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Madeleine Delbrêl: Ein Blick auf ein Leben

"Dann habe ich, lesend und nachdenkend, Gott gefunden"

Von Christiane Drewello-Merkel

„1964 starb Madeleine Delbrêl im Alter von 60 Jahren. 29 Jahre später legt Annette Schleinzer ein Buch über sie vor, das als Dissertation von der kathologisch-theologischen Fakultät der Universität Bamberg angenommen wurde.
Es ist ein erster Versuch, das Leben und das Glaubenszeugnis Madeleine Delbrêl's zusammenzufassen und zu deuten. Auf dieses Buch beziehe ich mich.

Abgrenzung

Verwunderung und Befremden haben mich beim Lesen über weite Strecken be-gleitet: Am Beginn des 20. Jahrhunderts geht es um theologische und kir-chenpolitische Fragen, von denen ich -als Protestantin und Laiin- annahm, sie seien seit der Reformation hinreichend beantwortet. Jetzt weiß ich: Die Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Positionen ist Realität. Und was schon einmal gedacht und geklärt wurde, fällt entweder der Vergessenheit anheim  oder wird zur Zeit seiner Entstehung nur begrenzt wahrgenommen.
Um 1920 gab es im katholischen Frankreich einen religiösen Aufbruch, von dem Madeleine Delbrêl inspiriert wurde.
Gleichzeitig wuchs sie allmählich in die Rolle einer geistigen Mutter dieser Bewegung hinein: Mission zu betreiben im eigenen, weitgehend atheistisch gewordenen Land. Die Kraft für diese Aufgabe bezog sie seit ihrer Bekehrung aus ihrer, der katholischen Kirche. Dies hinderte sie jedoch nicht, deren vorgegebenen Rahmen zu sprengen, wo es ihr notwendig erschien.

Biographische Daten: „Aufmerksames Suchen“

Madeleine Delbrêl wird am 24.10.1904 in Mussidan in Südfrankreich geboren.
Ihre Kindheit ist überschattet von Auseinandersetzungen zwischen ihren Eltern und zahlreichen Ortswechseln. Sie erhält Privatunterricht. Sie wächst auf in einem Milieu, das viel von künstlerischer und politischer Aufklärung hält, dem christlichen Glauben jedoch indifferent gegenübersteht. Dennoch kommt sie mit Priestern in Kontakt, die in ihr einen glühenden Glauben zu wecken verstehen. 1916 zieht die Familie nach Paris. Dort verliert sie ihren Kindheitsglauben. Intelligenz, Vernunft, Wissen und Erkenntnis sind Werte, die von nun an gelten.
„Gott ist tot, es lebe der Tod!“ ist für sie in dieser Zeit immer wieder neu beschworene Sache.
1920 beginnt sie mit dem Studium der Philosophie, Geschichte und Kunst an der Sorbonne in Paris. Daneben nimmt sie private Mal- und Tanzstunden und schreibt Gedichte. Paris tanzt auf dem Vulkan: Madeleine tanzt mit, amüsiert sich  und will vor allem frei sein.
Welche qualvollen Ängste und Gefühle von Einsamkeit hinter dieser Kulisse liegen, wird sie später immer wieder beschreiben.
Im Jahr 1923 verlobt sich Madeleine Delbrêl mit Jean Maydieu: sie ist 19, er 23 Jahre alt.
Es ist die Liebe ihres Lebens, die sie aus ihrem Nihilismus reißt und die die Welt für sie in ein völlig neues Licht taucht. Noch im gleichem Jahr jedoch verschwindet Jean Maydieu im Dominikanerkloster von Amiens, um nie wieder von sich hören zu lassen.
Madeleine bricht völlig zusammen. Sie schreibt, um zu überleben. Der Ge-dichtband „La Route“ erscheint 1926 und erhält einen begehrten französischen Literaturpreis.
Schritt für Schritt, lesend, schreibend, nachdenkend, sich erinnernd, begibt sie sich auf die Suche nach Heilung.
Sie trifft Christen, die ihr zu Vorbildern werden und sie beginnt zu beten. „Dann habe ich , lesend und nachdenkend, Gott gefunden, aber indem ich betete, habe ich geglaubt, dass Gott mich fand, und dass er lebendige Wirklichkeit ist und man ihn lieben kann wie man eine Person liebt.“ (S.86)
Das geschieht im März 1924. Sie nimmt ihr Studium wieder auf und arbeitet mit Pfadfinderinnen einer Pariser Pfarrei.
Aus einem Bibelkreis junger Frauen entsteht die Gruppe „La Charité“. 1931/1932 bildet sich dort der Wunsch nach einem gemeinsamen Leben heraus.
1931 beginnt Madeleine mit dem Studium der Sozialarbeit und am 15.10.1933 bricht sie mit zwei jungen Frauen nach Ivry auf, um dort ein kirchliches „Zentrum des Sozialdienstes“ zu übernehmen. Bis zu ihren Tod lebt und arbeitet Madeleine Delbrêl in Ivry.

Die Arbeit: „Der Christ hat nicht den Auftrag, Ideen zu haben. Er ist angewiesen zu handeln.“ (S.108)

Madeleine Delbrêl ist unablässig auf den verschiedensten Eben tätig. In
Ivry sorgt sie zusammen mit den Kommunisten für eine Verbesserung der Lage der Arbeiter. Mit ihrer Schrift „Wir Leute von der Straße“ prägt sie die „Mission de France“, eine Bewegung von Arbeiterpriestern. Im 2. Weltkrieg bildet sie Sozialarbeiterinnen aus und organisiert die Versorgung nach Kriegszerstörungen. Sie nimmt über die Jahre Kontakt auf zu den bedeutendsten Arbeiterpriestern Frankreichs. „Missionare ohne Schiff“ erscheint 1944. „Christ in einer marxistischen Stadt“ 1957. Immer wieder geht es auch darum, für ihre kleine Lebensgemeinschaft einen Rahmen zu finden, der ihr das „In-der-Welt-sein“ und „Nicht-in-der-Welt-sein“ im Alltag möglich machen kann. Die kirchliche Anerkennung für ihre geistliche Lebensform bliebt ihr über Jahre verwehrt. In ihrem prophetischen Auftrag wird sie 1953 von Papst Pius dem Zwölften bestätigt, der ihre Arbeit als „Apostolat“ bezeichnet. 1961 wird Madeleine Delbrêl um Mitarbeit bei den Konzilsvorbereitungen gebeten. Sie gilt als eine der Wegbereiterinnen für die Öffnung der katholischen Kirche zur modernen Welt, die mit diesem Konzil (ab 1962) begann.

Nachwirkung
Ein Gefühl der Fremdheit ist mir gegenüber Madeleine Delbrêl, ihrem Leben und Glauben geblieben. Dennoch hat mich Vieles bewegt und beeindruckt. Hier einige Beispiele:

· Ein Gedanke:  dass man die Welt überwinden kann, indem man sie relativiert.
· Eine Maxime: stets Antwort zu geben, wenn man darum gebeten wird
· Eine Haltung: sich selbst und die eigenen Einstellungen immer wieder überprüfen
   und dem Lebendigen anpassen.
· Ein Zeichen: Auf dem Regal stehen neben der Bibel nur wenige Bücher: „Gott
   allein genügt.“
· Eine Lebenserfahrung: Schmerz und Liebe: das doppelte Schwert
· Eine Lebensaufgabe: nichts (mehr) wollen… im Augenblick da sein… gesättigt
   werden von Liebe.

Der Mensch Madeleine Delbrêl entzieht sich einer genauen Beschreibung. Ich glaube, genau das ist es, was ihre Lebendigkeit bis heute ausmacht: eine Frau, die mit Gottes Engeln kämpft, lebenslang verletzt und dennoch gesegnet ist.


Christiane Drewello-Merkel, Mainz


Um gut tanzen zu können,
braucht man nicht zu wissen, wohin der Tanz führt.
man muß ihm nur folgen,
darauf gestimmt sein,
schwerelos sein-
und vor allem: man darf sich nicht versteifen.

Die Tanzschritte zu kennen hilft nicht weiter.
Es geht vielmehr darum, daß wir – ganz lebendig pulsierend –
einschwingen in den Rhythmus,
den du auf uns überträgst.
Man darf nicht um jeden Preis
vorwärtskommen wollen.
Manchmal muß man sich drehen
oder seitwärts gehen.
Und man muß auch innehalten können-
oder gleiten, anstatt zu marschieren.
Und das alles wären ganz sinnlose Schritte,
wenn die Musik nicht eine Harmonie daraus machte.

Wir aber, wir vergessen so oft die Musik deines Geistes.
Wir haben aus unserem Leben eine Turnübung gemacht.
Wir vergessen, daß es in deinen Armen getanzt sein will,
daß dein heiliger Wille von unerschöpflicher Phantasie ist.
Und daß es monoton und langweilig
nur für grämliche Seelen zugeht,
die als Mauerblümchen sitzen am Rand
des fröhlichen Balls deiner Liebe…


Wenn wir wirklich Freude an dir hätten, mein Gott,
könnten wir dem Bedürfnis zu tanzen nicht widerstehen,
das sich über die Welt hin ausbreitet;
und wir könnten sogar erraten,
welchen Tanz du getanzt haben willst,
indem wir uns den Schritten deiner Vorsehung
überließen.


Auszug aus: „Der Ball des Gehorsams“, S.178

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