Alle Ausgaben / 2005 Bibelarbeit von Gisela Egler

Sehet die Lilien auf dem Felde

Bibelarbeit zu Matthäus 6,24-34

Von Gisela Egler

„Sehet die Lilien auf dem Felde.“  Diese Lilien auf dem Felde stehen für eine Vielzahl von Feldblumen, d.h. wild wachsende Blumen. Sie lassen sich botanisch nicht genau bestimmen. Mit dem griechischen Wort  krinon kann auch einfach „die Blume“ gemeint sein, als Blume des Feldes. Wenn sie verdorrt waren, wurden sie in den Ofen geworfen (Mt 6,30): anderes Brennmaterial war für arme Leute zu teuer. Blumen des Alltags – oder etwa doch nur Unkraut? Vergleichbar heute mit dem Löwenzahn, der den Asphalt in der Großstadt sprengt?

In unserem Text sind die Lilien eingebettet in den Aufruf, uns nicht um unsere Kleidung zu sorgen. Denn anders als die Frauen arbeiten und spinnen sie nicht – und trotzdem war Salomo in seiner Herrlichkeit nicht besser bekleidet als eine von ihnen (Mt 6,29). Nach dem Winter erblühen die Lilien neu. Wenn die Mischung aus Sonne und Regen stimmt, die Erde die notwendige Nahrung gibt, der Wind nicht zu sehr bläst, der Hagel die Blumen nicht zerstört, dann können sie wachsen und gedeihen. Sie verarbeiten das – von Gott – Gegebene. Das ist ihre „Arbeit“.
Wie so häufig wählt Jesus auch hier Beispiele aus dem Alltag, um seine Botschaft zu verdeutlichen. Außer den Lilien werden noch die Vögel (Mt 6,30) genannt, die nicht säen, ernten und in Scheunen sammeln: anders als die Männer. Hörerinnen und Hörer werden hier ganz gezielt angesprochen. Im Blick sind dabei besonders ihre jeweiligen Tätigkeiten, die zur Befriedigung der Grundbedürfnisse dienen.

„Wiewohl das Vöglein nicht säet noch erntet, aber doch müsste Hungers sterben, wo es nicht nach der Speise flöge und suchte. Dass es aber Speise findet, ist nicht seine Arbeit, sondern Gottes Güte. Denn wer hat Speise dahingelegt, dass es sie findet? Denn wo Gott nicht hinlegt, da findet niemand nichts“. (1)
Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? (Mt 6, 26) „Wenn aber Vögel und Lilien vom Schöpfer erhalten werden, sollte der Vater nicht vielmehr seine Kinder ernähren, die ihn täglich darum bitten, sollte er ihnen nicht geben können, was sie zur Notdurft ihres Lebens täglich brauchen, er, dem alle Güter der Erde gehören und der sie verteilen kann nach seinem Wohlgefallen?“ (2) „Jesus löst den ohne Gott gedachten notwendigen Zusammenhang von Arbeit und Nahrung auf. Er preist das tägliche Brot nicht als den Lohn der Arbeit, sondern spricht von der sorgfältigen Einfalt  dessen, der in Jesu Wegen geht und alles von Gott empfängt“ (3): Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, o Gott, von dir, Gott wir danken dir. (EG 463)

Sorget nicht

Das Wort „sorgen“ hat im Deutschen ein großes Bedeutungsfeld. Es umschließt sowohl das englische to worry (sich grämen, fürchten, sich ängstigen) als auch to care/to take care (sich kümmern, pflegen, versorgen/sich Mühe geben). Ähnlich ist es auch im Griechischen: der Bedeutung von „sich grämen“ usw. entspricht merimna/merimnao (in unserem Text das Verb in 6,25.27.28.31.34), der zweiten epimeleia/epimeleomai. Im Neuen Testament wird aus den Zusammenhängen deutlich, dass es bei epimeleia/epimeleomai um „die Sorge im Sinne von Fürsorge für einen Menschen, speziell auch um dessen Pflege geht (etwa Lukas 10,34f: der barmherzige Samariter ‚pflegt' den halb tot Geschlagenen und bezahlt den Herbergswirt dafür, dass der in seiner Abwesenheit diese Aufgabe übernimmt).“ (4) Diese Fürsorge stellt Jesus als beispielhaft dar. In unserem Text hingegen ist mit „sorgen“ sich ängstigen und sich abmühen gemeint. Es ist ein Tun, das den ganzen Menschen umfasst und ihn vollkommen einnimmt, eine Art Sorgenkokon.

Sorgen der matthäischen Gemeinden

Welche Sorgen hatten denn die Menschen, für die das Evangeliums zuerst geschrieben wurde? Wo und wie lebten sie? „Die matthäischen Gemeinden leben in der jüdischen Diaspora, wahrscheinlich in Syrien, und sind Teil des Judentums. Dort haben sie nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die römische Besatzungsmacht 70 n. Chr. um die Zukunft des jüdischen Glaubens und Lebens gerungen.“ (5) Viele Mitglieder der Gemeinde hatten Mühe und Sorge, sich jeden Tag satt essen zu können. Sie nutzten die verdorrten Lilien als Brennmaterial. Denn die Mehrheit der Bevölkerung war niedergedrückt von den hohen Abgabelasten, den vielen Steuern und Zöllen der römischen Herrscher. Diese konnten bis zur Schuldknechtschaft führen. Die Bitte an Gott: Unser täglich Brot gib uns heute (Mt 6,11) steht vor dem Hintergrund der Realität, dass das Lebensnotwendige nicht selbstverständlich zur Verfügung stand. Das galt vor allem für Frauen und Kinder.

Über die hohen Abgaben hinaus beanspruchten die römischen Herrscher seit Augustus noch mehr. Wie ein Vater bzw. wie Eltern wollten sie verehrt werden. Oft gewaltvoll vertraten diese ‚irdischen Väter' und wahrscheinlich auch deren Repräsentanten vor Ort ihre Herrschaftsansprüche. Jesus sagt, dass die irdischen „Väter“ nicht das letzte Wort haben. Gott ist der Vater im Himmel. Darum lehrt Jesus zu beten: Dein Reich komme, Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden (Mt 6,10). „Die Vorstellung von Gott als Vater sprengt diesen patriarchalen Rahmen nicht, bricht ihn jedoch an entscheidender Stelle auf: Dem Machtanspruch der imperialen Väter, der bis hinein in das Alltagsleben der Menschen reicht, wird der Anspruch des himmlischen Vaters entgegenstellt. Seine Macht äußert sich in seinem Wissen und seiner tätigen Sorge um die Bedürfnisse seiner Kinder (6,8.32): Versorgung und Vergebung sind seine Gaben, die sie dringend nötig haben, und die sie getrost von ihrem himmlischen Vater erwarten und erbitten dürfen.“ (6)

Die Machtfrage wird in diesem Text gleich zu Beginn schon einmal gestellt: Entweder Gott oder Mammon (Mt 6,24) – wem geben wir die Macht über uns? Wem gehört unser Herz (Mt 6,21)? Den Schätzen auf der Erde (Mt 6,19), und damit dem Mammon, oder den Schätzen im Himmel (Mt 6,20), und damit Gott? Niemand kann zwei Herren dienen (Mt 6,24); Liebe und Hass sind immer ungeteilt (siehe auch 1. Gebot in Dtn 6,4; Ex 20,3). Mammon wird hier personalisiert und als ein Gegenüber, als eine Gegenmacht zu Gott wahrgenommen. Wie das goldene Kalb (Ex 32,1-6), das sich die Israeliten machten, als sie Gott nicht mehr vertrauten. Mammon ist also ein Götze. Götzen, so die Bibel an vielen Stellen, entwerten und versklaven die Menschen.

Sorgen heute

„Mammon“ ist die Bezeichnung für Besitz und Vermögen und Habe und Geld, hier, wie bei Lukas (Lk 16,9.11.13) mit einer negativen Wertung. Heute könnte man Mammon mit „Geld als Macht- und Sicherungsinstrument“ übersetzen, dem alles unterzuordnen ist. Dem Mammon zu dienen bedeutet, alles Haben und Können auf die Sicherung des Lebens zu richten, und ist somit ein anderes Wort für die sogenannten Sachzwänge und die von den Medien und vielen PolitikerInnen geforderte Sicherheitsdoktrin, die vorgibt, was wir zu tun und zu lassen haben.
Wir hören: Du musst dich absichern und vorsorgen! Du musst die Realität akzeptieren, es geht nicht alles so, wie du es möchtest! Wir sagen: Wenn ich mich nicht um meine Zukunft kümmere, wer soll es denn sonst machen? Und: Da kann man ja doch nichts machen… Ich und die Sorge sind eins. Wie viele Menschen können vor lauter Sorgen nicht schlafen? Die drohende oder bestehende Arbeitslosigkeit, Schulden, Angst vor Armut im Alter, Angst um die Zukunft der Kinder, Krankheiten, Leiden…

Aber wenn die Sorge das ganze Leben bestimmt, dann ist kein Raum für Gott da. Das eine schließt das andere aus. Jesus fragt uns: Ist nicht das Leben mehr als die Speise und der Leib mehr als die Kleidung? (Mt 6,25) Seid ihr denn nicht viel mehr als die Vögel? (Mt 6,26) Wer aber von euch kann durch sein Sorgen zu seiner Lebenslänge eine einzige Elle hinzusetzen? (Mt 6,28) Jesus lockt uns heraus aus unserem Kleinglauben (6,30.32), lockt uns hinein in das Vertrauen zu Gott, der weiß, was wir alles brauchen. (Mt 6,32)
Aber damit bleibt Jesus nicht stehen. Noch weiter heraus aus dem Sorgen kokon lockt er – in die Weite des Gottes reiches und seiner Gerechtigkeit.

Zuerst das Reich Gottes

Suchet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit. Dann wird euch alles andere zufallen (Mt 6,33).
Suchen statt Sorgen! Suchen meint hier: ganz bei der Sache sein und sein Leben auf das Finden ausrichten. Es umfasst alle Fasern des Seins, umfasst alle Handlungsbereiche, umfasst Fühlen und Handeln. Diese Suche ist etwas Kraftvolles. Wer so sucht, geht davon aus, dass das Leben sich verändern kann. Solches Suchen akzeptiert die sogenannten Sachzwänge nicht als endgültige Wahrheit. Wer so sucht, hat Alternativen vor Augen – den Schatz, das Reich Gottes. In immer neuen Bildern wird uns dieses Reich Gottes vor Augen geführt. Da werden alle zu Tische sitzen, und die Letzten werden die Ersten sein (Lk 13,29). Zu Tisch sitzen bedeutet miteinander zu essen, zu feiern, Leid und Freude miteinander zu teilen. Ein für alle verständliches, nachvollziehbares Bild. Ein Bild aus dem Alltag. Das, was da ist – fünf Brote und zwei Fische (Mt 14,13-21) – miteinander teilen und das Wunder erleben, dass es viel mehr ist, als alle gedacht haben.
Mit Hilfe der Bilder und Geschichten schauen wir über unseren Sorgenalltag hinaus:

  • Wir sehen die Lilien in ihrer ganzen Schönheit.
  •  Wir bekommen Zeit zum Atemholen und gewinnen Raum.
  •  Wir spüren, was Leben noch alles sein könnte.
  •  Wir öffnen uns für Wunder mitten im Alltag.
  •  Wir entdecken den Zauber des Lächelns.

Wir merken, dass das Reich Gottes mitten im alltäglichen Leben anfängt, dabei die ganze Welt im Blick hat und uns neue Perspektiven eröffnet. Was das für die heutige Zeit bedeutet, darüber denken die Deutsche Roswith Gerloff (RG) und der Südafrikaner Bongani Mazibuko (BM) 1988 in einem Gespräch nach. Die beiden haben über Jahre gemeinsam das Zentrum für Schwarze und Weiße Partnerschaft in Birmingham (England) geleitet. Weil Jesus dabei in den Alltag hinein genommen wird, ist die Rede im folgenden kleinen Gesprächsausschnitt vom „Bruder Jesus auf meiner Türschwelle“.

RG: Wenn ich Zeugnis ablege von diesem Bruder Jesus auf meiner Türschwelle, kann ich nicht anders als von ihm verwandelt zu werden, um ein Leben des Teilens mit allen Leidenden, Minderheiten, Entrechteten oder Flüchtlingen zu führen. Ich bin absolut überzeugt, dass nur eine Kirche (schwarz oder weiß), die sich solcher Herausforderung heute stellt, sich also sorgsam um die eigentlichen menschlichen Nöte und die konkreten geistlichen Gaben herum bildet und somit zu einer Gemeinde vieler Farben wird, etwas von Gottes Liebe ausstrahlt und dadurch attraktiv wird für unsere graue und zersplitterte Welt.
BM: Aber wir müssen weiter schauen, um dem Missverständnis zu entgehen, als ob Gott nur der Gott der Leidenden wäre. Gott ist leidenschaftlich für alle! Ja, Gott hat Interesse an allen Gelähmten und Unterdrückten, aber in gleicher Weise auch an denen, die andere lähmen und unterdrücken. Darum in letzter Instanz, was zählt, ist Gottes Menschlichkeit! Gott ist Gott, wenn ich leide. Gott ist sogar Gott, wenn ich, oder andere wie ich, andere leiden machen. Denn am Ende aller Zeiten steht der uns im Gottesreich bereitete gemeinsame runde Tisch, an dem wir sitzen.
RG: und uns gegenseitig ein Lächeln schenken…
BM: Ja, uns anlächeln als gleichwertige Geschwister Jesu.
RG: So kann Gott also gefunden werden im Lächeln, das wir als Menschen einander schenken mit 'aufgedecktem Angesicht', ohne Maske, ohne Furcht…
BM: mit Respekt, gegenseitiger Akzeptanz und Liebe …
RG: und dort, wo wir gelernt haben zu teilen und einander zu nähren…
BM: Ja, wo wir gelernt haben, einander zu nähren!“ (7)

Jeder Tag hat seine eigene Plage

Einander zu nähren, zu teilen und uns anzulächeln verändert unser Leben hier und heute, ist ein Zeichen für das, was kommen wird am Ende der Zeiten. Böses, Leiden, Notlagen werden nicht einfach weggezaubert. Aber sie sind eingebettet in die Fürsorge Gottes, der weiß, wessen wir bedürfen (Mt 6,32) und es uns zukommen lassen wird (Mt 6,33). Dieses tiefe Vertrauen in Gott bezeugt Dietrich Bonhoeffer (8) in einem Glaubensbekenntnis, das er zum Jahreswechsel 1942/43 geschrieben hat:

Ich glaube,
daß Gott aus allem,
auch aus dem Bösesten,
Gutes entstehen lassen kann und will.
Dafür braucht er Menschen,
die sich alle Dinge
zum Besten dienen lassen.

Ich glaube,
daß Gott uns in jeder Notlage
soviel Widerstandskraft geben will,
wie wir brauchen.
Aber er gibt sie nicht im Voraus,
damit wir uns nicht auf uns selbst,
sondern allein auf ihn verlassen.
In solchem Glauben müßte alle Angst
vor der Zukunft überwunden sein.

Ich glaube,
daß Gott kein zeitloses Fatum ist,
sondern daß er auf aufrichtige Gebete
und verantwortliche Taten wartet
und antwortet.

Amen.

Für die Arbeit in der Gruppe

Ziel: Die Frauen setzen sich mit dem biblischen Textverständnis der Lilien, des Sorgens und Suchens auseinander und übertragen deren Bedeutung auf ihren Alltag.

Zeit: 1,5 bis 2 Stunden

Material: Blumenstrauß mit Feldblumen; Text „Blumenduft“ (siehe Arbeitsmaterial am Ende dieses Beitrags); Gesangbücher

Ablauf:
* Alle sitzen im Kreis. In der Mitte steht eine Vase mit den unterschiedlichsten Feldblumen. Die Frauen werden gebeten, sich eine Blume aus dieser Vase zu nehmen und sich dann wieder in den Kreis zu setzen.
* Der Text „Blumenduft“ wird vorgelesen.
* Nach einer kurzen Pause sagt die Leiterin: „Wir öffnen die Augen und schauen uns unsere Blume noch einmal an. Dann stellen wir sie zurück in die Vase“.
* Jede, die möchte, bringt in die anschließende Plenumsrunde ein, welche Gedanken ihr zu „ihrer“ Blume gekommen sind.
* Der Bibeltext Mt 6,24-34 wird gelesen, reihum je ein Vers. Anschließend wird eine Schweigezeit angekündigt mit folgenden Fragen zum Nachsinnen: Welche Bilder tauchen beim Hören des Textes vor Ihrem inneren Auge auf? Welche Geschichten fallen Ihnen ein?
* Die Frauen geben ihre Eindrücke wider. Die Leiterin greift einzelne Eindrücke auf und vertieft die Aussagen zu den Lilien, den Sorgen und dem Suchen.
* Zur Vertiefung liest sie entweder das Glaubensbekenntnis von Bonhoeffer oder den Gesprächsausschnitt von Roswith Gerloff und Bongani Mazibuko vor.
* Lied: Alle guten Gaben, alles was wir haben (EG 463) oder Geh aus mein Herz und suche Freud (EG 503, 1.2.13.14)
* Zum Schluss bekommt jede Frau eine Blume geschenkt.

Anmerkungen:
1
Martin Luther, zitiert in Bonhoeffer, Bd. 6, S.173
2 ebd. S. 173
3 ebd. S. 172f
4 Stegemann, S. 170
5 Gnadt, S. 485
6 Gnadt, S. 486
7 Gerloff, S. 323
8 Bonhoeffer, Bd. 8, S. 30f

Literatur:
Elsbeth Bihler, Symbole des Lebens und des Glaubens: Tiere – Blumen. Werkbuch für Religionsunterricht und Katechese; Lahn-Verlag, Limburg 1997
Dietrich Bonhoeffer, Werke, Bde. 6 und 8, Gütersloh 1998
Roswith Gerloff, Das schwarze Lächeln Gottes. Afrikanische Diaspora als Herausforderung an Theologie und Kirche, Gisela Egler und Paul Löffler (Hrg.), Frankfurt 2005
Martina Gnadt, Das Evangelium nach Matthäus. Judenchristliche Gemeinden im Widerstand gegen die Pax Romana. In: Luise Schottroff u.a., Kompendium feministischer Bibelauslegung, Gütersloh 1998
Wolfgang  Stegemann, Matthäus 6,25-34: Ein Spiel auf zwei Bühnen, in: Predigtstudien, Perikopenreihe I, zweiter Halbband 2002/2003, Stuttgart 2003
Edouard Urech, Lexikon christlicher Symbole,  Freiburg, 5. Auflage 1985

Gisela Egler, Jg. 1960, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sie hat evangelische Theologie und Islamwissenschaften studiert und von 1991 bis 1995 als Gemeindepfarrerin gearbeitet. Seitdem ist sie haupt- und ehrenamtlich für den christlich-islamischen Dialog tätig. Sie ist Mitglied der Arbeitsgruppe ahzw.

Arbeitsmaterial

Blumenduft

Wir halten eine Blume in der Hand.
Wir schauen sie genau an.

Ihre Farbe.
Ihre Form in der Gesamtheit.
Jedes einzelne Blütenblatt.
Ihre Stängel,
ihre grünen Blätter.

Wir schließen die Augen.
Wir heben die Blume an unsere Nase.
Wir nehmen eine Weile ihren Duft auf.

Vielleicht erinnert uns der Duft an irgendetwas.
An eine Landschaft,
einen Tag,
einen Menschen.

Vielleicht ist der Duft auch neu für uns.
Wir stellen uns vor, auf welchem  Fleckchen Erde unsere Blume blüht.

Elsbeth Bihler, Symbole des Lebens und des Glaubens: Tiere – Blumen: Werkbuch für Religionsunterricht und Katechese, S. 221
© 1997 Lahn-Verlag, Limburg-Kevelaer


Die Lilie

Eine Vielzahl von Blumen, die durch ihre Pracht auffielen, wurden durch örtliche Gewohnheiten, volkstümlich oder poetisch mit dem Namen Lilie bezeichnet. So können damit mehrere Amaryllissorten gemeint sein: die gewöhnliche Gladiole, die weiße Lilie, die Iris; als Lilie der Teiche gilt die weiße Seerose, die Kaiserkrone, die rote Anemone und die Narzisse. Viele davon waren wildwachsende Blumen, bevor sie später zu Zierpflanzen in Gärten und Parks wurden. Auch in Mt 6,28 bleibt mit dem Wort to krinon offen, welche botanische Art denn nun gemeint ist.
Aufgrund ihrer Schönheit diente die Lilie schon in Ägypten, im minoischen Kreta und in Mykenä als Dekor-Kunstmotiv. Ornamentale Lilien wurden auch auf vielen orienta lischen und besonders byzantinischen Geweben verwendet.

„Die weiße Lilie (liliumcroceum) hat jedoch die Ehre, den wissenschaftlichen Namen Lilie zu führen. Sie hat seit jeher die Blumenbeete, aber auch die Literatur und die Dichtung geschmückt, die aus ihr das Zeichen der Unschuld und der Reinheit gemacht haben. Eine so schöne Blume konnte nun keinen natürlichen Ursprung haben. Die Griechen nennen sie ‚Rose Junos' und erzählen, dass ein Tropfen Milch dieser Gottheit zu Boden gefallen war und dass diese wunderbare Blume daraus entstanden sei. Andere behaupten, dass Venus ein schönes junges Mädchen, auf das sie eifersüchtig war, in eine weiße Lilie verwandelt hätte. Die lateinische Dichtung singt unaufhörlich das Lob dieser Blume und scheint aus ihr das Symbol der jungfräulichen Reinheit gemacht zu haben. Im Mittelalter wurde ferner erzählt, dass ein junger Franzose namens Loys in eine Sumpflilie verwandelt worden sei und daraus sei die Nationalblume Frankreichs entstanden; so kam die Lilie in die Wappen der königlichen Familien und auch in die zahlreicher französischer Städte, Provinzen und Familien. Die Sumpflilie (Iris) findet sich auf unzähligen Verzierungen von Steinen, edlen Metallen, Elfenbeinplatten, Stoffen, Juwelen und Münzen, in der Malerei, auf Kirchenfenstern usw. (…)
Als Symbol hat die weiße Lilie eine so majestätische Form und eine so prunkvolle Farbe, dass sie ganz selbstverständlich die Hoheit, die Erhabenheit, das Königliche bezeichnet. Deshalb wurde sie zum Symbol Christi. Die Christen entlehnten jedoch aus der heidnischen Antike die Idee der durch diese Blume symbolisierten jungfräulichen Reinheit“ (1) und verknüpften diese ab dem 12. Jahrhundert mit Maria und dem aufkommenden und zunächst umstrittenen Fest der unbefleckten Empfängnis Mariae.
Seitdem finden sich Darstellungen, in denen ein Engel Maria die Lilie bringt oder später sie sich neben ihr oder in ihrer Hand befindet. Ab dem 13. Jahrhundert wurden einigen biblischen Figuren oder Christen, die gerade heilig gesprochen worden waren, eine Lilie der Reinheit verliehen, so z.B. dem Erzengel Gabriel, Joseph (Marias Mann) und Johannes dem Täufer ebenso wie Franz von Assisi, der Hl. Klara, Katharina von Siena und Thomas von Aquin. Auf den Darstellungen wird die Lilie dabei z.T. so hochstilisiert, dass die Schönheit ihrer wildwachsenden Schwester dabei ganz in Vergessenheit gerät.
Außer als Symbol der Reinheit gilt die Lilie in der Volkssymbolik auch als Zeichen des ‚bleichen Todes'. So werden häufig Lilien als Sargschmuck verwendet.

(1) Edouard Urech, Lexikon christlicher Symbole, Freiburg, 5. Aufl. 1985, S. 154f

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang