Alle Ausgaben / 2008 Artikel von Astrid Utpatel-Hartwig

Ich bin Prinzessin, du Frosch

Leseverhalten von Frauen

Von Astrid Utpatel-Hartwig


Was lesen Sie gerade? Wissen Sie oder ahnen Sie, warum Sie gerade dieses Buch jetzt lesen? Lässt sich überhaupt etwas dazu sagen, warum wir lesen, was wir lesen? Welche  Einflüsse machen sich geltend? Wodurch wurden wir in unseren Lesegewohnheiten geprägt?


Über das Leseverhalten von Kindern gibt es viel mehr Literatur, Studien,  Zeitungs- und Zeitschriftenartikel als über das Leseverhalten von Erwachsenen. Und speziell über Lesebedürfnisse ist noch weniger zu finden. Eine Umfrage der Europäischen Kommission unter dem Titel „Eurobarometer Kultur 2007“, die die „Stiftung Lesen“ auf ihrer Forschungsseite im Internet veröffentlicht hat, bezieht sich mehr auf die Fragen: „Wie oft und was lesen Sie?“ – weniger auf: „Warum lesen Sie?“ Drei interessante Ergebnisse dieser Studie möchte ich trotzdem hier anführen:
– Erwachsene lesen insgesamt weniger als vor 30 Jahren.
– Frauen kaufen und lesen mehr Bücher als Männer.
– Wer häufig im Internet surft, liest im Vergleich zu Menschen ohne Internetzugang und -nutzung auch häufiger Bücher.

Eine Freiburger Studie des Psychologischen Instituts von 2002 zu Lesestrategien erwachsener LeserInnen von Romanen(1) ist mehr ins Detail gegangen und hat herausgearbeitet, dass unser Leseverhalten zum großen Teil durch fünf Faktoren beeinflusst wird:

Geschlecht
– Frauen lesen häufiger als Männer.
– Frauen geben mehr Lesemotive an.
– Frauen nutzen Lektüre zur  Stimmungskontrolle.
– Frauen lesen stärker identifikatorisch als Männer.

Bildungsniveau und kulturelles Milieu
– Die Lesedauer nimmt mit dem  Bildungsniveau zu.
– Wer beruflich viel lesen muss, liest auch in der Freizeit häufiger und hat lesefreudige Freunde und Bekannte.

Alter
– Jüngere LeserInnen identifizieren sich mehr mit den HeldInnen der Bücher.
– Ältere LeserInnen nutzen das Gelesene mehr zur Auseinandersetzung mit den eigenen Problemen. Das Gelesene geht ihnen länger durch den Kopf.

Sozialisation
– Kinder aus lesefreundlichen Elternhäusern lesen auch als Erwachsene häufig und sind in der Lage, über die Lektüre zu kommunizieren.

Natürlich gibt es immer Ausnahmen von der Regel. Jede von uns wird junge Erwachsene kennen, die so gut wie gar nicht lesen, aber dennoch aus einem Elternhaus kommen, in dem viel und gern gelesen wurde. Und sicherlich wird es auch den ein oder anderen Mann geben, der gerne Beziehungsromane liest und sich stark mit dem männlichen Helden des Buches identifiziert.


Geist und Seele nähren

Doch kommen wir nun zu den ganz speziellen Lesebedürfnissen. Ich beziehe mich hier auf das Lesen von Belletristik. Das Rätsel, warum man ein Sachbuch liest, ist relativ leicht zu entschlüsseln und muss hier nicht näher betrachtet werden.

Die englische Autorin Pamela Brown (geb. 1928) sagt: „Es wird viel und ernsthaft über den Roman als solchen diskutiert. Tatsache ist, dass jeder Roman eine Antwort auf die uralte Bitte: ‚Erzähle uns eine Geschichte' ist.“(2)

Erzähl uns eine Geschichte! Als Kinder wollten wir uns mit dieser Aufforderung in eine andere Welt entführen lassen. Und auch für uns als Erwachsene ist das ein ganz starkes Motiv. Darüber hinaus hatte eine gute Geschichte, angefangen bei den Märchen und Mythen, immer auch mehr zu bieten: Lebenshilfe und Sinndeutung, Unterhaltung, Entspannung, Horizonterweiterung. In einer – natürlich nicht repräsentativen – Umfrage unter FreundInnen und Bekannten bekamen folgende Lesemotive die meisten Zuschläge: „Ich lese aus folgenden Gründen:
Wissenserwerb, Entspannung, Lust an Sprache, Teilnahme an anderen Welten und Zeiten (im Gegensatz zu „Flucht in andere Welten“), geistige und seelische Nahrung.“ Für niemanden war der letzte Punkt in irgendeiner Weise befremdlich. Das bedeutet doch, dass Lesestoff ein Lebensmittel ist, oft auch lebensnotwendig. Da kommt mir unwillkürlich die Frage in den Sinn: „Was würdest du tun, wenn du nicht lesen könntest?“ Sicher ist sie für die meisten von uns eine spekulative Frage, die uns aber den Wert des Lesen- Könnens und -Dürfens vor Augen führt.


Schätze sammeln

Der ursprüngliche Begriff „lesen“ bedeutete in germanischen Sprachen „einzeln einsammeln“. In einigen deutschen Wörtern ist diese ursprüngliche Bedeutung noch aktuell: „auflesen“, „Auslese“, „handverlesen“, „erlesen“, „Weinlese“. „Die heutige Bedeutung des Wortes bildete sich zwischen dem 2. und 7. Jahrhundert heraus und meint: ‚sorgfältiges Aufsammeln von Zeichen'. Wegen der weitgehenden Bedeutungsgleichheit des lateinischen ‚legere' (aufsammeln, lesen) gilt die Hauptbedeutung als Lehnbedeutung aus dem Lateinischen.“(3)

Auch dieser kleine Exkurs in die Etymologie, die Wissenschaft von der Entstehung und Bedeutung von Wörtern, führt uns auf eine Spur zu unseren Lesebedürfnissen. Mit jedem Buch, das wir lesen, wollen wir etwas „aufsammeln“, uns aneignen, in uns aufnehmen. Wir nehmen ein Buch zur Hand, um einen Gewinn daraus zu ziehen. Walt Disney, der nicht nur Mickey Mouse erfunden hat, sondern sich anscheinend auch mit Büchern auskannte, schrieb einmal: „Bücher bergen mehr Schätze als jede Piratenbeute auf einer Schatzinsel. … und das Beste daran ist, dass man diese Reichtümer an jedem Tag im Leben aufs Neue genießen kann.“(4)

Wie diese Schätze gehoben werden, ist bei uns allen verschieden. Einige Unterschiede gibt es, wie oben schon einmal angeführt, zwischen Männern und Frauen: Frauen lesen (meist) anders als Männer und aus anderen Gründen als Männer. Besonders das so genannte identifikatorische Lesen ist Frauen eigen. In Büchern suchen wir Frauenfiguren, in denen wir uns selbst wiederfinden. Sie vermitteln uns das Gefühl, nicht allein auf der Welt zu sein mit unseren Eigenheiten, Problemen, Stimmungen. Das „vertiefte“ Lesen – also ganz in der Geschichte aufgehen, am Geschehen beteiligt sein, die Gefühle der Heldin mitempfinden – zeichnet häufig lesende Frauen aus; Männer können sich eher in Sachliteratur verlieren. Ein guter Roman ist meist eine Geschichte, in der wir  die Distanz zu den Figuren verlieren. Im günstigsten Fall stößt er Denkprozesse an, die uns in unserem realen Leben weiterhelfen.


Leben bewältigen

Die Wahl unserer Lektüre lässt – natürlich – häufig einen Rückschluss auf die eigenen Lebensthemen zu. Unwillkürlich greifen wir immer wieder zu Büchern mit demselben Thema oder Grundmotiv. Wer oft Familiengeschichten liest, für die ist die eigene Familiengeschichte ein Thema, das bedacht werden will. Wer häufig Bücher zum Thema „Heimat“, „Heimatlosigkeit“, „Exil“, „Vertreibung“ liest, deren Wunsch ist es, sich mit dem eigenen Heimatbegriff auseinander zu setzen.

Romane, die uns stark berühren, uns noch lange im Kopf herumgehen oder über die wir unbedingt sprechen wollen, sind nicht einfach nur „tolle“ Bücher, sondern sie haben stark mit unserem eigenen Leben zu tun. Das gilt übrigens für jedes Buch, egal, ob es als „gutes“ Buch gilt oder nicht. Erstens ist das eine sehr relative Bewertung. Zweitens kann auch ein sprachlich nicht so geschliffenes Deutsch oder thematisch nicht voll ausgelotetes Buch oder auch ein nach literaturkritischen Aspekten „schlechtes“ Buch mich mitten ins Herz treffen.

Weil unsere Lesebedürfnisse vielfältig und individuell ganz verschieden sind, braucht jede/r ein anderes Buch. Wenn wir dennoch im Gespräch über Bücher Gemeinsamkeiten finden, ist das eine große Freude und eine Chance, eine andere Sichtweise auf das „eigene“ Buch zu gewinnen. Denn ein Buch kann sicher verschiedene Lesebedürfnisse stillen und ganz verschiedene Menschen glücklich machen.


Für die Arbeit in der Gruppe:

Ziel

Die Frauen erkunden ihren eigenen Lesestil, ihre Gewohnheiten und Vorlieben, ihre Lesesozialisation und die Bedeutung, die das Lesen für sie hat.Im Gespräch in kleiner Gruppe kann ein Blick von außen auf die eigene „Lesenatur“ eingeholt werden. Im Austausch über Gemeinsamkeiten und Unterschiede entstehen eventuell Lese-Gemeinschaften.

Zeit:

1 1/2 – 2 Stunden

Material

-Bilder von Lesenden
– CD-Player und ruhige Musik
– Leseprofil-Bögen: Kopiervorlage S. 55f (für AbonnentInnen unter www.ahzw.de / Service zum  Herunterladen vorbereitet)
– Vorrichtung zum Aufhängen der Leseprofile (z.B. Wäscheleine und Klammern)
– evtl. Polaroidkamera und Requisiten

Ablauf

1 Einführung der Leiterin zum Thema „Lesen“ mit dem Hinweis auf die  ausliegenden Bilder von Lesenden. Die Frauen werden aufgefordert, sich ein für sie passendes oder sie ansprechendes Bild auszusuchen. Reihum erzählt jede Frau kurz, warum gerade dieses Bild sie gereizt hat.

2 Die Leiterin führt die Frauen mit einigen Worten auf die Erstellung der Leseprofile in Schritt (3) hin. Eventuell so: Lesen gehört für viele / die meisten von uns zu unserem Alltag. Was, wie und wie viel wir lesen, lässt einiges von unserer Persönlichkeit erkennen. Ist Ihnen bewusst, warum Sie lesen? Welche verschiedenen Gründe und Einflüsse Sie zum Buch greifen lassen? Um über uns selbst, aber auch über die anderen Frauen in der Gruppe davon etwas zu erfahren, schlage ich vor, dass jede von uns ein „Leseprofil“ von sich erstellt.

3 Die Leiterin teilt die Fragebögen zum „Leseprofil“ aus. Die Frauen haben ca. 30 Minuten Zeit zum Ausfüllen der Bögen (Zutreffendes ankreuzen oder unterstreichen). Wenn die Frauen es mögen, lassen sie leise Musik dazu laufen.

4 Je nach Größe der Gruppe Bildung von 3er-, höchstens 4er-Gruppen. Die Leseprofile jeder einzelnen werden zusammen angeschaut. Gemeinsamkeiten und Unterschiede führen zum Gespräch. Es kann nachgefragt, kommentiert, auf Besonderheiten hingewiesen werden. Für jede Frau sollten ca. 5 Minuten eingeplant  werden.

5 Die Frauen kommen wieder in der großen Runde zusammen; die Leseprofile werden aufgehängt oder ausgelegt. Ohne die Gespräche in den Kleingruppen wiederzugeben, können kurze Statements abgegeben werden zum eigenen Empfinden beim Verfassen des Leseprofils und dem anschließenden Gespräch.
Die Leiterin kann Impulse zum „Weiterlesen“ geben, z.B. durch
– Bildung eines Lesekreises
– das Aufnehmen einer Buchvorstellung ins Programm
– Verabredung von Bücheraustausch unter den Frauen
– gemeinsamen Besuch eines Bücherflohmarktes
– Organisation eines eigenen  Bücherflohmarktes

6 Als heiterer Abschluss des Abends oder Nachmittags könnten mit einer Polaroidkamera Lesefotos gemacht werden. Dazu sind natürlich Bücher und vielleicht einige andere Requisiten notwendig. Jede kann sich ihrem Lesestil entsprechend fotografieren lassen.


Astrid Utpatel-Hartwig, 40 Jahre, ist ausgebildete  Bibliothekarin, freie Mitarbeiterin im Frauenwerk in Mecklenburg-Vorpommern und ausgesprochene  Vielleserin.


Anmerkungen

1 „Ergebnisse der Freiburger Telefonumfrage zu  Lesestrategien erwachsener Leserinnen und Leser von Romanen“, Psychologisches Institut der Universität Freiburg, 2002
2 aus: Liebhaberbüchlein für Bücherfreunde, hg. von Helen Exley, Exley 1991
3 aus: Wikipedia, Freie Enzyklopädie im Internet
4 wie Anm. 2


Arbeitsmaterial: Leseprofil

Lesen im Elternhaus
Wie viel hat meine Mutter gelesen?                               * eher viel * eher wenig
Wie viel hat mein Vater gelesen?                                   * eher viel * eher wenig
Wurde über gelesene Bücher gesprochen?                     * Ja           * Nein
Wurde mir vorgelesen?                                                  * Ja           * Nein

Lesen in früheren Zeiten
Habe ich als Kind                                                 * viel gelesen      * wenig gelesen
Was habe ich vor allem gelesen?
Märchen, Sagen, Comics, kleine Geschichten, Romane für Kinder (Astrid Lindgren, Erich Kästner …), Fortsetzungsbücher (Hanni und Nanni …)

Habe ich als Jugendliche                                     * viel gelesen       * wenig gelesen
Was habe ich vor allem gelesen? Liebesromane, schwierige Literatur, Lyrik, Sachbücher, ALLES …

Habe ich als junge Frau (bis zum Beginn der
ersten Arbeitsstelle oder bis zum 1. Kind):          * viel gelesen * wenig gelesen
Was habe ich vor allem gelesen? Zeitschriften, Romane, Sachbücher, politische Literatur …


Lesen heute
Wie viele Bücher lese ich schätzungsweise im Jahr? _______

Warum lese ich?
* Weil das Thema zum Denken anregt.
* Um etwas über die Menschen zu erfahren.
* Weil ich Spaß am Schreibstil des Autors/der Autorin habe.
* Um in eine andere Welt entführt zu werden.
* Um abzuschalten.
* Um etwas für die Allgemeinbildung zu tun.
* Um mit anderen darüber sprechen zu können.
* Andere Gründe:

Wie wähle ich meine Literatur aus?
* Tipps von FreundInnen oder Familienangehörigen
* Entdeckungen beim Schmökern bzw. Lesen von Klappentexten
* Geschenk oder Leihgabe
* neues Buch einer von mir geschätzten Autorin
* Tipps der Buchhändlerin, der Bibliothekarin
* aus Verlagsprogrammen
* Bestsellerliste, Buchbesprechung, literarische Fernsehsendung, Lesungen
* andere Quellen:

Wie lese ich?
* Beim Lesen streiche ich bestimmte Textstellen an.
* Ich schreibe Kommentare ins Buch.
* Ich blättere beim Lesen voraus.
* Ich lese vorzeitig das Ende des Romans.
* Ich lese mehrere Romane gleichzeitig.
* Bestimmte Textstellen lese ich mehrmals.
* Ich verschaffe mir zusätzliche Informationen zu dem Buch.
* andere Charakteristika:

Kann ich folgenden Behauptungen zustimmen?
Durch das Lesen werde ich von meinen eigenen
Problemen abgelenkt.                                                               * ja        * nein

Durch das Lesen kann ich mich besser mit meinen
eigenen Problemen auseinandersetzen.                                    * ja        * nein

Ich habe während des Lesens das Gefühl, dass ich
selbst am Geschehen teilnehme.                                               * ja        * nein

Ich entdecke an den Figuren im Roman meine
eigenen Eigenschaften oder Einstellungen wieder.                    * ja        * nein

Ich empfinde die Gefühle der Romanfiguren mit.                      * ja         * nein

Das, was ich gelesen habe, geht mir später noch
lange durch den Kopf.                                                               * ja          * nein

Und die letzten zwei Fragen:
Mein/e Lieblingsschriftsteller/in: _____________________________________________
Mein Lieblingsbuch: _______________________________________________________

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