Ausgabe 1 / 2004 Andacht von anonym

Aufrecht gehen lernen

Eine Andacht zur Überwindung von Vorurteilen

Von anonym

Als ich die Anfrage bekam zu dieser Andacht, habe ich sehr gerne meine Zusage gegeben. Zum Thema „lesbisch leben“ habe ich viel zu sagen – und zwar aus meiner ganz persönlichen Erfahrung. Zunächst dachte ich daran, „in der dritten Person“ zu schreiben, dann hätte ich meinen Namen darunter setzen können. Doch ich habe mich entschlossen biografisch zu berichten, und aus Selbstschutz schreibe ich anonym. Das ist leider in unserer Kirche immer noch notwendig. Grundlage dieser Andacht ist die „Heilung der gekrümmten Frau“ Lukas 13,10-17. Ich hatte vor, den Text in drei Bildern einer christlichen Künstlerin zu entfalten; leider wurde uns die erbetene Abdruckgenehmigung nicht erteilt, weil das Bild „durch den Kontext in einen so nicht intendierten Zusammenhang gestellt“ würde.

„Du bist einmalig! Du bist einzigartig und wertvoll! Du bist ein unverwechselbarer Gedanke unseres Schöpfers!“
Diese Aussagen einer Theologin haben mich als 15jährige Jugendliche dazu veranlasst, im Vertrauen auf diesen Gott mein Leben zu gestalten. Ich wuchs in die kirchliche Jugendarbeit hinein. Es war eine missionarisch evangelikale Arbeit, und ich wollte dazu beitragen, dass Menschen „den Weg zu Jesus“ finden. In der Mitte der Verkündigung stand der Kreuzestod Jesu, der ja „für meine Sünden“ gestorben ist. Vor meinem inneren Auge stand immer ein Kreuzigungsbild, unter das der Künstler geschrieben hatte: „Das tat ich für dich! Was tust du für mich?“
So entschloss ich mich zum hauptamtlichen Dienst in der Kirche und ließ mich zur Diakonin ausbilden.

Und er (Jesus) lehrte in einer Synagoge am Sabbat.11 Und siehe, eine Frau war da, die hatte seit 18 Jahren einen Geist, der sie krank machte, und sie war verkrümmt und konnte sich nicht aufrichten.

Manchmal wünsche ich mir, die Geschichten der Bibel wären ausführlicher beschrieben. Mich interessiert es sehr, welche Ursachen die Krankheit dieser Frau hat. Wer oder was hat sie verkrümmt und klein gemacht? Lukas schreibt, es sei ein „Geist, der sie krank machte“. In anderen Übersetzungen steht „Dämon“ oder „böser Geist“, also ein Un-Geist, der Leben verhindert und Befreiung unmöglich macht. Ihre Lebenskraft ist gebrochen. Jesus selbst sagt später: „… der Satan hatte sie schon 18 Jahre gebunden.“ Das hebräische Wort „Satan“ meint den Feind, Widersacher Gottes.1 Die dämonisierte Frau war krank – körperlich und seelisch. Sie hatte keine Kraft mehr sich aufzurichten, nach oben zu schauen. Sie sah nur noch das Dunkle der Erde und nicht mehr das Licht des Himmels.
Gekrümmte Frauen leben unter uns – damals wie heute – hier und in aller Welt. Die Last, unter der viele zerbrechen, ist nicht leichter geworden. Die Bibel ist für mich lebendiges Wort, das hineinspricht in meine Lebenssituation. Deshalb ist diese Geschichte von der gekrümmten Frau auch zu „meiner“ Geschichte geworden. Schon als Jugendliche merkte ich, dass ich nicht „normal“ bin, denn schon damals trafen meine jugendlichen Liebesgefühle immer auf Frauen. Mit keinem Menschen konnte ich darüber reden, es war einfach ein Tabuthema. In meiner Familie, in der Schule und meinem sonstigen Umfeld kam das Thema der lesbischen Liebe überhaupt nicht vor. Ganz zu schweigen von meinen kirchlichen Bezügen – wenn überhaupt, dann nur in den Äußerungen, dass es pervers, krank, unnormal und vor allem sündig sei!

Bereiten Sie einen kleinen Fragebogen mit den folgenden Fragen vor:
* Welche Gedanken und Gefühle bewegen Sie, wenn sie an lesbische Liebe denken?
* Was haben Sie über sog. Homosexuelle gehört?
Kennen Sie Lesben oder Schwule? Erzählen Sie davon!
* Denken Sie, dass es zulässig ist, lesbische Frauen mit der gekrümmten Frau in der biblischen Erzählung zu vergleichen?
Falls es in Ihrer Gruppe möglich ist, können Sie über die Antworten öffentlich sprechen; sonst ist es auch möglich, die Zettel wieder einzusammeln und die Antworten anonym zu bearbeiten.

Ich wollte „richtig“ leben vor Gott, nach seinem Willen. Und was Gottes Wille für mein Leben war, das wussten andere Menschen immer viel besser als ich selbst. Ich hatte gelernt, dass das, was ich fühle und empfinde, falsch ist. Über Jahrzehnte hatte ich den anderen Menschen und ihrem Urteil, ihrer Beurteilung über mich mehr geglaubt als mir selbst. Ich habe mir nicht geglaubt! Ich war mir meiner selbst nicht sicher.2
Und Gott? Damals dachte ich oft, dass Gott über mich weint, über mein Versagen „richtig zu lieben“, d.h. einen Mann zu lieben. Ich war innerlich verkrümmt und verbogen. Wie sehr habe ich mich abgelehnt, ja teilweise dafür gehasst, dass ich so fühlte wie ich fühlte. Ich wollte gerne „geheilt“ werden. Wie tief saß in mir die  Angst, von Gott „verdammt“ zu sein und irgendwann „in der Hölle“ zu landen. Wie sehr habe ich Gott gebeten mein Herz zu verändern!

Dann lernte ich den Menschen kennen, den ich von ganzem Herzen liebte, mit dem ich alt werden wollte, in guten wie in bösen Tagen. Und dieser Mensch war eine Frau. Damals arbeitete ich als Jugendreferentin in einem Kirchenkreis.
Die Liebesbeziehung zu dieser Frau hatte zur Folge, dass ich unendlich viel Kraft aufwenden musste, damit diese Liebe ja geheim blieb. So führte ich viele Jahre lang ein Doppelleben. Oder können Sie sich vorstellen, Ihre Tochter oder Enkelin in eine Jugendgruppe zu lassen, die von einer lesbischen Diakonin geleitet wird?

* Tauschen Sie Ihre Ansichten über die Arbeit von Lesben mit Kindern und Jugendlichen aus.
* Begründen Sie Ihre Meinung mit Argumenten und notieren Sie die stichwortartig in zwei Spalten!

12 Als aber Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sprach zu ihr: Frau, sei frei von deiner Krankheit!
13Und legte die Hände auf sie; und sogleich richtete sie sich auf und pries Gott.
14Da antwortete der Vorsteher der Synagoge, denn er war unwillig, dass Jesus am Sabbat heilte, und sprach zu dem Volk: Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten soll; an denen kommt und lasst euch heilen, aber nicht am Sabbattag.
15Da antwortete ihm der Herr und sprach: Ihr Heuchler! Bindet nicht ein jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder seinen Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke?
16Sollte dann nicht diese, die doch Abrahams Tochter ist, die der Satan schon achtzehn Jahre gebunden hatte, am Sabbat von dieser Fessel gelöst werden?

Jesus sieht diese Frau in ihrer Verkrümmung und ruft sie zu sich. Und die Frau geht. Ich finde das mutig. Sie kommt und zeigt sich allen, wie sie ist. Sie, die in den Augen der anderen kultisch und religiös nicht vollwertig ist und darum Ausgrenzung erfährt. Denn Krankheit galt in der damaligen Zeit als Strafe Gottes. Leider nicht nur damals! Ich kann nur spekulieren, was sie alles schon erlitten hat. Das Tuscheln, den Spott, die Ablehnung, die Verurteilung. Jesus sieht sie an und heilt sie. Er sagt ihr das Wort, das sie befreit. Er kommt ihr nahe, indem er sie  berührt. Jesus stellt sich hier gegen verkrustete und unmenschliche Ordnungen. Er überschreitet Grenzen: Er verstößt mit der Heilung gegen das Sabbat-Gebot; er lässt zu, dass die Frau laut in der Synagoge Gott dankt und kritisiert scharf die Haltung der „Frommen“.
Jesus gibt dieser Frau ihre Menschenwürde als „Tochter Abrahams“ zurück, somit ruht auf ihr der Segen und die Verheißung Gottes.

„Sie sind ein Segen für unsere Jugendarbeit. Es ist so gut, dass sie da sind!“ Oft hörte ich dieses Lob von Pfarrerinnen und Pfarrern. Es waren dieselben Menschen, die ihre verurteilenden Meinungen über Homosexuelle sehr deutlich von sich gaben. Und ich saß „mitten unter ihnen“. Es hat mir oft die Kehle zugeschnürt, und ich hatte nicht den Mut ihnen zu sagen: Ihr redet jetzt von mir! Mein jahrelanges Doppelleben blieb nicht ohne Folgen.
Nach einem Orts- und Stellenwechsel, in dessen Verlauf sich meine Partnerin von mir trennte, kam es zu einem psychischen Zusammenbruch. Mir wurde sehr deutlich, dass ich endlich damit aufhören und mich auf den Weg zu mir selbst machen musste. Ich wollte aufrecht und identisch leben. Dazu war der Aufenthalt in einer psychothera-peutischen Klinik notwendig. Auch da suchte ich mir natürlich eine christliche Klinik aus! Und also war ich in den Augen meiner Therapeutin ein absolutes „Mängelwesen“, das den Entwicklungsprozess – hin zu einer heterosexuellen Beziehung, den jeder „normale“ Mensch durchmacht – noch nicht abgeschlossen hatte. Sie sagte mir, dass ich ein „behindertes Leben“ führe, wenn ich weiterhin als lesbische Frau lebe.

„Wir müssen unbedingt jene Lebensform wählen, in der Gott uns haben will!“ (Charles de Foucault) Auf diesem schmerzlichen, aber lebens-not-wendigen Weg erlebte ich, dass Gott mich in meiner Verkrümmung sah und mir Worte gab, die mich befreiten.
„Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte!“ (Jeremia 31,3) Immer schon war es für mich ganz wichtig, dass ich als Kind getauft worden bin und ich selbst nichts dazu getan habe. Dieses „Ja“ Gottes zu meiner Person und sein Segen über meinem Leben hat mir immer wieder Mut gegeben und die Kraft weiterzumachen. Gott hat mich angesehen und berührt.
Viele Jahre bat ich Gott, mein Herz zu verändern, um „richtig“ lieben zu können. Bis mir immer klarer wurde, dass ich „richtig bin“, weil Gott mich wunderbar gemacht hat. Für mich ist es nicht möglich zu entscheiden, dass ich ab jetzt nur noch Männer liebe. Dann müsste ich mein Herz herausreißen – und das kann ich nicht! Auf vielfältige Weise habe ich Gottes Fürsorge und Liebe erfahren: durch andere Menschen, Erlebnisse in der Natur, Ereignisse, die mich und mein Leben verändert haben. So konnte ich Schritte in ein „aufrechtes“ Leben gehen. Heute lebe ich identisch mit mir, kann mich so lieben und annehmen,wie ich bin und fühle. Ich kann es, weil ich mich genau so von Gott angenommen weiß.

In vielen Landeskirchen wird zur Zeit das Thema „Segensgottesdienste für  gleichgeschlechtliche Paare“ diskutiert. Es wäre gut, wenn Sie sich in ihrer Gruppe darüber informieren, welche Aussagen die Bibel zum Thema Segen macht und in welchen Formen der Segen in Ihrem (kirchlichen) Alltag vorkommt. Beschäftigen Sie sich mit den Stellungnahmen ihrer Landeskirche zu diesem Themenbereich. Vielleicht kann der nachstehende LeserInnenbrief3 Sie zum Gespräch anregen:

Der Segen scheint knapp zu werden
Für die klaren Worte von Herrn Dr. von Vietinghoff (Anm. d. Verf.: Präsident des Landeskirchenamtes Hannover), in denen er zusammen mit anderen darüber befindet, wer gesegnet werden darf und wer nicht, können wir Eltern von schwulen Söhnen und lesbischen Töchtern nur dankbar sein. Der Segen scheint in der Kirche knapp zu werden. Zum Glück aber wird darauf verzichtet, dass unsere Kinder den Segen, den sie bei ihrer Taufe empfangen haben, zurückgeben müssen. So bleibt Gottes Zusage, bedingungslos und ohne Vorleistung zu ihrem Leben zu stehen.
Wir Eltern werden unsere Töchter und Söhne darin bestärken, diesen Segen mutig in die Hände zu nehmen und sich damit in Gottes bunte, weite Welt zu trauen. Dort können sie dann ihre Gaben und Begabungen einbringen, die sie von ihrem Schöpfer erhalten haben. Und das sind noch wesentlich mehr als die uns fremd anmutende Sexualität! Zwar werden sie noch länger Fremdlinge in dieser Welt sein, aber in  unserer jüdisch-christlichen Tradition liegen gerade auf den Fremdlingen große Verheißungen… !

17Und als er das sagte, mussten sich schämen alle, die gegen ihn gewesen waren.
Und alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten, die durch ihn geschahen.

Viele Jahre arbeite ich nun hauptamtlich mit Frauen. Ich bin sehr gerne in diesem Arbeitsfeld und erlebe das Miteinander meistens als große Bereicherung. Gemeinsam auf dem Weg sein zu einer gerechteren Welt, sich mit Glaubens-
und Lebensfragen auseinandersetzen, die Frauen in ihrer Identität als Frau und als Mitarbeiterin zu stärken und zu ermutigen, sind für mich wichtige Schwerpunkte. Ich erlebe Frauensolidarität und auch die Freude, wenn eine den Mut findet, mehr zu sich zu stehen oder sich aus lebenszerstörenden Verhältnissen zu lösen. Es tut gut, im gemeinsamen Tun Gaben und Fähigkeiten zu entdecken, aber auch die eigenen Schwächen anzunehmen. Die Arbeit an und mit biblischen Texten ist spannend und öffnet neue Horizonte.

Die Resonanz auf meine Seminarangebote, die Anfragen zu Besuchen in Frauengruppen und die persönlichen Kontakte und Begegnungen zeigen mir sehr deutlich, dass meine Arbeit und auch meine Person sehr geschätzt werden.
Mein Anliegen ist, in dem, was ich sage und wie ich anderen Frauen begegne, wahrhaftig zu sein. Doch an diesem wichtigen Punkt in meinem Leben kann ich es nicht. Denn ich weiß, dass ich mit negativen Folgen durch meine Arbeitgeberin Kirche zu rechnen habe, wenn ich mich offiziell als Lesbe „oute“. Und in den Kirchengemeinden, bei den Mitarbeiterinnen und Teilnehmerinnen gäbe es sicher auch teilweise sehr ablehnende Reaktionen.

Während der Arbeit an dieser Andacht kam mir immer wieder ein Wort aus dem Römerbrief in den Sinn: „Lasst einander gelten und nehmt euch gegenseitig an, so wie Christus euch angenommen hat. Das dient zum Ruhm und zur Ehre  Gottes.“ (Röm 15,7)
Einen großen und wichtigen Schritt auf diesem Weg sehe ich darin, sich mit dem Thema „lesbisch leben“ auseinander zu setzen, miteinander in ein offenes Gespräch zu kommen – am Besten natürlich mit lesbischen Frauen selbst. Ich wünsche Ihnen den Mut, eigene Vorurteile zu hinterfragen und auch eigene Ängste in den Blick zu
nehmen und zu bearbeiten.

Gott sei vor dir,
um dir den Weg zur Befreiung zu zeigen.
Gott sei hinter dir,
um dir den Rücken zu stärken für den aufrechten Gang.
Gott sei neben dir –
eine gut Freundin an deiner Seite.
Gott sei um dich wie ein schönes Kleid
und eine wärmende Alpacadecke,
wenn Kälte dich blass macht,
Beziehungslosigkeit dich frieren lässt.
Gott sei in dir und weite dein Herz –
zu lieben und zu kämpfen.4


Um sich selbst zu schützen, muss die Autorin anonym bleiben. Name und Adresse sind der Redaktion bekannt.


Anmerkungen
1 „Weitergehen“ Texte zum Nachdenken 2001 – Am Rande;
Burckhardthaus-Laetare Verlag
2  Zu diesem Gedanken vgl. „Ein umgekehrtes Schuldbekenntnis“ im Materialteil dieser Arbeitshilfe, S. 50; wenn genügend Zeit zur Verfügung steht, können Sie es hier oder an einer anderen Stelle der Andacht sprechen (lassen).
3  Leserbrief Elterngruppe Hannover im Bundesverband der Eltern, Freunde und
Angehörigen von Homosexuellen, entnommen aus einem Papier zum Ökumenischen Kirchentag Berlin 2003
4  Renate Ellmenreich, aus: Heidi Rosenstock, Hanne Köhler (Hgg.), Du Gott, Freundin der Menschen, © Kreuz Verlag, Stuttgart 1991

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang