Ausgabe 2 / 2008 Material von Hildegunde Wöller

Nichts Gutes zu erwarten

Von Hildegunde Wöller


Die Problematik der Vater-Tochter-Beziehung ist nicht etwa eine Erscheinung der Neuzeit; auch was Märchen und Mythen aus der Vergangenheit melden, bestätigt, dass Töchter von ihrem Vater nichts Gutes zu erwarten haben.

Ohne Ausnahme wird immer dann, wenn von einem Vater und seiner Tochter die Rede ist, eine Schreckensszenerie geschildert. Der Vater setzt das Leben seiner Tochter aufs Spiel, um eigene Ziele zu erreichen. Geradezu typisch ist der Märchenanfang, wonach ein Mann im Wald einen Fremden trifft, der ihm Reichtum verspricht, wenn er ihm das gibt, was ihm bei der Heimkehr zuerst entgegenkommt. Unversehens hat der Mann dann immer seine Tochter dem Teufel überliefert. Nach anderen Märchen und Mythen ist es nicht der Teufel, sondern ein wildes Tier, zum Beispiel ein Drache, der das Land bedroht und dem der königliche Vater seine Tochter opfert.

Andere Väter sperren ihre Töchter in einen Turm, damit kein Liebhaber sie bekommt oder damit sie keine Kinder zur Welt bringen können. Oder der Vater gibt dem Freier der Tochter so schwere Aufgaben, bevor er sie heiraten kann, dass der Freier unweigerlich ums Leben kommen muss. Töchter haben von ihrem Vater nichts Gutes zu erwarten, sondern Gefangenschaft oder einen schrecklichen Tod. Damit spiegeln Märchen und Mythen die  Wirklichkeit im Patriarchat.

Wer nun erwartet, dass die Bibel ein ganz anderes Vaterbild zeichnet, sieht sich getäuscht, zumindest immer dann, wenn es um die Beziehung zur Tochter geht. Im Alten Testament finden sich vielmehr die gleichen Muster, die auch in Mythos und Märchen anzutreffen sind.


Hildegunde Wöller

aus:
Vom Vater verwundet
Töchter der Bibel

(c) Kreuz Verlag
Stuttgart 1992


 

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