Ausgabe 1 / 2006

Legende der Heiligen Anna

Protevangelium des Jakobus


Derweil weinte Anna, sein Weib, denn sie hatte zweierlei Grund zur Klage: „Ich härme mich über meine Witwenschaft“, sprach sie, „ich härme mich, dass ich unfruchtbar bin.“ Als der festliche Tag des Herrn herangekommen war, sprach zu ihr Judith, ihre Magd: „Wie lange noch ist deine Seele betrübt? Siehe, der festliche Tag des Herrn ist da; du hast nicht das Recht, zu weinen. Doch nimm dieses Kopfband, das mir meine frühere Herrin geschenkt hat; ich kann mich nicht damit schmücken, denn ich bin Leibeigene, und es trägt das Zeichen des königlichen Stammes.“ … Da legte Anna ihre Trauerkleider ab in ihrem großen Kummer; sie wusch ihr Haupt, tat wieder ihr Hochzeitsgewand an und stieg um die neunte Stunde in den Garten hinab, um sich dort zu ergehen. Sie erblickte einen Lorbeerbaum, setzte sich unter sein Laubdach und rief den Allmächtigen an: „Gott meiner Väter, segne mich, erhöre mein Flehen, so wie du Sarah in ihrem Leibe gesegnet und ihr Isaak, ihren Sohn geschenkt hast!“

Und als sie zum Himmel emporschaute, sah sie ein Sperlingsnest im Lorbeerbaum; da begann sie wieder zu seufzen und sprach in ihrem Herzen: „Weh mir! Wer hat mich nur erzeugt und welcher Schoß hat mich geboren, dass ich verflucht ward unter den Kindern Israels und sie mich in Schande davonjagten aus dem Tempel des Herrn? Weh mir! Wem gleiche ich nur? Nicht einmal den Vöglein im Himmel, denn die Vögel im Himmel sind fruchtbar vor Dir, o Herr!“ … Und siehe, ein Engel des Herrn erschien ihr und sprach: „Anna, Anna, der Herr hat deine Klage gehört. Du wirst empfangen, du wirst gebären, und dein Same wird überall auf der Erde genannt werden!“ Anna erwiderte: „So wahr der Herr, mein Gott lebt: Sollte ich ein Kind gebären, Sohn oder Tochter, so weihe ich es dem Herrn, meinem Gott, damit es ihm diene sein Leben lang!“ Da traten zwei Boten zu ihr und sprachen: „Siehe, Joachim, dein Mann, zieht dir entgegen mit seinen Herden, denn ein Engel des Herrn stieg zu ihm herab und sprach zu ihm: Joachim, Joachim, der Herr hat dein Flehen erhört. Gehe von hinnen, denn siehe, Anna, dein Weib, wird in ihrem Schoße empfangen.“…

Es erfüllten sich aber Annas Monde, und am neunten gebar sie. Da fragte sie die Hebamme: „Was habe ich zur Welt gebracht?“ Die antwortete: „Eine Tochter.“ Anna sprach: „Verklärt ist meine Seele an diesem Tage!“ und bettete das Kind. Als sodann die vorgeschriebenen Tage vorüber waren, erhob sie sich, wusch sich, reichte ihrem Kinde die Brust und nannte es Maria. … Als der erste Jahrestag des Kindes herangekommen war, gab Joachim ein großes Festmahl… Und seine Mutter trug es ins Heiligtum seiner Schlafkammer und reichte ihm die Brust. Dann stimmte Anna ein Lied für den Herrn an mit diesen Worten:
„Singen will ich ein Lied dem Herrn, meinem Gott! Denn er hat mich besucht und die Schmach fortgenommen, die meine Feinde mir angetan! Denn der Herr schenkte mir eine Frucht seiner Gerechtigkeit, die eins ist und vielfältig. Wer kündet es jetzt den Söhnen Rubens, dass Anna Mutter ist? Hört es, hört es, zwölf Stämme Israels, dass Anna Mutter ist!“

Die Monde gingen dahin, und als das kleine Mädchen zwei Jahre alt war, sprach Joachim: „Wir wollen es in den Tempel des Herrn bringen, um unser Versprechen zu erfüllen; sonst könnte uns der Allmächtige gram sein und unsere Opfergaben verwerfen!“ Doch Anna erwiderte: „Warten wir noch das dritte Jahr ab, damit das Kind nicht nach Vater oder Mutter verlange!“ Und Joachim sprach: „Warten wir also ab!“
Als aber das Kind drei Jahre alt war, sprach Joachim: „Ruft die Töchter der Hebräer reinen Blutes; eine jede nehme eine Fackel, eine Fackel, die nicht erlischt! Denn das Kind darf sich nicht rückwärts wenden und sein Herz fortschenken außerhalb des Tempels des Herrn!“ Sie taten, wie er geheißen hatte, und stiegen zusammen zum Tempel des Herrn hinauf.
Und der Priester empfing das Kind, nahm es in seine Arme, segnete es und sprach: „Verherrlicht hat der Herr deinen Namen von Geschlecht zu Geschlecht! In dir wird er am Ende der Tage die Erlösung offenbaren, die er den Kindern Israels gewährt!“ Dann ließ er Maria auf der dritten Stufe des Altars niedersitzen. Und Gott der Herr goss seine Gnade über sie aus. Da sprang sie auf die Füße und begann zu tanzen. Und das ganze Haus Israels gewann sie lieb. 

Übersetzung aus: Henry Daniel-Rops (Hg.), Die apokryphen Evangelien des Neuen Testaments, Zürich 1956
andere Übersetzung verfügbar unter: www.heiligenlexikon.de, Stichwort „Anna“

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