Alle Ausgaben / 2005 Andacht von Ilona Helena Eisner

Das könnte ein Engel gewesen sein

Eine Andacht über Geborgenheit und Freiheit

Von Ilona Helena Eisner

„Halten Sie doch mal die Andacht!“
Wie oft sind Sie schon so angesprochen worden und haben gedacht: Ich bin doch hoffentlich nicht gemeint? Viele Veranstaltungen in unserem kirchlichen Alltag beginnen mit einer Andacht.
Sie sind mehr oder weniger andächtig, mehr oder weniger ansprechend und manchmal auch völlig daneben. Andachten haben etwas von einer  Prüfung. Alle schauen auf mich, hören, was ich zu sagen habe und beurteilen womöglich, ob sie es nicht besser gekonnt hätten. Viele von uns kennen beide Seiten, die der Konsumentin und die der Verantwortlichen für die Andacht. Als Verantwortliche wünsche ich mir schon ab und an den Beistand eines Schutzengels, der die anderen milde stimmt und mir die richtigen Worte einhaucht. Warum also nicht mal die Andacht zu einem Engelbild? Wie wäre es mit dem zauberhaften „kleinen Engel, der übers Land fliegt“ der Künstlerin Brigitte Kranich, den die Frauen hilfe in diesem Jahr als Jahreslosungs karte ausgewählt hat?
Teilen Sie die Karten mit dem kleinen Engel aus. Sie können sie beziehen über die EFHiD (siehe Impressum S. 83).

Libellengleich schwebt der traumhaft schöne, in blau und weinrot gehaltene Engel durch den ebenso blauen Himmel. Beide scheinen ineinander über zu gehen, auseinander heraus zu entstehen. Goldene Sterne begleiten den Flug. Sie sind so zart und strahlen doch hell über dem Himmel, wie schmückendes Beiwerk. Wohlwollend fällt der Blick des Engels auf die Landschaft unter ihm. Sanfte Hügel und freistehende Bäume in verschiedenen Grün- und Brauntönen umgeben schützend die Stadt in der Mitte. Hinter den Hügeln liegt ruhig ein hellblauer See, dessen anderes Ufer in der Ferne zu erahnen ist. Der See ist viel heller als der tiefblaue Himmel und scheint die Widerspiegelung zu verweigern. Doch das alles ist nebensächlich. Das Bild ist dominiert von der schwebenden Gestalt. Stellen wir uns so einen Engel vor?

Während die Teilnehmer/innen das Bild betrachten, kann eine leise Musik im Hintergrund laufen. Vielleicht von Hufeisen, Mein Schutzengel. Regen Sie an, sich zu zweit oder dritt über das Bild auszutauschen: Was sehen Sie, was fällt Ihnen auf? Was spricht Sie an, was auch nicht?

„Engel“: Die den germanischen Sprachen gemeinsame Bezeichnung für die im christlichen Glauben als Boten Gottes benannten Mittelwesen zwischen Gott und Mensch beruht auf einer frühen Entlehnung aus griech.: ággelos „Bote (N.T.:) Bote Gottes“. Soweit der Duden zur Herkunft des Begriffes. In der Bibel wird aber noch viel mehr ausgesagt – über ihren Ort, ihr Erscheinen und ihren Auftrag. In Kolosser 1 lesen wir, dass die Engel wie wir Menschen Geschöpfe Gottes sind, aber zur Himmelswelt Gottes gehören. Sie sind seine Heerscharen (1Kön 22; Jes 6). Sie leben in völligem Gehorsam und sind ausschließlich Träger und Zeugen der Ehre und Herrlichkeit Gottes. Ihre eigene Verehrung wird abgelehnt. Was sie reden und tun ist Ausdruck dessen, was Gott redet und tut, und in vielen Psalmen und Erzählungen geht das Handeln Gottes und seiner Engel ineinander über (Ps 34,7; 1. Mose 21,17ff). Weiter wird berichtet, dass sie an den zentralen und wesentlichen Wendepunkten der Heilsgeschichte eine Rolle spielen, so bei der Berufung Moses, Gideons oder Jesajas wie bei Geburt und Auferstehung Jesu.

In der Erscheinung der Engel spiegelt sich die helle Klarheit Gottes wider. Sie sind Erscheinungen des Lichts. Aber sie erscheinen auch als meist unerkannte Männergestalten. Sie gehen in Gefahr voran, selten aber „geflügelt“ wie in vielen künstlerischen Darstellungen, was – zusammen mit den amorettenhaften Engelein – zu irregeleiteten Vorstellungen beitrug. Sie erscheinen im Traum, der dadurch eine wichtige Bedeutung erhält, oder sie rufen „vom Himmel“.
Außer mit dem Begriff Engel, der den Boten oder Gesandten meint, werden sie auch mit den Worten „die Gewaltigen“, „die Heiligen“, „die starken Helden“ oder als „Diener Gottes“ beschrieben. Sie erscheinen in zahlloser Menge oder in einzelnen Gruppen, die Cherubim, die Seraphim oder die Erzengel. Manche werden uns mit Namen vorgestellt: Michael, Gabriel, Raphael. Und was nun ist ihre Aufgabe? Nach Hebr 1,14 besteht der Dienst der Engel darin, die Barmherzigkeit Gottes zu bezeugen und zu unserem Heil beizutragen. Ihr erster Auftrag ist Hilfe: sie warnen, sie weisen den Weg, sie greifen in entscheidenden Situationen ein oder stehen im Kampf bei. Und ihre zweite große Aufgabe? Lobsingen ohne Unterlass! Diakonie und Liturgie gehören für Engel zusammen, und da entdecken wir vielleicht Parallelen zu unserem Dasein als Geschöpfe Gottes auf Erden.
Über die Beschreibungen in der Bibel hinaus haben wir alle unsere eigenen Bilder und Erfahrungen mit Engelwesen.

Verteilen Sie kleine Wölkchen aus Papier und Stifte. Bitten Sie die Teilnehmerinnen aufzuschreiben, welche Erwartungen sie an Engel haben, welche Aufgaben sie ihrer Meinung nach zu erfüllen hätten. Sammeln Sie die „Aufträge“ für die Engel auf einem großen blauen Blatt in der Mitte (auf dem Tisch oder am Boden). Legen Sie kleine goldene Sternchen dazu und bitten Sie jede Teilnehmerin, für eine engelhafte Begegnung ein Sternchen aufzukleben oder dazu zu legen.

Auf dem Bild „Der kleine Engel fliegt über das Land“ von Brigitte Kranich dominiert eindeutig die Farbe Blau. Was verbinden wir bewusst oder unbewusst mit Blau? Bei der Psychologin Ingrid Riedel lese ich, verweilende Zärtlichkeit, Hingabe, Geborgenheit entspräche dem Grundton dieser Farbe. Dunkles Blau entspricht einer religiös-philosophisch-meditativen Haltung. Dunkles Blau steht für bestimmte Grundbedürfnisse: physiologisch für Ruhe und psychologisch für Befriedigung, Zufriedenheit und Frieden.
„Wer sich in solch einem ausgeglichenen Zustand befindet, fühlt sich eingefügt, verbunden und geborgen. Auch steht Blau für Verbindung, Verbundenheit, Treue. Es schafft die Voraussetzung für Einfühlung, besinnliches Nachdenken. … Solange es Menschen gibt, erleben sie sich und ihre Welt als überwölbt vom Blau des Himmels … Solange Menschen sind, nehmen sie sich auf ihrer Erde wahr als von Blau umfangen, das den Blick emporzieht in die Höhe und Tiefe des Himmels, in die Unendlichkeit, die paradoxerweise doch die Erde wie eine Glocke zu überwölben scheint. Entgrenzung einerseits, Geborgenheit andererseits kann Blau übermitteln. … Die Wirkung des Blau auf den Menschen beruht psychologisch auf der Erfahrbarkeit des Blau angesichts des Himmels in seiner lichtvollen Transparenz und des Wassers in seiner Weite und Tiefe. Die Begegnung mit dem Blau des Himmels in seiner Unverfügbarkeit wird zur Begegnung mit dem Transzendenten, dem Überschreitenden, für das Jaspers den bildhaften Ausdruck ‚das Umgreifende‘ gefunden hat. Damit kann Blau die Begegnung mit der Sphäre der dort als wohnhaft geglaubten und von dorther als wirksam erlebten Götter vermitteln. So wird Blau symbolisch zur Farbe der Transzendenz, auch zur Mittler- und Spiegelungsfarbe zwischen Himmlischem und Irdischem, zwischen Gott und Welt. … Weite und Entgrenztheit des Himmels und der Meere machen Blau auch zur Farbe des Fernwehs, der Seefahrt und der Luftfahrt, der Sehnsucht nach dem Wunderbaren, nach dem Unerreichbaren. Als Farbe der Meerestiefe ist es auch Farbe für das Unbewusste, für die Tiefe der eigenen Seele.“(1)

Wenn wir noch etwas beim Blau bleiben und uns erinnern an verschiedene Darstellungen in der Kunst, fällt der einen oder anderen vielleicht ein, dass auch Maria und selbst Jesus oft im blauen Mantel dargestellt sind. Der blaue Mantel zeigt die Herkunft und Verbundenheit mit dem Reich des Himmels. Und auch „Der kleine Engel fliegt über das Land“ ist ein Paradebeispiel der auf das Himmelreich weisenden Symbolik von Blau. Die wenigen goldenen Sterne, die dieses Blau durchleuchten, schmücken es auf wunderbare Weise. „Im altorientalischen kosmisch-religiösen Weltbild hatte das Gold wie die übrigen Metalle eine Beziehung zu den Planeten. Gold war der Sonne zugeordnet. … Als Sonnenfarbe wurde Gold Symbol des Himmels überhaupt.“(2) Zwei Drittel des Bildes werden von diesen wunderbar symbolischen Himmelsfarben dominiert. Lassen Sie sich hinein nehmen in diese friedvolle Zuwendung.

Bitten Sie die Frauen, die Karte noch einmal zur Hand zu nehmen und leiten Sie die Betrachtung folgendermaßen ein:

Lassen Sie Ihren Blick über die verschiedenen Blautöne schweifen und suchen Sie sich einen vertrauten Ton. Ist das vielleicht Ihr Lieblingsblau? Welche Erinnerungen haben Sie an Blau? Einen Abend am Meer, der Blick auf den Morgenhimmel aus dem Schlafzimmerfenster, der eisblaue Himmel bei einer Bergwanderung, oder das Frühlingsblau der ersten Vergissmeinnicht? In welchem Blau fühlen Sie sich wohl und geborgen?

Stille; evtl. Musik
Vielleicht haben Sie verschiedene blaue Tücher zur Auswahl, die Sie den Teilnehmerinnen zur Verfügung stellen könnten? Oder bitten Sie jede Frau, zu dieser Andacht ein blaues Tuch mitzubringen. Legen Sie die Tücher in die Mitte und entdecken Sie die unterschiedlichen Farbnuancen. Bitten Sie die Frauen, sich eine Partnerin zu suchen, zwei Tücher auszuwählen und sich gegenseitig darin einzuhüllen. Lassen Sie den Frauen Zeit, dem Gefühl von Geborgenheit nachzuspüren und verschiedene Möglichkeiten des Umfangens auszuprobieren. Auch hier ist es ratsam, im Hintergrund leise Musik einzuspielen. Anschließend können die Frauen die Tücher auf dem bereits gestalteten Wolkenhimmel ablegen.

Geborgen kommt von bergen, was soviel bedeutet wie „in Sicherheit bringen, hüten, bewahren“. Und auch das Verb borgen bedeutet ursprünglich „auf etwas Acht haben, schonen“. Engel, die uns umgeben, erfüllen genau diesen Zweck. Sie geben auf uns Acht und vermitteln uns so ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, von Beistand und Begleitung.

Nehmen wir jetzt noch die Jahreslosung hinzu: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“ (Jos 1,5b nach der Einheitsübersetzung) Diese Zusage gibt Gott Josua, kurz vor der Landnahme des Volkes Israel. Moses ist gestorben und Josua soll seine Aufgabe zum Ende bringen und das Volk ins verheißene Land führen. Was für eine Aufgabe! Da ist jede Hilfe und Stütze wichtig. Jede fürsorgliche Begleitung von großer Bedeutung. Und Gott sagt Josua seine Begleitung und Unterstützung zu. In welcher Form, ist nicht genannt. Schickt er seine Engel zur Begleitung? Es fällt auf, dass Gott dem Josua keine weiteren Anweisungen gibt, als sich an das Gesetz zu halten. Ansonsten ist Josua frei in seinen Entscheidungen, und Gott sagt ihm Beistand und Begleitung zu. Und hier gibt es nun eine interessante Entdeckung. Auch das Wort „frei“ gehört in seiner ursprünglichen Bedeutung zu „schützen, schonen, gern haben, lieben“, daher auch das alte Wort „freien“ für die Liebeswerbung. Denken wir zurück an die Bedeutung der Worte „bergen“ und „borgen“. Auch da ist die Rede von schonen und hüten, von in Sicherheit bringen. Freisein in Geborgenheit, Gottes Begleitung in meiner Mündigkeit erleben. Ein spannender Gedanke! Und der Engel verkörpert diesen Gedanken. Er kann fliegen, schweben, frei sein wie ein Vogel. Er verkörpert unsere Sehnsucht nach  Freiheit. Doch der Engel hat seinen Ort, seinen Kraftquell, seinen Grund. Als Geschöpf und Himmelsbote gründet sich seine Freiheit auf Gott. Aus der Geborgenheit bei Gott speist sich die Freiheit der Engel. Und die Geborgenheit bei Gott wird uns zugesagt: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“ Aus dieser Geborgenheit heraus, auf diesem Grund können wir freiheitlich leben, aus dieser Kraftquelle unsere Zuversicht schöpfen. Nehmen wir den „kleinen Engel“ als Symbol für diese Zuversicht mit. Lassen wir uns umgeben von Geborgenheit und Getragensein – und in Freiheit und Selbstverantwortung leben.

Zum Abschluss kann gemeinsam das Lied „Der Engel“ (s. Seite 42) gesungen werden oder der vielen bekannte kleine Kanon „Das wünsch ich sehr, dass immer eine(r) bei mir wär‘, die (der) lacht und spricht: fürchte dich nicht!“

Verabschieden Sie die Teilnehmer/innen mit einem Segen:

Das richtige Wort,
die richtige Geste
im rechten Augenblick
möge dein Herz öffnen,
möge den Engel in dir
zum Schwingen bringen
und deine Seele singen lassen,
damit dein Tag
gesegnet sei
vom Aufgang der Sonne
bis tief in die Nacht.
Amen, so sei es.

Christa Spilling-Nöker

Ilona Helena Eisner ist 38 Jahre alt und arbeitet als Referentin in der Frauenarbeit der Föderation Evan gelischer Kirchen in Mitteldeutschland. Im Vorstand der EFHiD ist sie zuständig für Publikationen.

Anmerkungen
1
Riedel, S. 60-67
2 ebd, S. 240f


Literatur

Calwer Bibellexikon, Stuttgart (Calwer Verlag),
6. Auflage 1989
Duden, Bd. 7, Etymologie, Mannheim, Leipzig, Wien, 2. Auflage 1997
Ingrid Riedel, Farben, Stuttgart (Kreuz Verlag) 1999
Christa Spilling-Nöker, Komm, mein Engel komm. Beflügelnde Worte für jeden Tag, Eschbach/Mark gräflerland (Verlag am Eschbach der Schwabenverlag AG), 6. Auflage 2005

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