Alle Ausgaben / 1994 Frauen in Bewegung von Rosemarie von Orlikowski

Lina Morgenstern

Gründerin von Volksküchen

Von Rosemarie von Orlikowski

Im vorigen Jahr bekam ich eine Lithographie geschenkt, auf der sieben Frauen die Betrachterin anschauen: streng, zuversichtlich, mit einer Andeutung von einem Lächeln, fragend. „Die Führerinnen der Frauenbewegung in Deutschland“ heißt der Titel. Sieben Frauen also, die im vorigen Jahrhundert und zu Beginn des unseren die Sache der Frauen vorangebracht haben. Unter ihnen, in der Mitte, Lina Morgenstern, die von Berlinern und Berlinerinnen liebevoll-spöttische „Suppen-Lina“ genannt wurde. Wer war diese Frau?

Am 25. November 1830 wurde sie als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Fabrikantenfamilie in Breslau geboren. Sie erhielt eine Erziehung, wie sie für eine „höhere Tochter“ damals üblich war: Höhere Mädchenschule, danach neun Jahre bis zur Heirat im Elternhaus, beschäftigt mit häuslichen Arbeiten, Musikunterricht, eigenen Studium in Kunst- und Literaturgeschichte, Naturwissenschaften und Sprachen. Die Revolution von 1848 weckte in ihr das Interesse an politischen Zusammenhängen und für soziale Problemfelder. So gründete sie an ihrem 18. Geburtstag den „Pfennigverein zur Unterstützung armer Schulkinder“, einen Verein, der über 80 Jahre bestand. 1854 konnte sie endlich, nachdem ihre Eltern den Widerstand dagegen aufgegeben hatten, den Kaufmann Theodor Morgenstern heiraten und mit ihm nach Berlin ziehen.

In der Großstadt Berlin gab es durch die wachsende Industrialisierung zunehmend soziale Probleme. Hinzu kam der Krieg zwischen Österreich und Preußen. Durch ihn kam es zu einer Verknappung und Verteuerung der Lebensmittel. Davon wurde vor allem die ärmere Bevölkerung betroffen.

In der Tradition jüdischer Wohltätigkeit suchte Lina Morgenstern nach Abhilfe. Sie wollte die sozial Schwachen unterstützen, aber sie wollte keine Almosen verteilen. Deshalb entschloss sie sich zur Gründung von Volksküchen auf der Basis der Idee einer Konsumgenossenschaft: durch Großeinkauf verbilligten sich die Lebensmittel, ebenso durch rationelle Wirtschaftsführung. So konnten die Mahlzeiten preiswert zum Selbstkostenpreis abgegeben werden und waren auch für die Fabrikarbeiter und deren Familien erschwinglich. Gegen Widerstände und Resignation setzte Lina Morgenstern ihre Idee durch und bewies ihr großes Organisationstalent bei der schnellen und praktischen Einrichtung der Volksküchen und der Einsatzplanung für berufliche und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen.

Lina Morgenstern beschreibt ihr Ziel: „Um jedem mit gefälliger Hand und freundlichem Blick das Mittagsmahl zu reichen, dem nicht am häuslichen Herd der Tisch gedeckt ist! Und diese Mithilfe edler Frauen und Jungfrauen hat das Publikum in den Volksküchen stets sittlich beeinflusst, dass es sich im allgemeinen durch anständiges Verhalten auszeichnet.“

In Hamburg, Breslau, Wien, Stockholm und anderen Städten entstanden Volksküchen nach dem Berliner Modell. Das brachte Lina Morgenstern viel öffentliche Anerkennung, zugleich aber auch antisemitisch gefärbte Anfeindungen. In ihrer Eröffnungsansprache auf dem Internationalen Frauenkongress 1896 in Berlin sagte Lina Morgenstern: „Wir fragen nicht nach Meinungsverschiedenheiten, noch nach politischem und religiösem Glaubensbekenntnis, noch nach Nationalität und Rasse, uns gilt das ein Menschliche, Menschenwürdige und darum Göttliche, uns gilt Überzeugungstreue und Selbstlosigkeit.“

Lina Morgenstern hat sich an vielen Stellen engagiert. Dabei folgte sie teils konservativen Einstellungen, z.B. im Bereich des von ihr 1873 gegründeten Berliner Hausfrauenvereins, teils liberalfortschrittlichen Ideen, z.B. bei der Mitarbeit im deutschen Kulturbund zur Bekämpfung der Prostitution und bei dem Kampf um den Zusammenhalt der deutschen Frauenbewegung, dass sie sich nicht in einen proletarischen und einen bürgerlichen Flügel spaltete.

War die Idee der Volksküche gut, so gab es doch mancherlei Begleiterscheinungen, die deutlich die bürgerlichen Wertvorstellungen ausdrückten und die bei vielen Proletariern auf Missfallen und Ablehnung stießen:

z.B. die Sprüche, mit denen Lina Morgenstern die Speiseräume schmückte:

„Die Arbeit macht gesund und frisch,
Sie würzt das Leben und den Tisch.“

„Der Eine arm, der Andere reich;
Vor Gott sind alle Menschen gleich.“

Über 50 solcher Sinnsprüche sollten die Menschen, die in den Volksküchen aßen, von Streiks und Demonstrationen fernhalten und zu ruhigem, besonnenem Verhalten anleiten. Deshalb sahen die Sozialdemokraten in den Volksküchen ein „bürgerliches Versöhnungsmittel“, durch das die sozialen Spannungen abgemindert werden sollten.

Es arbeiteten Frauen aus dem Bürgertum ehrenamtlich bei der Essensausgabe mit. Ihre Mitarbeit für Disziplin sorgen und die Volksküchen gesellschaftlich aufwerten. Dies geschah ach dadurch, dass Lina Morgenstern die Königin Augusta gewinnen konnte, 1867 die Schirmherrschaft über die Volksküchen zu übernehmen.

Lina Morgenstern war vielseitig engagiert und erkannte rechtzeitig wo sozialer Einsatz notwendig war. Dort setzte sie ihr schriftstellerisches Talent, vor allem aber ihre ausgeprägte Organisationsgabe ein, um Abhilfe zu schaffen.

Maya I. Fassmann schreibt über Lina Morgenstern (in: Unter allen Umständen, S. 54): „Lina Morgenstern war eine starke Persönlichkeit, die mit großer Überzeugung an ihren Idealen festhielt. Ihr Ideal der allgemeinen Menschenliebe, der Menschenverbrüderung“, ihre Hoffnung auf die völlige Integration der Juden ins deutsche Bürgertum glaubte sie durch soziale Arbeit im Rahmen der deutschen Frauenbewegung verwirklichen zu können.

Immer wieder wurde Lina Morgenstern als Jüdin angefeindet. Dagegen verwahrte sie sich, wenn sie schreibt: „Wir haben wohl zur Genüge bewiesen, dass wir nicht nur genießen, sondern arbeiten und zwar nicht nur, um Kapital zusammenzuschachern, sondern ohne Unterschied der Religion das Gute zu fördern, unseren Mitbürgern beizustehen und barmherzige Liebe zu üben. Wir fühlen uns als gleichberechtigte Staatsbürger, da wir alle Pflichten gegen Thron und Vaterland, gegen Staat und Gesellschaft gewissenhaft erfüllen. Für die Fehler Einzelner ist die gesamte Judenheit ebenso wenig verantwortlich zu machen, als für die Fehler Einzelner die gesamte Christenheit.“

Heute könnte die Idee der Volksküchen erneut von Bedeutung sein und Anstöße geben, was Gemeinden und Gruppen tun könnten, damit Menschen, die durch das soziale Netz fallen, nicht noch weiter ausgegrenzt werden. In Berlin-Pankow haben Franziskanerinnen einen Mittagstisch eingerichtet, eine andere Kirchengemeine unterhält eine Wärmestube – Versuche, Menschen einen Raum anzubieten, wo sie nicht nur ein warmes Essen bekommen, sondern wo sie reden können und jemand ihnen zuhört, wo aber auch Menschen politisch daran arbeiten, dass die sozialen Verhältnisse menschenwürdig bleiben.


Rosemarie von Orlikowski, Berlin

Literatur
Unter Verwendung von „Unter allen Umständen“. Frauengeschichte(n) in Berlin“, herausgegeben von Christiane Eifert und Susanne Rouette, Rotationsverlag Berlin, 1986

 

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