Ausgabe 1 / 2023 Andacht von Angelika Weigt-Blätgen

Goldflicken. Spalte für das Licht öffnen

Von Angelika Weigt-Blätgen

Votum

Mit unseren Widersprüchen und Fragen, mit unseren Ängsten und Hoffnungen sind wir hier zusammen, um sie zu teilen, sie vor Gott zu bringen. Möge die heilige Geistkraft uns weiter sehen lassen, uns einen Spalt weit den Himmel öffnen. Amen

Lied
Da wohnt ein Sehnen tief in uns
Durch Hohes und Tiefes Nr. 112
oder
Du Morgenstern, du Licht vom Licht eg 74

Biblische Texte

Umso fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbricht und der Morgenstern leuchtet in euren Herzen. 2 Petrus 1,19

Die Frucht des Lichts aber ist lauter Gerechtigkeit, Güte und Wahrheit. Epheser 5,8

Mache dich auf, werde licht… Jesaja 60,1

Ach, das Licht!

Nie habe ich Kerzenschein und Lichterkettenheimeligkeit in der Advents- und Weihnachtszeit als so schwierig empfunden wie im vergangenen Jahr. Energie einsparen, Vorsorge treffen für den möglichen Stromausfall, die Menschen in der Ukraine in Kellern und U-Bahnhöfen wissen. Aber… die Kinder, die lange Zeit der Coronaeinschränkungen, das Weihnachtsgeschäft. Die beleuchteten Straßen und Häuser als ein Trost, als eine Entschädigung, als Zeichen für Normalität. Was immer das sein mag: Normalität. Die Reduzierungen bei der weihnachtlichen Stadtbeleuchtung – es soll sie gegeben haben! – sind kaum wahrnehmbar gewesen.

Am Heiligen Abend: ein wunderbarer Gottesdienst. Musikalisch ein Genuss, der Rahmen bescheiden, die Predigt politisch klar. Am Ausgang gut gefüllte Kollektenkörbe für Brot für die Welt – wie jedes Jahr und doch ganz anders.

„Tragt in die Welt nun ein Licht, sagt allen: Fürchtet euch nicht.“ Die Idee, die Gemeinde mit diesem Lied und dem Licht von Bethlehem hinauszuleiten – nichts hätte die Brüche, die Ambivalenzen, die Gleichzeitigkeit von Hoffnungslicht und Beklemmung, der Sehnsucht nach Trost und dem Gefühl, dass er mir nicht wirklich zusteht, an diesem Heiligen Abend deutlicher spürbar machen können.

Plötzlich sind alle Bilder und Informationen wieder da: von den blockierten Getreidelieferungen aus der Ukraine; von den Menschen dort, die ihre Ernte nicht einbringen konnten, weil sie geflüchtet waren, weil sie an der Front waren, weil ihr Land vermint war. Der Hunger in der Welt wird größer sein denn je.

Habe ich ähnliche Gefühle und Gedanken?
3 Minuten Stille; anschließend kann zu einer kurzen Austauschrunde eingeladen werden. Die TN werden gebeten, den Äußerungen einfach nur zuzuhören, sie aber nicht zu kommentieren oder zu diskutieren.

Ach, das Licht!

Die Fastenaktion „7 Wochen ohne“ 2023 wirbt mit einer sehr freundlich lächelnden jungen Frau, die wie auf einem Urlaubsfoto aussieht. Ihr Strahlen ist Werbung für das Motto „Leuchten! Sieben Woche ohne Verzagtheit“. „In der Mitte der Fastenzeit, der vierten Woche, strahlen und leuchten wir selbst“, heißt es in dem Flyer. Und wieder sind Kerzen im Angebot, Wortkerzen, nicht Haushaltskerzen – Sie wissen schon …

Was sollte uns zum Leuchten und Strahlen bringen? Und geht es nicht auch ein bisschen kleiner, etwas bescheidener, etwas demütiger? Was sollte uns zum Leuchten und zum Strahlen bringen, wenn wir nicht all das ausblenden, was uns beschwert, herausfordert, Angst macht? Wie leben mit dem Wissen, dass so viel Dunkelheit herrscht – nicht nur in der Ukraine? Während die Fastenden in Einkehr und Meditation das Spotlight scheinbar auf sich selbst richten, um davon abzustrahlen, wird gleichzeitig so viel Leid, so viel Not ausgeblendet. Oder geht es in erster Linie darum, die eigene Verzagtheit zu überwinden? Geht das ohne Rückzug in die Inselseligkeit?

Aber vielleicht braucht es sogar solche Inselseligkeit. Vielleicht brauchen wir Rückzugsorte, um all die Ungleichzeitigkeiten auszuhalten, ohne zerrissen zu werden. Ohne bei allem, was uns freut und was wir genießen, ein schlechtes Gewissen zu haben oder es uns ganz zu verbieten. Was brauchen wir, um uns all den Brüchen, all den Krisen, all den Widersprüchlichkeiten stellen zu können; widerstandsfähig zu bleiben oder zu werden? Wut und Trauer und Zorn und Ohnmacht, aber auch Hoffnung und Widerstand ins Leben ziehen, in unser Leben und in unseren Glauben – suchen nach prophetischen Worten, heilenden Bildern, tragenden Symbolen.

3 Minuten Stille; anschließend kann wieder zu einer kurzen Austauschrunde ohne Kommentare oder Diskussionen eingeladen werden.

Ach, das Licht!

In der Bibel steht „Licht“ für das Gute, für das Heilsame. Die Frucht des Lichts ist „lauter Gerechtigkeit, Güte und Wahrheit“. Das prophetische Wort ist ein Licht, das die Hoffnung ausleuchtet für „das Volk, das im Finstern wandelt“. Das prophetische Wort stellt den Menschen ein Bild vor die Augen und in die Seelen, das Bild vom Licht, das aufgeht über dem „Todesschattenland“ (Martin Buber). Genau dort – im Todesschattenland – fordert Jesaja die Menschen auf, sich zu erheben: „Mache dich auf, werde licht…“.

Werde licht! Lange habe ich „licht“ großgeschrieben: Werde Licht, sei ein Licht! Was für eine Überforderung, dachte ich. Was für eine Überforderung für leidende, unterdrückte, misshandelte Menschen bei Jesaja, was für eine Überforderung für Christ*innen heute.

Werde licht! Kleingeschrieben fordert licht auf, lädt ein, eröffnet eine neue Perspektive. Werde licht, werde klar, werde transparent, werde erkennbar und mache deutlich, was dich bewegt, was dich treibt, was du glaubst, was du hoffst. Werde erkennbar für dich selbst, für andere, für Gott. Wenn Jüdinnen zu Beginn eines jeden Sabbat die Kerzen anzünden, erinnern sie an die Verheißung des für Israel erscheinenden Lichts Gottes. Gott ist das Licht, die Menschen öffnen sich, werden licht-durchlässig, bereit, Gott in ihr Leben zu lassen.

Lied
Kanon „Mache dich auf und werde licht, denn dein Licht kommt“
Durch Hohes und Tiefes Nr. 149

Ach, das Licht! Ja, das Licht!

There is a crack in everything, that´s how the light gets in – ein Satz für die Ewigkeit. Ich höre die sonore Stimme von Leonard Cohen, tröstend und zugleich verlockend. In allem, wirklich in allem ist ein Riss, mal größer, mal kleiner. Wir spüren täglich den Riss, der sich durch unseren Alltag zieht, ja, der uns manchmal das Herz zerreißt, der uns manchmal nicht schlafen lässt, und den wir nur zu gerne ausblenden würden. Zu gerne hätten wir es heil und ganz und eindeutig.

Leonard Cohen besingt den Riss. Den Riss, der es möglich macht, einen Spalt für das Licht zu öffnen, der einen Spalt weit den Himmel öffnet. Der es möglich macht, Hoffnung zu schöpfen, und sei der Spalt noch so klein, noch so schmal. Den Gedanken, dass etwas zerbrochen sein muss, bevor das Licht sich seinen Weg bahnen kann, findet der Jude Cohen in der Kabbala, der jüdischen Mystik. Das Licht Gottes wird von den Mystiker*innen gedacht als in Gefäßen aufbewahrt. Erst mit dem Zerbrechen der Gefäße kommen göttliche Lichtfunken in die Schöpfung. Funken, die sichtbar werden, wenn wir uns für die Risse öffnen, wenn wir licht werden, uns durchlässig machen. Spür-Sinn, Licht-Empfänglichkeit bei der Gott-Suche: Sie können uns vielleicht heraushelfen aus unseren Widersprüchlichkeiten, unserer Zerrissenheit.

Spür-Sinn. Mit allen Sinnen spüren, nichts ausblenden, nichts wegschieben, mitleidensfähig bleiben.

Spür-Sinn. Auch den eigenen Fluchtversuchen, den eigenen Gewissensbissen, den eigenen Unsicherheiten Raum geben.

Spür-Sinn. Wahrnehmen und teilen und vor Gott bringen, auch in heiligem Zorn wie so manche Psalmbeterin, dass wir solche Sehnsucht, oft solche enttäuschte Hoffnung spüren, weil wir das Licht Gottes so sehr vermissen.

Und dann trotz allem licht-empfänglich bleiben, empfänglich für das Licht, die Hoffnung, die Heilung.

Ach, das Licht!

Wenn möglich, erhält jede*r TN eine (farbige) Kopie des Titelfotos der mit der japanischen Kintsugi-Technik geflickten Schale.

Eine zerbrochene Schale – wertlos. Je mehr sie der Besitzerin wert war, desto wert-loser, desto größer der Verlust. Zerbrochen ist mit ihr manche Erinnerung daran, wie die Schale zu ihr gekommen ist. Als Geschenk, als Erbstück, als Fundstück in einer kleinen Töpferei irgendwo im Süden…

Eine zerbrochene Schale, geheilt, wieder hergestellt, schöner als zuvor – das ist das Ergebnis von Kintsugi. Kintsugi heißt wörtlich übersetzt „Goldflicken“. Die traditionelle japanische Reparaturmethode für Keramik versucht nicht, die Makel der Bruchstellen zu verbergen. Durch Gold- oder Silberpigmente wird eine völlig neue Schönheit der Risse, der Räume zwischen den Scherben, geschaffen. Kein Riss, keine Bruchstelle wird verborgen, unkenntlich gemacht. Es entsteht neue Schönheit aus dem Makel.

Risse durchscheinend machen, sie zum glanzvollen, zum sichtbaren Teil des Ganzen werden lassen: So könnte Kintsugi zu einer Anregung werden, das Bruchstückhafte, das Zerbrochene in unser Leben und in unseren Glauben zu ziehen. Nichts beschönigen, nichts ausblenden, nichts aufkehren und entsorgen, sondern genau hinsehen, jedes Teil genau ansehen, beschreiben, wofür es steht, und dem Versuch widerstehen, Narben abzuschleifen, sie zu überschminken, sie zu verbergen. Scherben, Bruchstücke mit anderen gemeinsam ansehen, uns helfen beim Zusammensetzen und dann unsere Licht-Bilder, unsere Licht-Blicke teilen und ins Gebet nehmen – möge die Heilige Geistkraft uns dabei helfen und uns einen Spalt weit den Himmel öffnen. Amen

Fürbitte

Lied
Kanon „Erleuchte und bewege uns“
Durch Hohes und Tiefes Nr. 212

„Weil die Dunkelheit oft so groß ist, außen und innen. Weil wir Licht brauchen. Und die Erinnerung daran, dass wir Licht brauchen. Zünden wir Kerzen an. Begrüßen die Flamme. Dann höre ich neu, was zum Beginn jeden Jahres zur Segnung der neuen Kerzen gebetet wird: ‚Der menschliche Atem ist wie eine Kerze des Ewigen, sie erleuchtet alle Kammern des Inneren.‘ So viel Leben ist von Schatten umgeben, von Schrecken und von Angst. Mögen die Kammern unseres Inneren mit Licht gefüllt werden, Zeichen für das ewige Licht, die göttliche Flamme.“

aus: Christina Brudereck, Trotzkraft: Gedichte. Notizen. Essays. Gebete, Essen (2Flügel-Verlag) 2021. – Das Zitat, „Der menschliche Atem…“ nach Sprüche 20,27 ist bei Christina Brudereck zunächst hebräisch geschrieben.

Um ihre persönlichen Fürbitten still (oder ausgesprochen) zum Ausdruck zu bringen, können die TN jetzt Teelichter anzünden und in die Mitte stellen.

Segen

Gott segne dich und behüte dich.
Gottes Antlitz hülle dich in Licht und sei dir zugeneigt.
Gottes Antlitz wende sich dir zu,
und sie schenke dir heilsame Ruhe.

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