Alle Ausgaben / 2008 Artikel von Sevda Demir und Gisela Egler

Raum für Möglichkeiten

Mit der Jahreslosung 2009 arbeiten

Von Sevda Demir und Gisela Egler


Hinweis für die Leiterin: Die folgende Arbeitseinheit lädt zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Jahreslosung anhand der Jahreslosungskarte „Raum der Möglichkeiten“ der Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD) ein. Bezug der Karte über Geschäftsstelle der EFiD; Adresse: siehe Impressum S. 83


Liebe Sevda,
vor mir liegt eine Postkarte mit der  Jahreslosung für 2009: „Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.“ Die Jahreslosung ist ein Bibelwort, das uns das ganze Jahr begleitet. Das Bildmotiv wurde ausgesucht von einer Gruppe der Evangelischen Frauen in Deutschland. Mit Dir zusammen möchte ich dieses Bild betrachten, mit Dir gemeinsam diese Jahreslosung tiefer verstehen. Damit Du Einblick in den Zusammenhang des Spruches bekommst, einiges zu der Geschichte, die dazu gehört.

Die Jahreslosung ist das Ende eines Gesprächs zwischen Jesus und einem reichen Oberen. (Lk 18,18-27) Der gilt als ein Inbegriff der Frömmigkeit, der die Gebote seit seiner Jugend hält und von den anderen Gläubigen geachtet wird. Und doch ist er unsicher, ob er alles richtig macht, und vertraut sich Jesus an: „Guter Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ Jesus klärt zunächst die gemeinsame Basis des Glaubens, der sie verbindet. Sie teilen Werte und Orientierung. Sie sprechen von gleich zu gleich auf Augenhöhe: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott.“ Und stellt dann fest: „Du kennst die Gebote.“ Der Obere antwortet: „Das habe ich alles gehalten von Jugend auf.“ Und Jesus sagt: „Nur eines fehlt noch: verkaufe alles und gib es den Armen. Dann wirst Du einen Schatz im Himmel haben. Komm und folge mir nach.“

Diese Antwort hat der Obere nicht erwartet. Sie macht ihn traurig, „denn er war sehr reich“. Jesus spürt diese Traurigkeit, er nimmt sie ernst. Er bleibt in der Beziehung zum Oberen und sagt: „Wie schwer ist es doch für Reiche, ins Reich Gottes zu kommen.“ Die anderen, die dem Gespräch zugehört haben, erschrecken: „Wer kann dann selig werden?“ Wenn nicht einmal dieser Obere selig werden kann, wie dann sie?

Klar benennt Jesus die Trennpunkte: erstens der materielle Reichtum, der die Zukunft sichern soll und als solcher sehr viel Energie des Kümmerns bindet; zweitens das Halten der Gebote als Wunsch, alles richtig zu machen, und dabei am Ende wie eingeschlossen in einem Raum zu sein und quasi um sich selbst zu kreisen. Dabei sollen die Gebote, zuweilen auch „Hausordnung der Freiheit“(1)  genannt, doch gerade Beziehungen stiften und fördern! Jesus geht es um die Beziehung zwischen den Menschen und Gott. Er will, dass sich die Menschen von all den Kräften befreien, die „grausam, gewalttätig, apathisch oder gleichgültig sind gegenüber dem, was Menschen und Geschöpfe brauchen, um leben, wachsen und gedeihen zu können.“(2) Das ist die Befreiung bzw. das Ererben des ewigen Lebens, das Reich Gottes. Es fängt schon hier und heute an – und ist eine Zeit des „ganz und gar lebendigen Lebens“(3).

Gott findet eine Möglichkeit, wo Traurigkeit und Erschrecken über not-wendendes Loslassen den Blick trüben und den Weg zum Reich Gottes versperren. „Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.“ Ist die Beziehung zwischen Jesus und dem Oberen schon beendet?

Liebe Sevda, Ich schicke Dir diese Karte. Das Bild eröffnet bestimmt weitere  Verstehenshorizonte zu Möglichkeit, Unmöglichkeit und Beziehung!

Deine mit Dir in Beziehung bleibende
Gisela

Liebe Gisela,
und wieder betrachten wir gemeinsam ein Bild. Vor mir liegt die Postkarte! Diese Postkarte soll also das ganze Jahr der „Behälter“ für das Bibelwort sein? Ich meine, diese Postkarte soll das ganze Jahr für die Menschen das Bibelwort tragen. Es ist etwas sehr Ernsthaftes. Ich schaue mir die Postkarte an, noch einmal, der Ernsthaftigkeit halber – und noch einmal, Dir zuliebe. Ich denke: Ich gehöre wohl nicht zur Zielgruppe dieser Postkarte. Ich verstehe nicht, was sie zu sagen hat. Ich verstehe nichts!

Aber die Karte hat eine meiner emotionalen Tasten berührt, mir wird es kühl, eng, traurig. Warum? Um meine Gefühle zu sortieren, bleibe ich erst auf der  bildlichen Ebene und frage, was zu sehen ist. Ein enger Raum. Türkis-blau gestrichene Wände, teilweise abgebröckelte Farbe. Auf dem Boden liegender Schmutz. Heizkörper, Heizungsrohre. Hell scheint es von draußen hinein. Draußen – ein grüner Baum, blauer Himmel. Die Fenster – unten Milchglas. Weder kann so von außen gut hineingeschaut noch von innen hinausgeschaut werden. Die oberen Fenster sind klar – schaffen Durchblick – lassen das Grüne, das Blaue, das Licht hinein – erhellen den ganzen Raum. Das Bibelwort steht an den Wänden geschrieben.

Liebe Gisela, ich habe alles aufgezählt, was auf der Postkarte zu sehen ist, aber ich bin trotzdem nicht weiser geworden. Das Unbehagen, das dieser Raum in mir ausgelöst hat,  bohrt mich weiter durch. Nicht, dass ich diese Gefühle loswerden will – mich stört, dass ich den Beweggrund solcher Gefühle nicht verstehe. Um weiter zu kommen, frage ich: Was habe ich im ersten Moment auf der Postkarte wahrgenommen? Einen mit Worten Gottes abgebildeten Raum. Das aus dem biblischen Zusammenhang herausgerissene Wort, das Wort Gottes befindet sich jetzt in einem anderem Kontext, in dem  Kontext dieses Raums. Ich meine, das Wort Gottes befindet sich in einem leeren, schmutzigen, verwahrlosten, verlassenen Raum. Das stößt an meine Vorstellung von der  Verehrung des  Wortes Gottes und macht mich traurig.

Wie Du weißt, sind für Musliminnen und Muslime Worte Gottes, sehr kostbar. Deshalb sollte der Koran nur mit  sauberen Händen angefasst werden, im Raum steht er im obersten Fach des Bücherregals – alles praktische Umsetzung dieser Verehrung. Für mich ist es immer noch befremdlich, wenn ich Christinnen sehe, die die Bibel – Wort Gottes – auf den Boden legen, also  quasi in den Schmutz tun. Also gib mir bitte einen Besen, Wasser und Putzlumpen. Ich gehe den „Raum für Möglichkeiten“ putzen!

Deine Sevda


Liebe Sevda,
eine wunderbare Idee, diesen Raum zu putzen – lass uns das gemeinsam machen! Wie würde der Raum dann wirken? Wie die Worte an den Wänden?

Wort Gottes – danke, dass Du mich an Deiner Traurigkeit hast teilnehmen lassen. Für Christinnen und Christen ist Jesus Christus das lebendige Wort Gottes. Ich denke, dass daher auch der manchmal „nachlässige“ Umgang mit dem Buch Bibel kommt – zumindest in Teilen der westlich-christlichen Tradition.

An der Wand nun Worte, die Jesus gesprochen hat, und die uns mehr über das sagen, was möglich bei Gott und unmöglich bei den Menschen ist. Möglichkeit – Unmöglichkeit … Wenn wir den Raum gemeinsam saubermachen, wird er für Dich ein „Raum für Möglichkeiten“?

In unmöglich möglicher Nähe, Gisela

Liebste Gisela,
genau diese Frage wollte ich mir  erlauben. Aber ein Grabmal bleibt ein Grabmal, auch wenn es auch gesäubert ist! Ich sehe jetzt Deine „Wie-kommst-du-darauf-Augen“! Ich bin eigentlich zu spät darauf gekommen. Alles ist da: ein kühler Hauch an meinem Nacken, die Leere, der friedhöfliche Baum von Licht, Farbe jenseits der Fensterscheibe und Wort Gottes wie auf den Gräbern. Symbolisiert dieser Raum vielleicht genau das: in einem Raum eingeschlossen sein und um sich selbst kreisen – Folge des Versuchs, den Reichtum festhalten und alles richtig machen zu wollen? Wie  vertraut mir doch eine solche Art von Raum ist!

Solange ich eine Betrachterin dieses Raums bleibe, habe ich das Gefühl, vor einem Grabmal zu stehen, der mich an meinen Tod erinnert. Wenn er aber kein Grabmal, sondern ein „Raum für Möglichkeiten“ werden soll, gilt es, diesen Raum nicht mehr als etwas anzusehen, was immer so bleiben muss. Mit dem Saubermachen ist ja schon der erste Schritt getan.

Fest steht: Dieser Raum hat alles, was Menschen brauchen. Menschen brauchen Räume als Grenzen, die ihnen Nähe und Distanz ermöglichen, um sich selbst als Ich zu erkennen und ständig neu zu definieren. Gleichzeitig können sie Räume auch verändern – aber nur, wenn Menschen im Raum sind, die ein und aus gehen. „Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.“ Diese Worte bilden die entscheidende Koordinate im Raum. Freilich sehen Worte Gottes in den  leeren, menschenleeren Räumen architektonisch gewaltig, großartig aus – aber sie wirken nicht. Wirkungsräume für Worte Gottes sind Menschen selbst. Denn Jesus antwortet ja dem Oberen, nicht einem menschenleeren Raum. Indem er mit dem Oberen spricht, gibt er ihm die Möglichkeit, einen neuen Anfang zu setzen. Er lässt ihm den Raum, sich  seiner Verantwortlichkeit für die Welt bewusster zu werden und handelnd und sprechend neu mitzumischen.

Deine Sevda


Meine Liebe,
dieser Raum ist für mich durch unser Hinsehen ein Sinnbild der Beziehungslosigkeit geworden. In diese Beziehungslosigkeit hinein leuchten die Worte Jesu. Wir brauchten lange, um das wirklich zu sehen. Wir erlaubten uns, das Fenster zu öffnen, die Welt außerhalb des Raumes mit dem Raum in Beziehung zu setzen. Wir fingen an, ihn uns zu eigen zu machen, und machten – typisch Frau? – erst einmal sauber.

Jesus sieht die Traurigkeit des Oberen und eröffnet einen Beziehungs-weg. Deshalb genau hinsehen und Fenster und Türen auf, denn: Was Menschen unmöglich scheint, ist für Gott möglich. Und so eröffnen sich neue Möglichkeiten für Menschen mit Gott!

Glücklich über diesen Beziehungs-weg,
Deine Gisela


Für die Arbeit in der Gruppe

Material:

– Gesangbücher; Jahreslosungskarte für jede (im Briefumschlag); Stifte
– 2 große Plakate: auf dem einen steht „möglich für Gott“, auf dem anderen „unmöglich für Menschen“
– 2 große Plakate: auf dem einen steht „zuerst“, auf dem anderen „jetzt“


Ablauf:

Brainstorming zur Jahreslosung
Welche Gedanken kommen mir, wenn ich diesen Spruch höre? Die Leiterin bittet die Frauen, ihre ersten Eindrücke zu sagen. Wo es weiterführt, bringt sie Informationen aus dem Beitrag oben ein.

Stummes Gespräch
Die Frauen schreiben Assoziationen auf die Plakate mit den Worten „unmöglich für Menschen“ und „möglich für Gott“. Das Gespräch findet schreibend statt.

Erste Begegnung mit dem Bild
Bevor die Briefumschläge verteilt werden, sagt die Leiterin: „Die Jahreslosung ist wie ein Brief, den wir geschickt bekommen. Wir kennen jetzt schon den Absender, wissen schon einiges vom Inhalt. Wir lesen die Jahreslosung nun mit Bild und Wort.“ Wenn alle ihren Briefumschlag haben, kann jede Frau ihn öffnen und in Ruhe anschauen.

Einladung zum achtsamen Sehen
Erster Schritt: „Bitte schauen Sie sich das Bild in Ruhe an. Danach schließen Sie Ihre Augen für einen Augenblick, und merken Sie sich den ersten  Eindruck von diesem Bild.“

Zweiter Schritt: „Nun beschreiben Sie, was Sie sehen – so, als würden Sie einer Blinden das Bild sichtbar machen. Benennen Sie dabei alles, was Sie auf dem Bild sehen, auch die Farben. Jede, die mag, sagt, was sie sieht. Für Bewertungen, Urteile und Gefühle haben wir später genügt Zeit. Jetzt geht es nur um das einfache Beschreiben.“
Je mehr Raum diesem Schritt gegeben und je differenzierter versucht wird zu beschreiben – ohne Wertungen (schön, hässlich…) – desto breiter ist die  Grundlage für die nächsten Schritte.

Dritter Schritt: „Beschreiben Sie, wie das Bild auf Sie wirkt: Wo werden Sie angezogen, wo eher abgestoßen? Wo weitet sich das Bild, wo öffnet es sich? Wo wird es enger, abgeschlossener? Ist es laut oder leise? Ernst, gar traurig oder fröhlich? Wie wirkt das Bild auf Sie?“

Vierter Schritt: „Wie sehen Sie das Bild jetzt? Erinnern Sie sich an Ihren ersten Eindruck. Wie stehen diese beiden Wahrnehmungen in Beziehung?“
Die Leiterin schreibt die Wahrnehmungen auf große Plakate, die mit „zuerst“ und „jetzt“ beschriftet sind.


Die Schritte, die wir für die Arbeitshilfe bearbeitet haben, verdanken wir unveröffentlichten Ausführungen von Claudia Grah-Wittich, Frankfurt am Main.

Lied: Vertraut den neuen Wegen ?(EG 395)


Dr. Sevda Demir, Jg. 1964, hat Philosophie,  Pädagogik, Soziologie und Orientalistik studiert und arbeitet zurzeit in der Jugendbildung.

Gisela Egler, Jg. 1960, hat ev. Theologie und Islamwissenschaft studiert. Sie ist Mitglied im Redaktionsbeirat ahzw.


Anmerkungen:

1 Luise Metzler: Nicht töten! Bibelarbeit zum Dekalog Exodus 20,1-17, in: ahzw 4-2007, S. 7
2 Carter Heyward: Jesus neu entwerfen – Die Macht der Liebe und Gerechtigkeit, Exodus 2006, S. 159
3 Jürgen Ebach: „olam (hebr.), aion (griech.) – lange Zeit, für immer, Weltzeit, Ewigkeit“, in: Bibel in gerechter Sprache, S. 2372

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