Sabbat, dem siebten Tag, also am achten Tag auferstanden ist.“(4)

Und von hier aus findet die Acht den Weg in die Symbolik der christlichen Kirchen. So sind Taufbecken häufig achteckig: Der Täufling stirbt im Wasser der Taufe in Christus und wird in Christus wiedergeboren. In der Eucharistiefeier, dem Abendmahl, wiederholt der Ritus Sterben und Auferstehung Christi – wen wundert es da, dass ganze Kirchen der oktogonalen, also der achteckigen, symbolisch für Christus stehenden Form erbaut wurden; prominente Beispiele sind der Felsendom in Jerusalem, der Aachener Dom und die Frauenkirche in Dresden.

Die Acht als Grundmodell für die Kunst des mittelalterlichen Kathedralenbaus verweist auf mehr als eine architektonisch angenehme Form: Acht Seligpreisungen hat die Bergpredigt. „Die Achtheit lobsingt in uns“, heißt es in den apokryphen Johannesakten, einem der Gnosis zugeschrieben Text aus der Frühzeit des Christentums.

Die Acht begegnet uns noch in anderer Form: liegend ist sie das Zeichen für Unendlichkeit in der Mathematik. Die liegende Acht ist das Zeichen der Vollendung. Sie ist der Versuch, Gegensätze darzustellen, die, entwirrt, als Ellipse eine Einheit, ein Ganzes bilden, in der zwei Mittelpunkte für die nötige Spannung sorgen. „Die Lemniskate ist der Versuch, die Dualität, die in und aus der Einheit entstand, darzustellen. Sie ist auch ein Symbol des ewigen Kreislaufs, des Auf und Ab, durch dessen Rhythmus Schwingung erzeugt wird.“(5)

Auf einem Kapitell in Cluny heißt es: „Octavus sanctos omnes docet esse beatos – die Acht lehrt, dass alle Heiligen selig sind. Die Oktav ist als wiederhergestellte vollkommene Konsonanz gleichsam Rückkehr zur ursprünglichen Harmonie und „Seligkeit“ der Eins, der Prim. – Der achte Ton ist in allem vollkommen und übersteigt die irdischen Arbeiten und alle Mühsal. – Die EINheit und die Zahl Acht sind die deutliche Grenze, an der das Irdische sich mit dem Jenseits berührt.“(6)

Gib Acht! Sei achtsam. Halte die Gegensätze, die inneren und die äußeren, in Spannung und in Balance.


Dr. Beate Blatz, Jg. 1956, hat Vergleichende Religionswissenschaften und Anglistik studiert. Ab 2007 war sie Generalsekretärin der Ev. Frauenarbeit in Deutschland, seit 2008 ist sie Leiterin der EFiD.


Anmerkungen:

1 Otto Betz, Die geheimnisvolle Welt der Zahlen, Königsfurth – Urania Verlag 2005, S.8
2 Franz Carl Endres, Annemarie Schimmel, Das Mysterium der Zahlen. München, 1988, S. 173
3 Vgl. die kurzen Erläuterungen auf S. 42-43; vgl. weiter: http://www.theravada-buddhismus.at/theravada/buddh_achtfachepfad.htm. Der achte Schritt, die rechte Versenkung, gliedert sich in vier Stufen: 1. Stufe: Das Nachdenken und die Überlegungen kommen zur Ruhe. 2. Stufe: Es entstehen Freude und Glück. 3. Stufe: Es lösen sich Freude und Glück auf, und es entstehen Wachsamkeit, Gleichmut und das Verharren im Glück. 4. Stufe: Schließlich verschwinden Glück und Unglück, und es entstehen reiner Gleichmut und Wachsamkeit. Auf dieser letzten Stufe wird die erlösende Erkenntnis möglich. Sie kann nicht durch diskursives Denken erfahren werden, sondern muss rein intuitiv geschaut werden. Der Meditierende erkennt, dass die konventionelle Vorstellung des Ich ein Trug ist. Dadurch befreit er sich von den Fesseln des eigenen Ich und somit auch vom Durst nach dem Werden. Er ist frei und erlöst.
4 www.heilige-dreikoenige.de/Symbolik/index.html
5 www.seelenbilder.net
6 Hans Sedlmayer, Die Entstehund der Kathedrale, 1950, zitiert bei Otto Betz aaO., S. 100

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