Alle Ausgaben / 2015 Andacht von Mechthild v. Luxburg

Lasst euch nicht trösten!

Adventsandacht mit Wut im Bauch

Von Mechthild v. Luxburg

Die Frauen sitzen im Kreis, in der Mitte liegen vier Bilder und Geschichten von Kindern in Notsituationen. Vor jedem Bild brennt eine Kerze. An jedem Platz steht ein Teelicht mit einer Nummer (1-4) für die spätere Gruppenbildung. – Die Bilder und Geschichten können unter www.ahzw-online.de heruntergeladen werden.

„Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten.“ Bei manchen, die den Text der Jahreslosung für 2016 zum ersten Mal hören, regt sich Widerstand. Sicher gibt es viele Lebenssituationen, in denen Trost eine große Hilfe ist, um einen Schmerz auszuhalten. Aber es gibt auch Schmerzen, die nicht mit Trost zugedeckt werden wollen, sondern die Empörung wecken und zum Handeln auffordern. Die weit offene Schere zwischen arm und reich, bittere Ungerechtigkeit, Gewalt sind solche Themen, an die wir uns nicht gewöhnen und über die wir uns nicht trösten lassen wollen.

Eine Verbündete für diese Haltung finden wir in Rahel, einer der Erzmütter Israels. Mit ihr wollen wir einen Blick auf die Geschehnisse werfen, die sich in den Erzählungen der Bibel nach der Geburt Jesu in Judäa ereigneten. Im Evangelium des Matthäus finden wir dazu die folgende Textstelle: „Da wurde erfüllt, was vom Propheten Jeremia gesagt worden war: Eine Stimme ist in Rama gehört worden, Weinen und großes Klagen. Rahel weinte um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, weil sie nicht mehr lebten.“ (Mt 2,17f) Die Worte stehen im Zusammenhang mit dem Kindermord des Herodes, der seine Herrschaft durch die Weissagung der Weisen aus dem Morgenland bedroht sah. Die hatten dem König die Geburt eines „neuen Königs“ angekündigt – mit der Folge, dass Herodes alle Kinder bis zum Alter von zwei Jahren töten ließ. Das Evangelium greift hier auf die Worte des Propheten Jeremia (Jer 31,5) zurück, der sie wahrscheinlich in der Zeit der Rückkehr aus der Verbannung zum Volk Israel spricht. In Rama, nahe bei Bethlehem, an dem Ort, wo Rahel begraben ist, lässt Jeremia sie die unmenschlichen Lebensbedingungen beklagen, unter denen ihre Kinder – gemeint ist das Volk Israel – zu leiden haben. Es ist eine trost­lose Zeit. Wir können uns vorstellen, welchem Schicksal das Volk damals in der Wüste ausgesetzt war: schutzlos, ohne feste Unterkunft, ohne ein sichtbares Ziel vor Augen. Der Hitze ausgeliefert, litten die Menschen Durst, der Hunger war ein täglicher Begleiter. Sie wussten nicht, wie sie den nächsten Tag überstehen, geschweige denn ihre Kinder ernähren sollten.

Auch die Zeit der Geburt Jesu war eine schlimme Zeit. Die meisten Menschen waren bitter arm, Sorgen und Mangel, Willkür und Ungerechtigkeit prägten ihr Leben. Auch Maria auf ihrem Weg nach Bethlehem war davon betroffen. Können wir uns vorstellen, wie ihr zumute war: kurz vor ihrer Niederkunft, ohne Dach über dem Kopf, wahrscheinlich hungrig? Wie muss es wohl sein, in einer solchen Situation ein Kind zu gebären?

Welches Leben wird mein Kind haben? Das fragen sich auch heute die Mütter dieser Welt, wenn sie ihr Neugeborenes in den Armen halten. Auch in unserer unmittelbaren Nähe wachsen viele Kinder in Armut auf, müssen Ausgrenzung und Einschränkungen, oft auch Gewalt erfahren. So lebte im vergangenen Jahr jedes zehnte Kind in Deutschland in relativer Armut, 4.200 Kinder wurden Opfer von Misshandlungen. Wenn wir an diese Kinder denken, dann wollen wir uns nicht trösten lassen, dann sind wir einfach nur empört. Noch viel schlimmer ist das Schicksal vieler Kinder in anderen Teilen der Welt. Spielen, Toben, Lernen, einfach Kind sein dürfen – für Millionen Kinder ein ferner Traum. In erster Linie geht es für sie ums nackte Überleben. Alle drei Sekunden stirbt ein Kind, das sind am Tag etwa 30.000 Kinder. Gestern, heute, morgen. 162 Millionen Kleinkinder sind chronisch unterernährt. Mehr als 1,2 Millionen Buben und Mädchen werden jährlich als Sklaven, Bettlerinnen oder Prostituierte verkauft. Im Fernsehen wird fast täglich über die Folgen von Hunger, Armut und Gewalt in der Welt berichtet. Wir haben uns daran gewöhnt. Und es hat nichts mit unserer eigenen Lebenswelt zu tun.  – Wollen wir wegschauen, um uns selbst zu schützen? Nein!

Eine Frau nimmt das Blatt mit der Ge­schichte von Augustin und liest vor:

Ich will mich berühren lassen von Augustin aus Ruanda.
Die Miliz tötete Augustins Eltern vor ­seinen Augen. Dann verschleppten sie den Sechsjährigen. Nur ein Jahr später schickten sie ihn an die Front – für 16 Jahre. Er wurde zur Killermaschine ausgebildet an leichten Maschinengewehren, hergestellt auch in Deutschland. „Wir Kinder“, sagt er, „sind an die Front geschickt worden, um zu kämpfen. Im Krieg ist es ­normal zu töten. Wenn du das nicht machst, wirst du getötet. Ich hatte ständig Angst vor den Anführen und vor den Angriffen der Gegner. Das Gewehr war mein Elternersatz, denn es konnte mich beschützen und ernähren.“

Wollen wir uns trösten lassen über das Schicksal von Augustin? Nein, es empört uns! In mindestens 20 Kriegen und bewaffneten Konflikten werden ­gegenwärtig Kinder als Soldaten ein­gesetzt. Auch die deutsche Rüstungs­industrie exportiert Waffen in Krisen­gebiete, wo sie dann oft von „Milizen“ erbeutet werden.
Die Vorleserin legt die Geschichte zurück und bläst die Kerze aus, die davor brennt.

– Eine andere nimmt das Blatt mit der Geschichte von Jolanka und liest vor:

Ich will mich berühren lassen von Jolanka aus Tschechien.
„Das Schlimmste in meinem Leben habe ich hinter mir“, sagt die 15-jährige Jolanka. „Ich erzähle alles.“ Aber im Interview wird das schlanke Roma-Mädchen dann einsilbig. Sie wohne jetzt bei Verwandten, besuche die Grundschule und gehe nachmittags mit ihrem Freund im Park spazieren. Auf den ersten Blick ein ganz normales Leben in einer tschechischen Kleinstadt. Nur zögerlich erzählt Jolanka weiter: von Deutschen, die Kindern aus dem Auto heraus Bonbons anbieten, von Freundinnen, die zur Prostitution gezwungen werden, von Männern, die auf Babys stehen. Jolankas Mutter hat das Mädchen schon als Dreijährige geschminkt und Männern am Autofenster angeboten. Darüber reden will das Mädchen nicht.

Wollen wir uns trösten lassen über das Schicksal von Jolanka? Nein, es empört uns! – Inzwischen sind es nicht mehr Kinderhemdchen im Fenster, die den billigen Sex mit Kindern anpreisen. Bequem und ungefährlich bekommen die Täter heute einen Termin per Internet oder Mobiltelefon. Innerhalb von fünf Minuten kann einer hier immer noch ein zwölfjähriges Mädchen neben sich auf dem Beifahrersitz haben.
Die Vorleserin legt die Geschichte zurück und bläst die Kerze aus.

– Eine andere nimmt das Blatt mit der Geschichte von Doaa und liest vor:

Ich will mich berühren lassen von Doaa aus Syrien.
Bevor der Bürgerkrieg in Syrien sie zur Flucht zwang, war die 19-jährige Doaa eine ehrgeizige Schülerin. Um nach ­Europa in Sicherheit zu kommen, vertraute sie sich Schleppern an. Die zwängten sie auf ein bereits überfülltes Fischerboot. Nach drei Tagen auf dem Meer kenterte das Boot und sank innerhalb von Minuten. Doaa, die nicht schwimmen kann, erwischte einen Rettungsring. Um sie herum trieben Leichen. In der folgenden Nacht verließen viele Überlebende die Kräfte. Doaa musste zuschauen, wie Männer ihre Rettungswesten abnahmen und ertranken. Die Mutter der 18 Monate alten Masa gab Doaa das Kind, als ihre Kräfte schwanden. Masa weinte, hatte Hunger und Durst. Doaa hielt sie und sang ihr Lieder vor. Drei Tage und Nächte lang. Am vierten Tag wurden sie von einem Handelsschiff gerettet. Auch Masa überlebte.

Wollen wir uns trösten lassen über das Schicksal von Doaa? Nein, es empört uns! – Vielleicht kommt Doaa in ein Aufnahmelager für Flüchtlinge in Deutsch­land. Was wird sie da erleben?
Die Vorleserin legt die Geschichte zurück und bläst die Kerze aus.

– Eine andere nimmt das Blatt mit der Geschichte von Kamala und liest vor:

Ich will mich berühren lassen von Kamala aus Indien.
Schon mit sechs Jahren musste Kamala zum Unterhalt ihrer Familie beitragen. Ab fünf Uhr morgens knüpfte sie Tep­piche – oft bis spät abends. Bald waren ihre Hände von der Wolle zerschnitten und heilten nicht mehr, medizinische Versorgung gab es nicht. Kamala wusste nicht einmal, welchen Lohn sie für ihre Arbeit bekam, denn der wurde ihrer Mutter ausgehändigt. Erst mit neun Jahren wurde sie aus der Teppichfabrik befreit.

Wollen wir uns trösten lassen über das Schicksal von Kamala? Nein, es empört uns! Viele Kinder in Asien arbeiten immer noch in der Textilindustrie und fertigen Kleidung für den Export, auch nach Deutschland. Weltweit werden etwa 264 Millionen Kinder durch Kinderarbeit ausgebeutet.

Die Vorleserin legt die Geschichte zurück und bläst die Kerze aus.

Trost beschwichtigt, Empörung aber ist eine Kraft der Veränderung. An Gewalt, Not und Ungerechtigkeit wollen wir uns nicht gewöhnen. Das Schicksal dieser Kinder – deren Geschichten wir stellvertretend für alle gehört haben, denen ein menschenwürdiges Leben vorenthalten wird und deren Lebenschancen mit Füßen getreten werden – empört uns. Empörung ist kostbar, ist „heiliger Zorn“. Empörung fordert uns heraus, aktiv zu werden, uns zu engagieren. Uns zu überlegen, wie wir, wie Dorothee Sölle es gesagt hat, „am Mantel Gottes für diese Welt mitstricken“ können. Und seien es nur ein paar kleine Maschen.

Lied: Herr gib Du uns Augen, die den Nachbarn sehn. (EG Regionalteil Bayern Nr. 649)

Austausch in 4 Gruppen (zu den 4 Ge­schichten): Betrifft mich die Geschichte von Augustin (Jolanka, Doaa, Kamala)? Welche Möglichkeiten der Hilfe sehen wir? – Dann formuliert die Gruppe eine Fürbitte für „ihr“ Kind. Im Kreis werden die Fürbitten gesprochen; dabei werden die Kerzen nacheinander wieder angezündet.

Segen:

Möge Gott Dich segnen –
mit Zorn über Ungerechtigkeit, ­Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen auf dieser Erde, sodass Du Dich einsetzt für Gerechtigkeit, ­Gleichheit und Frieden.

Möge Gott Dich segnen –
mit Tränen, die Du vergießt für die,
die leiden, sodass du deine Hand
ausstreckst um sie zu trösten und ihren Schmerz in Freude zu verwandeln.

Möge Gott dich segnen –
mit dem närrischen Glauben, dass dein Tun einen Unterschied macht in der Welt, sodass du Dinge tust, von denen andere sagen, man kann sie nicht tun.

Die Frauen nehmen die Teelichter mit nach Hause – evtl. mit den Worten: Am nächsten Adventssonntag (Weihnachten) zünde ich meine Kerze an für …

Mechthild v. Luxburg, Jahrgang 1945, ist Diplom-Psychologin und hat im Diakonischen Werk Augsburg gearbeitet. Sie ist Mitglied im Kuratorium des Frauenwerks Stein, seit 2008 als Vorsitzende, und im Präsidium der EFiD.

Literatur
Stephàne Hessel: Empört Euch! Übersetzt von Michael Kogon, Berlin (Ullstein) 2011
Luzia Sutter Rehmann: Wut im Bauch. Hunger im Neuen Testament, Gütersloh 2014

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