Ausgabe 2 / 2006 Material von Jens Richter

Sara und Itzig Mandelstamm

Von Jens Richter


Sara Goldblatt war schon von frühester Kindheit an hässlich. Kurz nach der Geburt entfachte sie bereits einen Streit zwischen den erschrockenen Eltern. „Schau Dir Deine Nase an, schau Dir ihre Nase an, was soll ich noch sagen?“ – „Wie kannst Du so herzlos sein! Sie wird doch, Gott behüte, nicht Deine schiefe Statur geerbt haben?“ – „Innerlich ist sie vielleicht schön.“ – „Man kann sie ja nicht wenden lassen.“

Nun, Sara entwickelte sich sonst prächtig, sie war aufgeweckt, später keck und witzig, also eine gute jüdische Tochter. Nu, und die Eltern gewöhnten sich mit der Zeit an ihren Anblick. Aber schließlich wurde sie älter und – ja, wo findet sich ein guter Mann? Wenn die Eltern wenigs tens reich gewesen wären! Eine gute Mitgift schönt jedes Gesicht – aber die Eltern waren nicht reich. So wurden also die außerordentlichen Fähigkeiten Shmul Reis' auf eine harte Probe gestellt, und nur Gott ist es zu verdanken, dass der blinde Itzig Mandelstamm eines Tages in Shmul Reis' Haus stolperte und auch gleich loslegte: „Schön! Ja, eine schöne Frau muss es gewiss sein – ich würde nicht Tränen vergießen über eine schöne Mitgift – aber die Schönheit ist das wichtigste!“
„Wie recht Sie haben! Geld: Das ist schnell verbraucht! Schönheit dagegen; das braucht länger. Aber, nicht verzagen. Ich habe eine Partie; seien Sie froh, dass Sie blind sind! Diese Schönheit würde Sie ohnehin erblinden lassen. Durch die Vorsichtsmaßnahmen des gewitzten Shmul Reis hörte Itzig Mandelstamm auch wirklich nichts anderes, und so wurden sie ein Paar. Jeden Abend, nach dem Abendgebet, fügte Itzig Mandelstamm noch hinzu: „Gott, großer herrlicher Gott, hab' doch Rachmoness mit mir, Itzig Mandelstamm. Ich habe so eine scheene Frau und kann sie nicht sehen. Einmal, nur ein einziges Mal möchte ich meine wunderbare Sara sehen. Du hast so viel geschafft. Das ist doch eine Kleinigkeit.“ Nicht anders Sara: „Gott, großer herrlicher Gott, Du hast verfügt, dass Itzig Mandelstamm, mein Mann, blind sein soll. Warum sollst Du Deinen Plan ändern? Hab' doch Rachmoness mit mir. Willst Du Ehe krach? Nu also!“

Eines Tages jedoch geschah etwas, das die Herzen Saras und Itzigs stocken ließ: „Sara, Saraleben, Gott sei gepriesen. Ich sehe etwas!“ Sara warf sich schnell ein Handtuch über den Kopf, der Schweiß brach ihr aus, ihr wurde schwarz vor Augen. „Was, um Gottes Willen, was siehst Du?“ – „Eppes, ganz wenig, ganz verschleiert. Gott hat mich erhört, er hat mir Licht gegeben. Ich glaube, sogar e miese Wohnung hat er mir gegeben. Sara, vielleicht, mein Gott, vielleicht werde ich eines Tages sogar Dich erkennen!“ Sara war verzweifelt. Vor lauter Furcht hielt sie immer ziemlich großen Abstand zu Itzig, was diesen natürlich irritierte: „Sara, meine Sara, was ist los? Du weichst mir aus?“ – „Ach Itzig, weißt Du, ich habe mir, so glaube ich, eine Verkühlung zugezogen. Ich schnupfe schon. Soll ich Dich, Gott behüte, anstecken?“ – „Ich höre nichts.“ – „Oih weh, auch das? Wo Du schon blind bist!“ – „Nebbich, ich meine, ich höre nichts von Deiner Verschnupfung.“ „So etwas kommt schneller als man denkt.“ Das konnte natürlich nicht so weitergehen. Die vor Kummer zermürbte Sara vertraute sich dem Rabbi an. Dieser schaute lange in Saras Augen. „Ja, wir alle kennen nicht Gottes Gedanken. Deinen Kummer verstehe ich sehr gut. Mir ginge es nicht anders. Vielleicht wird doch alles gut. Wie, weiß auch ich nicht.“ Die Worte des weisen Rabbi Löw trösteten die arme Sara auch nicht sehr. Dazu kam, dass Gottes Mühlen zwar langsam mahlten, dennoch Itzigs Augenlicht unaufhaltsam besser wurde. Unerbittlich kam der Tag näher, an dem die glückliche Ehe zerbrechen würde. Dann war es soweit: Eines Morgens öffnete Itzig Mandelstamm die Augen und sah zum ersten Mal seine Sara in ihrer ganzen Pracht. Er schluckte, rieb sich die Augen, rieb sich die Augen noch einmal. Endlich fand er die Worte: „Mein Gott, was hatte ich mir erträumt! Aber das – nein, das hatte ich nicht erwartet. Sara, Saraleben, wie wunderschön, wie einzigartig schön Du bist! Komm in meine Arme, Du Goldschatz, mein Alles.“

So stellte sich also wieder heraus, dass Gottes Ratschluss für die Menschen nicht verstehbar ist. Sara und Itzig Mandelstamm führten bis ins hohe Alter eine geradezu ungewöhnlich glückliche Ehe. Und Gott in seiner grenzenlosen Güte tat noch mehr: Im hohen Alter wurden Saras Augen schwächer, und sie konnte ihren dicken, hässlichen Itzig nicht mehr ganz deutlich sehen. Da war das Glück vollkommen. 

aus: Rabbi Löw aus Libowicz
(c) Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1994

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