Alle Ausgaben / 2005 Material von Jan-Uwe Rogge

Loslassen und Halt geben

Von Jan-Uwe Rogge


Für Marie Weber kam der Auszug der Kinder äußerst abrupt: Ihr ältester Sohn, Tom, zog mit 19 Jahren aus, seine Schwester,  Tanja, ein Jahr darauf. „Es entstand ein Loch. Ich bin immer noch in die Kinderzimmer gelaufen. Hab da rumgeschaut, mich hingesetzt und mich an früher erinnert. Wenn ich die Bilder an den Wänden sah, habe ich daran gedacht, wie schön es war. Ich hab mich richtig in Selbstmitleid geflüchtet.“ Marie Weber lebte zunächst so, als ob die Kinder im Hause wohnen würden. Sie veränderte nichts – weder ihren Tagesablauf noch die Aufteilung der Wohnung. Die ausgezogenen Kinder besuchten hin und wieder das elterliche Haus, „und alles war wie früher! Einfach schön! Aber ich war traurig, wenn sie dann wieder gingen!“
Marie Weber hatte nicht wirklich Abschied genommen. Ich  machte ihr deshalb einen Vorschlag. „Haben Sie ein Frauenzimmer?“, fragte ich sie. „Wie bitte?“ Sie klingt einigermaßen irritiert. „Ein Zimmer nur für Sie!“ Sie lächelte etwas hilflos: „Das Bügelzimmer, die Küche …“ Sie schüttelt den Kopf: „Ich habe kein eigenes Zimmer im Haus!“ – „Doch!“, schmunzele ich: „Das Zimmer Ihres Sohnes!“ Sie reagierte darauf spontan: „Aber das geht doch nicht! Der braucht doch seine gewohnte Umgebung, wenn er kommt!“ Wie häufig der Sohn denn komme, will ich  wissen. „Na, vielleicht alle acht Wochen!“ Sie stutzt: „Und Sie meinen, ich soll das machen?“

Entwicklungen, die Eltern und Kinder in der Pubertät durchlaufen, bringen Krisen mit sich. Sie sind normal und kaum zu vermeiden. Aber Krisen stellen Herausforderungen dar, sie bieten Chancen für veränderte Lebensperspektiven. Wer die Kinder loslässt, hat die Hände frei für neue Aufgaben. Wer dagegen an eingefahrenen  Traditionen festhält, klammert sich an die Kinder. Wenn man die Umgestaltung der Beziehung effektvoll inszeniert, stellt sich die Veränderung für alle Beteiligten sinnfälliger dar.

Abschiede tun weh, schmerzen Eltern und Jugendliche. Je offener mit den Gefühlen umgegangen wird, umso genauer kann man sie einschätzen, kann mit ihnen umgehen. Für Eltern gilt: Versuchen Sie nicht, im Nachhinein etwas gutzumachen, was Sie versäumt haben. Gehen Sie offen mit Ihren Schuldgefühlen um! Sprechen Sie das an, denn Kinder können vergeben. Halten Sie die Balance zwischen Vertrauen in den jungen Erwachsenen und einem unaufgeregten, unaufdringlichen Interesse an Ihren Kindern, das zeigt: Ich bin da, wenn du mich brauchst!
Diese Balance aus Nähe und Distanz gilt es ständig neu auszuhandeln, sie ist nicht ein für alle Mal erkämpft. Es ist eine lebenslange Aufgabe, an der Beziehung zwischen Eltern und Heranwachsenden zu arbeiten. Das ist ständige Herausforderung –
mal ist man sich näher, mal ferner. 

aus: Pubertät. Loslassen und Halt geben
© 1998 by Rowohlt Verlag GmbH Reinbek bei Hamburg

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