Alle Ausgaben / 1994 Frauen in Bewegung von Hubert J. Giess

Lise Meitner

Eine engagierte Physikerin und Pazifistin

Von Hubert J. Giess

Die Dame, die am 13. Juli 1938 in einem Zug Richtung Holland sitzt, hat Angst. Angst vor den Kontrollen der SS, Angst vor Verhaftung. Angst vor dem Konzentrationslager, wo ihr Schwager schon sitzt. Ein Handkoffer und dreizehn Mark sind alles, was sie dabei hat. Und für den äußersten Notfall einen Brillantring, den ihr in der Nacht zuvor ihr Kollege, der Chemiker Otto Hahn, in die Hand gedrückt hat, ein Erbstück seiner Mutter.

Legal kann die Dame nicht ausreisen, das hat SS-Chef Heinrich Himmler persönlich verboten: „Namhafte Juden“ wie sie könnten dem Ansehen der Nazi-Herren im Ausland schaden. Und die 59 Jahre alte Physikerin Lise Meitner ist eine namhafte Jüdin, obwohl ihr größter wissenschaftlicher Triumph noch vor ihr liegt: die Deutung der Kernspaltung. Glücklicherweise geht alles gut, die holländischen Behörden sind vorab informiert und lassen sie ohne Visum einreisen.

Geboren wurde Lise Meitner am 7. November 1878 im österreichischen Wien – zu einer Zeit, als Frauen noch nicht studieren, ja nicht einmal ein Gymnasium besuchen durften. Die Reifeprüfung konnten sie nur extern ablegen, meist nach teurem Privatunterricht. 1901 tritt Lise Meitner mit 14 anderen Mädchen zur Prüfung an – nur vier bestehen. In der Zwischenzeit waren 1899 die österreichischen Universitäten für Frauen geöffnet worden, Deutschland sollte erst nach der Jahrhundertwende folgen. Dass eine Frau Physik studierte, war damals recht ungewöhnlich.

Doch Lise Meitner, kaum größer als ein Meter fünfzig, versteht es, sich durchzusetzen. 1905 beendet sie ihre Doktorarbeit – der vierte weibliche Doktor in Wien. Im Jahre 1907 geht sie nach Berlin, zu Max Planck, dem Begründer der Quantentherorie.
Der Herr Geheimrat hält nur wenig von Frauen an der Universität. Zehn Jahre zuvor hatte er noch von „naturwidrigen Amazonen“ gesprochen. Wenn eine Frau, „den Trieb in sich“ fühle, solle sie zwar studieren können, allerdings müsse dies immer eine Ausnahme bleiben. Bald jedoch gelingt es ihr, den größten Physiker der damaligen Zeit … von sich zu überzeugen.

Zusammen mit dem Chemiker Otto Hahn arbeitet sie zunächst in der „Holzwerkstatt“. Gemeinsam entdecken sie das radioaktive Element Protaktinium. Nachdem der Kaiser 1912 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie eröffnet hat, ziehen sie dorthin um.

Bald wird Lise Meitner zur ersten weiblichen Universitätsassistentin in Preußen ernannt. Seit 1918 ist sie Leiterin der radiophysikalischen Abteilung des Instituts, während Hahn der radiochemischen vorsteht, und sie ist vier Jahre später auch Professorin. Wie ungewöhnlich ein solcher Posten noch immer für eine Frau ist, zeigt eine Zeitungsnotiz aus dem gleichen Jahr: Sie habe einen Vortrag über „kosmetische Prozesse“ gehalten, hieß es dort – gemeint waren kosmische. Doch das Ansehen von Lise Meitner und Otto Hahn, die weiterhin zusammenarbeiten, steigt von Jahr zu Jahr. 1924 werden sie zum ersten Mal gemeinsam für den Nobelpreis vorgeschlagen, sieben weitere Vorschläge werden in den nächsten Jahren folgen. Bekommen wird ihn am Ende Hahn allein.

Das friedliche Bild ändert sich, als Hitler 1933 an die Macht kommt. Obwohl protestantisch getauft und erzogen, ist die „Meitnerin“, wie sie von ihren Kollegen genannt wird, nach dem Verständnis der Nazis eine Halbjüdin – und die werden gnadenlos aus ihren Ämtern entfernt, wenn sie nicht von sich aus die Emigration vorziehen. Auch Lise Meitner wird am 11. September die Lehrbefugnis entzogen. Noch freilich ist sie als Österreicherin halbwegs sicher …

Schon zuvor hatten sich Planck und Hahn für sie verwandt, doch jetzt müssen wie erkennen, wie sinnlos dies ist. Nach der Flucht nach Holland reist sie über Kopenhagen, wo ihr Neffe Otto Robert Frisch als Physiker tätig ist, nach Stockholm. Dort erhält sie einen Arbeitsplatz am Nobelinstitut. An ernsthafte Forschung ist nicht zu denken, sie muss in einem schäbigen Hotelzimmer wohnen, das Institut ist schlecht ausgerüstet.

Immerhin, sie bleibt weiter in freundschaftlichem Kontakt zu Hahn. Am 19. Dezember 1938 schreibt er von einen neuen Versuch, den er sich nicht erklären kann. Schon in den Jahren zuvor hatte sie zusammen mit Hahn und dem Chemiker Fritz Straßmann Uran mit Neutronen beschossen. Dabei, so glaubte man damals, würden neue, künstliche Elemente, die Transurane, entstehen. Doch statt Radium wie erwartet finden Hahn und Straßmann Barium, ein Element, das im Periodensystem nicht am Ende, sondern in der Mitte steht. Das widerspricht den damaligen Theorien, das kann, das darf nicht sein. Otto Hahn bittet Lise Meitner um eine Deutung.

Einige Tage darauf trifft ihr Neffe Frisch zum Weihnachtsurlaub in Schweden ein. Auf einem Wintersparziergang sprechen sie über die Versuche, und da dämmert es ihnen: Könnte das Uran unter dem Beschuss nicht in zwei Teile zerbrochen sein? So etwas war bisher noch nie beobachtet worden. Lediglich kleine Stücke, sogenannte Alpha-Teilchen, so nahm man an, konnten aus einem Atom herausbrechen. Sie setzten sich auf einen Baumstamm, führten auf kleinen Zetteln fieberhaft Berechnungen durch. Schließlich kommen die beiden zum Schluss, dass tatsächlich Barium entstanden ist – Hahn ist die Atomspaltung gelungen.

Mehr noch: Die Bruchstücke sind etwas leichter als das Ausgangsprodukt, bei der Spaltung wird ein winziger Teil des Uranatoms in Energie verwandelt. „Massendefekt“ nennen die Physiker das. Da aber in einem Gramm Uran sehr viele Atome enthalten sind – eine Zahl mit mehr als zwanzig Nullen – werden ungeheure Energiemengen freigesetzt. Rund 22 600 Kilowattstunden, so berechnen sie, entstehen allein bei der Spaltung eines einzigen Gramms Uran, etwa soviel wie bei der Verbrennung von zweieinhalb Tonnen Steinkohle. Eine unerschöpfliche Energiequelle ist gefunden.

Und nicht nur das: Bei jeder Spaltung werden zusätzlich zwei bis drei Neutronen frei, die wieder andere Urankerne spalten können, es kommt zu einer Kettenreaktion. Es wird ihnen klar: So ließe sich auch eine Bombe herstellen – die Atombombe. Meitner teilt ihre Erkenntnisse am ersten Tag des Jahres 1939 Otto Hahn mit. Zusammen mit ihrem Neffen verfasst sie einen Artikel für eine englische Fachzeitschrift. Schon vier Wochen vorher beschreiben Otto Hahn und Fritz Straßmann ihren Versuchsaufbau ausführlich in einem deutschen Fachblatt.

Frisch ist mittlerweile nach Kopenhagen zurückgekehrt und schildert die Ergebnisse dem dänischen Nobelpreisträger Nils Bohr, der sich gerade zu einer Vortragsreise in die USA aufmacht. So erfahren amerikanische Wissenschaftler noch Mitte Januar davon. Aus einer Konferenz stürmen sie Hals über Kopf in ihre Labors, um die Versuche zu wiederholen. Der Rest – der Bau der ersten Atombombe und ihr Abwurf über Japan – erlangte traurige Bekanntheit.

Während des Krieges bleibt die sechzigjährige Lise Meitner im neutralen Schweden. 1943 trifft sie mit Hahn zusammen, der dort Vorträge hält. Das Wiedersehen ist getrübt; sie kann nicht verstehen, dass er in Deutschland geblieben ist. Doch ihre Freundschaft leidet nicht darunter. Auf Deutschland bezogen, vertraut sie Hahn an: „Ich komme mir vor wie eine Mutter, die klar sieht, dass ihr Lieblingskind hoffnungslos missraten ist.“

Als die erste Atombombe auf Hiroshima fällt, erfährt sie das durch den Anruf eines Reporters. Ihre schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden. Obwohl sie an der Entwicklung nicht mitgewirkt hat, weiß sie, dass ihre Berechnungen eine wichtige Rolle gespielt haben. Das macht sie zu einer engagierten Pazifistin. Für die friedliche Nutzung der Kernenergie macht sie sich für den Rest ihres Lebens stark.

1946 bekommt Hahn, der erst kurz zuvor aus einem englischen Internierungslager entlassen worden war, den Nobelpreis für Chemie – er allein, weder sie noch Straßmann werden mitbedacht. Das enttäuscht sie, die über 30 Jahre mit Hahn zusammengearbeitet hat. Und auch, dass sie – bis heute – meist nur als „Mitarbeiterin“ Hahns genannt wird, schmerzt sie, denn in Berlin waren beide gleichberechtigt. Immerhin, Otto Hahn teilt das Preisgeld mit Lise Meitner und Fritz Straßmann.

Einige Tage vor der Verleihung, am 10. Dezember 1946 sehen sich die beiden zum ersten Mal seit Kriegsende wieder. Als ihr Straßmann 1947 eine Professur in Mainz anbietet, lehnt sie ab: In dem Land, das sechs Millionen Juden ermordet hat, mag sie, die die schwedische Staatsbürgerschaft hat, nicht leben.

Dennoch bleibt Lise Meitners Zuneigung für Deutschland ihr Leben lang erhalten. Im Jahre 1960 zieht die 82 Jahre alte Dame noch einmal um, nach Cambridge in England, wo ihr Neffe inzwischen lebt. Kurz vor ihrem neunzigsten Geburtstag, am 27. Oktober 1968, stirbt sie und liegt in Südengland begraben.


Gefunden in: Neue Zeit, vom 6. Nov. 1993
(Abdruck mit freundlicher Genehmigung)


 

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