Ausgabe 2 / 2023 Frauen in Bewegung von Ulrike Koertge

Über Leben

Die yezidische Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad im Porträt

Von Ulrike Koertge

Es ist ein Tag im Frühjahr des Jahres 2017. Die Wiedersehensfreude ist kaum zu beschreiben. Mit Freudentränen in den Augen umringen etwa zwei Dutzend Frauen und Kinder die zierliche junge Frau, umarmen und bestürmen sie mit Fragen nach Verwandten und Freund*innen: Nadia Murad, UN-Sonderbotschafterin für die Würde der Überlebenden des Menschenhandels, besucht Frauen und Kinder aus ihrer alten Heimat, die dem barbarischen Genozid an Yezid*innen in Syrien und im Irak entkommen sind und Zuflucht in einem kleinen Dorf an der Nordseeküste Schleswig-Holsteins gefunden haben.

Nadias Tante und Nichten sind ebenso unter den Geflüchteten wie zahlreiche Verwandte und Nachbar*innen aus ihrem ehemaligem Heimatdorf. Wenig später sitzen alle im großen Rund zusammen, und auch die Älteren unter ihnen nehmen sich – wenngleich zögerlich, so doch zustimmend – Nadias Rat zu Herzen: „Trauert den alten Zeiten nicht nach. Weint nicht über das, was ihr verloren habt. Das Wichtigste ist euch geblieben, euer Leben. Und auch das Leben vieler, die euch wertvoll und wichtig sind. Euer Leben ist euch geblieben – nehmt es in die Hand!“

Das Beieinandersein ist auf wenige Stunden beschränkt, Nadias Terminkalender ist in diesen Monaten übervoll. Erst am Abend zuvor war sie Ehrengast einer Veranstaltung im Landeshaus in Kiel, wo sie eindringlich an die anwesenden Parlamentarier*innen, Kirchenleute und Journalist*innen appelliert hatte: „Ich bitte Sie, an unserer Seite zu sein und Gerechtigkeit einzufordern, um den IS1 zur Rechenschaft zu ziehen für seine Verbrechen gegen unschuldige Menschen!“2 Zu dem Abend hatte außer der Parlamentarischen Gesellschaft und der Bischofskanzlei Schleswig unter anderem auch das Frauenwerk der Nordkirche eingeladen, um über die Verbrechen des IS aufzuklären und für Frauenrechte einzustehen.

Knapp drei Jahre zuvor, im Sommer 2014, hatte die schockierte Öffentlichkeit von den brutalen Gewalttaten erfahren, die Kämpfer*innen und Mitläufer*innen des IS an den Angehörigen der Volksgruppe der Yezid*innen verübten.

Über die Bildschirme flimmerten damals Aufnahmen vom Sinjar-Gebirge. In jenes felsige Terrain ohne nennenswerten Pflanzenwuchs hatten sich Tausende von Menschen yezidischer Herkunft geflüchtet, um dem unvorstellbaren Terror des IS-Regimes zu entkommen, wohl wissend, dass aufgrund des eklatanten Wasser- und Nahrungsmangels nicht selten der Hungertod drohte.

Die Nachrichten überwältigten und offenbarten Hilflosigkeit und Ohnmacht. Das Ausmaß der Gewalttaten, die die Terrorist*innen vor allem an jungen Mädchen und an Frauen verübten, wurde jedoch erst im Laufe der darauffolgenden Monate sichtbar: gewaltsam verschleppt, Mütter, Väter und Brüder ermordet oder zum Kampf an der Seite des IS erpresst, sie selbst gedemütigt, gefoltert, vergewaltigt und als Sexsklavinnen missbraucht. Oft genug endete ein solcher Weg in Verzweiflung, Depression und im Tod.

Nadia Murad Basee Taha, geboren 1993 in Kocho im Irak, teilt das Schicksal der unzähligen missbrauchten Frauen.

Bei einem Angriff des IS auf ihr Dorf wurde ein großer Teil ihrer Familie getötet, sie selbst von den Milizen entführt, versklavt und gefoltert. Nachdem sie im September 2015 im Rahmen des württembergischen Sonderkontingents für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak in Deutschland aufgenommen worden war, berichtete sie im Dezember 2015 dem UN-Sicherheitsrat in New York von der erlittenen Folter. Im September 2016 ernannte Generalsekretär Ban Ki-Moon sie zur UN-Sonderbotschafterin für die Würde der Überlebenden des Menschenhandels.

Im Oktober 2016 wurde Nadja Murad zusammen mit Lamija Adschi Baschar mit dem Sacharow-Preis für geistige Freiheit des EU-Parlamentes ausgezeichnet. Am 10. Dezember 2018 erhielt sie gemeinsam mit dem kongolesischen Arzt Denis Mukwege den Friedensnobelpreis. Die beiden Menschenrechtsaktivist*innen hätten sich in herausragender Weise gegen sexualisierte Gewalt als Waffe in Kriegen und Konfliktgebieten eingesetzt, lautet die Begründung des norwegischen Nobelkomitees. Zuvor schon, im September 2016, hatte die Rechtsanwältin Amal Clooney die Vertretung von Nadia Murad übernommen, um die Kriegsverbrechen durch IS-Mitglieder vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag anzuklagen.

Was mich an Nadia Murad seit meiner ersten Begegnung mit ihr fasziniert und beeindruckt,?ist ihre Haltung und ihre Furchtlosigkeit.

Sie lässt sich von dem, was sie erlebt hat, nicht mundtot und schon gar nicht unsichtbar machen. Sie tritt an die Öffentlichkeit. Sie engagiert sich international für Extremismusbekämpfung, tritt ein für die Rechte der Überlebenden von sexualisierter Gewalt und Menschenhandel und verändert damit die Welt. Sie fordert internationale Aufmerksamkeit für den Genozid an der yezidischen Gemeinschaft. Sie lässt sich nicht zum Opfer machen, spricht von sich selbst als „Überlebende“. Überleben meint nicht nur bloßes „Davonkommen“. Überleben impliziert: Jetzt erst recht, und noch einmal ganz von vorne!

Ist es zu weit hergeholt, wenn ich den biblischen Gedanken der Auferstehung damit verbinde? Auferstehung mitten im Leben. Nadia Murad verkörpert die Überzeugung: Es verbleiben Handlungsmöglichkeiten – auch wenn wir uns zutiefst instrumentalisiert, verdinglicht, benutzt und entwertet vorkommen. Die Menschenwürde bleibt, die Handlungsfreiheit ebenso. Macht wird oft pervertiert und verstanden als Handlungsinstrumentarium, das allein auf Gewalt und Unterdrückung gründet.

Macht im wortwörtlich kreativen Sinn entsteht jedoch dort, wo etwas geschieht. Wo Ohnmacht überwunden, Sprache zum Protest wird, und Menschen ins Handeln kommen.

Inzwischen ist es in der Öffentlichkeit ruhiger um Nadia Murad geworden. Doch nach wie vor ist sie politisch und zivilgesellschaftlich aktiv. Mit Hilfe ihrer 2018 gegründeten Nonprofit-Organisation „Nadias Initiative“ unterstützt sie Überlebende von sexualisierter Gewalt und fördert den Wiederaufbau der Infrastruktur ihrer yezidischen Heimat in Sinjar, die durch die IS-Aggressor*innen nachhaltig zerstört worden war. Das Aufbauprogramm umfasst Projekte, in denen Bildung, Gesundheitsvorsorge, Kultur und Frauenrechte sowie Friedensbildung vermittelt und gestärkt wird. Ziel ist, den nach wie vor zu Tausenden im Ausland lebenden Yesid*innen die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen.3

Am 20. Januar 2023 war in der deutschen Tagespresse die Meldung zu lesen: „Anerkennung des Genozids an den Yeziden“.

Nachdem in der Vergangenheit schon das Europäische Parlament, die Vereinten Nationen und eine Reihe von Staaten den Genozid an den Yezid*innen als solchen anerkannt hatten, hat Anfang 2023 auch der Deutsche Bundestag die Verbrechen an der yezidischen Bevölkerung einstimmig als Völkermord verurteilt.4 Wörtlich heißt es in dem Beschluss: „Es muss zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe Deutschlands werden, die Aufmerksamkeit für und das Erinnern an den Völkermord an den Jesidinnen und Jesiden im öffentlichen Bewusstsein zu schaffen.“ Diesem Bekenntnis müssen Taten folgen. Denn solange die damaligen Täter*innen immer noch straffrei und unbehelligt leben und es nach wie vor keine systematische Aufarbeitung der damaligen Verbrechen vor nationalen oder internationalen Gerichtshöfen gibt, bleibt dieser Beschluss ein bloßes Lippenbekenntnis.

Ulrike Koertge ist ev. Theologin und war von 2014 bis 2018 Leiterin des Frauenwerks der Nordkirche. Heute leitet sie die Evangelische Erwachsenenbildung Niedersachsen.

Anmerkungen
1) „IS“ steht für den sogenannten „Islamischen Staat“. Unter Führung ehemaliger Geheimdienstoffiziere des Irak ist er im Irak, in Syrien und z.T. in Libyen terroristisch und militärisch aktiv. Er versuchte ein sog. Kalifat (eine islamische Theokratie, in der die weltliche und geistliche Führerschaft in einer Person vereint ist) zu errichten und über sog. Emirate auch in Nachbarstaaten Fuß zu fassen. Vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wird der IS als terroristische Vereinigung bezeichnet; alle führenden muslimischen Geistlichen lehnen ein IS-Kalifat ab. – Quelle: www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politlexikon/225600/islamischer-staat-is
2) Mehr dazu unter www.nordkirche.de/nachrichten/nachrichten-detail/nachricht/nadia-murad-was-meinem-volk-geschieht-ist-ein-genozid
3) Siehe www.nadiasinitiative.org; leider ist die Seite bisher nur in engl. Sprache verfügbar.
4) Beschlusstext und mehr unter: www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw-03-de-jesiden-927032

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