Ausgabe 2 / 2016 Artikel von Susanne Krahe

Brauchen lernem

Zwischen Autonomie und Angewiesenheit leben

Von Susanne Krahe

„Jetzt kannst Du ja gar nicht mehr Auto fahren!“, entsetzte sich eine Bekannte kurz nach meiner Erblindung. Sie hatte natürlich Recht. Wenn es etwas gab, das ich definitiv nicht mehr schaffte, dann war es das Lenken eines fahrbaren Untersatzes.

Allerdings hatte ich seit zwei Wochen noch ein paar ganz andere Probleme. Meine Welt hatte sich nicht nur dem leuchtenden Grün und Rot von Verkehrs­ampeln entzogen, sondern sie stand auf dem Kopf. Wo waren Unten und Oben geblieben, wo steckten Vorwärts und Rückwärts, wo fing ich an, wo hörte ich auf? Meine Finger mühten sich minutenlang ab, den linken Schuh vom rechten zu unterscheiden. Tasten lernen. Fühlen lernen. Hautnähe suchen. Nur langsam besannen sich meine Hände auf die eingespielte Routine, mit der sie immer schon blind eine Schleife zustande gebracht hatten. Meine Nase atmete angestrengt unter den Zumutungen eines allgegenwärtigen Gestanks, meine Ohren schrien nach Lärmschutz. Wer dachte in diesem Chaos ans Autofahren? Die Reaktion meiner Bekannten konnte ich nicht mal belächeln. Sie signalisierte mir allzu deutlich, wie weit die Eisscholle, auf der ich mit meinen blinden Augen vereinsamte, schon vom Festland der sehfähigen Menschen fortgetrieben war. Erst meiner ältesten Schulfreundin gelang es zwei Tage später, mir ein Seil zuzuwerfen. Gemeinsam zogen wir meine Scholle und mich zur Küste zurück. „Darf ich dich zum Arzt fahren?“ bot sie mir an. „Können wir dein Auto nehmen?“

Autonom um jeden Preis?

Auto. Nicht zufällig ist das auch die ­Vorsilbe von „Autonomie“. Es geht um ­Regeln, Ziele und Richtungen, die ­Menschen selbst festsetzen. Kaum ein technisches Gerät symbolisierte in den 1990er Jahren so eindrücklich wie das „Automobil“ den selbst- ständigen, selbst- gesteuerten, selbst-bestimmten, selbst-verwirklichten, selbst-bewussten, selbst- beherrschten, selbst-kontrollierten, sich selbst entwerfenden, selbst-zentrierten Menschen. Der Führerschein galt als Meilenstein auf dem Weg zur erwachsenen Identität. Ihn zu verlieren, hinterließ Kratzer im Selbstbild, und wer ihn aus Altersgründen zurückgab, gab ein Stück seiner selbst auf. „Jetzt kannst du ja gar nicht mehr Auto fahren!“ Die Feststellung schob eine Blinde für immer auf den Beifahrersitz ihres eigenen Lebens.

Machen wir uns nichts vor: Niemand ist gern abhängig. Für manche Zeitgenossinnen wird die Vorstellung der Angewiesenheit – auf die eigenen Kinder oder Eltern, auf Pflegerinnen und Betreuer – nahezu zur Horrorvision. Unter der Bedingung des Autonomie-Verlustes will man sich lieber gleich selbst abschaffen. Wie viele Einheiten Insulin wirken todsicher tödlich? In manchen Nächten, die mein Organismus unter den unklaren Sichtverhältnissen noch nicht in seinen Schlaf-Wach-Rhythmus einordnen konn­te, strukturierte ich die Zeit damit, die Mindestdosis für eine Reise ins Jenseits auszurechnen. Es war ein Spiel, in dem ich selbst die Regeln bestimmte. Die Entscheidung zum Sterben lag in meiner eigenen geübten Hand. Sie brauchte keine Augen, um Einwegspritzen aufzuziehen. Eine Hautfalte zwischen Daumen und Zeigefinger, dann der stetige Druck auf den Kolben, aus eigener Kraft. Dass die allerletzte Entscheidung zum Repertoire meiner Wahlmöglichkeiten gehörte, gab mir ­exakt das winzige Stück Freiheit zurück, das ich zum Weiterleben brauchte.

Dennoch aufrecht gehen

Theologinnen werden nicht müde, darauf zu bestehen: An den Rändern des Lebens, dort, wo es in die Welt hinein und wieder heraus geht, sind wir zur Passivität verurteilt, zum Zulassen und Loslassen. Bei Geburt und Tod müssen wir anderen die Kontrolle übergeben. Angewiesenheit und Begrenzungen bestimmen also nicht nur das Leben von Menschen mit Behinderungen, sondern das Menschsein überhaupt. Jeder und jede lebt von Vorgaben, alle fahren andauernd Ernten ein, die sie nicht gesät haben. Wir erschaffen uns nicht, wir verdanken uns. Unser Menschsein beruht auf Beziehungen, heute auch „Netz­werke“ genannt. Doch ist das mehr als eine Binsenweisheit des Schöpfungsglaubens? Das Dumme ist nämlich, dass Herr und Frau Jedermensch sich die existenziellen Grundbedürfnisse ohne fremde Hilfe erfüllen können, während Menschen mit Behinderung getränkt, gefüttert, vielleicht sogar beatmet werden müssen, um zu überleben. Das Vorhandene, das allen Gegebene ist nicht allen gleich zugänglich. Alle sind von Vor­gaben abhängig, aber der Mensch mit eingeschränkter Kraft braucht jemanden, der ihm die Schnabeltasse anreicht. Was, wenn dieser Jemand gerade keine Lust auf Barmherzigkeit hat?

Dieses unbestreitbare Gefälle zwischen Mächtigen und Entmachteten muss diskutiert werden, wenn „unser aller Angewiesenheit“ sich konkret in Beziehungen entfaltet. Das Gefälle ist weder zu leugnen noch zu nivellieren. Aber das Verhältnis zwischen den mehr und den weniger Angewiesenen verlangt eine vernünftige Regelung, damit den objektiv Hilfsbedürftigen nicht ihr Subjektsein abhandenkommt. Ob jemand Person und Ebenbild Gottes ist, entscheidet sich weder an seiner Intelligenz noch an ihrer Qualifikation oder Posi­tion auf der Leiter gesellschaftlicher Akzeptanz. Es hängt allein von Gottes ­Anerkennung ab. Diese wird den Letzten ebenso zuteil wie den Ersten, den Heilen genauso wie den Unheilbaren, den Hilfesuchenden wie den HelferInnen. Wer das glaubt, kann aufrecht durch die Welt gehen – sogar mit gebrochenem Rücken.

Bedürftigkeit akzeptieren

„Empowerment“ ist einer der wichtigsten Leitbegriffe heutiger Behinderten-Pädagogik. In diesem Ermächtigungs-Prozess sollen die Ohnmachtserfahrungen von Entmachteten minimiert und ihre eigenen, oft übersehenen oder vergessenen Stärken aus der Versenkung gehoben werden.

Noch brauchte ich keine Schnabeltasse zum Trinken. Aber schon, wenn ich mir ein Glas einschenkte, setzte ich meistens die Tischplatte unter Wasser. Es kam vor, dass ich mich in meiner Wohnung zwischen Dutzenden von Regalen verirrte und in Panik geriet. Ruhig bleiben. Lauschen lernen. Einen Gegenstand zum Schwingen bringen und die Bewegungen des Schalls verfolgen. Mein persönliches Empowerment begann damit, dass ich mir von geschulter Stelle all die Fertigkeiten und Tricks beibringen, all die blindentechnischen Hilfsmittel vorführen ließ, ohne die ich nicht mehr ­allein leben konnte. Das Entscheidende war allerdings etwas anderes. Es war das Eingeständnis mir selbst gegenüber, dass ich nie mehr ohne die Hilfe eines anderen Menschen auskommen konnte. Die Erkenntnis war demütigend – und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem ich noch keine Freundschaft mit der Demut geschlossen hatte. Das intensivste Alltagstraining führte mich nicht zurück in die monadische Existenz, die ich geliebt hatte.

Ganz von vorn anfangen. Ganz unten. Wie tief das war, lernte ich an einem Schlüsselerlebnis mit einer meiner „Betreuerinnen“. Durch mein offenes Fenster belauschte ich, wie diese Frau sich auf offener Straße lauthals mit der Macht aufplusterte, die sie über mich hatte. Nein, verkündete sie, dieser Job bei der Blinden sei überhaupt kein Problem, eine Blinde müsse man sich einfach „erziehen“, damit sie spure.

Schlucken lernen. Bitten lernen. Brauchen lernen. Urvertrauen aktivieren. Die fremde Hand, die die Splitter zusammenfegt, nachdem meine Glasflasche abgestürzt und in tausend Scherben zersprungen ist. Die Ellenbeuge, in die ich beim Spazierengehen meine Finger lege, um mich führen zu lassen. Augen, die Werbeprospekte von meinen persönlichen Briefen unterscheiden. Einen klügeren Kopf als den eigenen, der meinen sprechenden Computer zum Leben erweckt, wenn der sich tot stellt und schweigt. Assistenzen. Oder Betreuerinnen, Krankenschwestern, Sekretärinnen. Oder Sklavinnen? Aufseherinnen? Freunde? Wenn ich auch selbst nie mehr Auto fahren kann, so will ich doch auch von Beifahrersitz meines Lebens aus Fahrtrichtung, Reiseziele, Gangart, Tempo und Routen festlegen.

Nähe und Distanz ausloten

Die Frage war, wen ich bitten sollte, meine Fahrerin zu werden. Jede, die sich wie ich eines Tages dazu entscheiden muss, ihre Selbständigkeit an den Nagel zu hängen, kann ich nur empfehlen, sich mehrere Nägel und ein paar elegante Kleiderhaken auszusuchen, auf die sie die Last ihrer eigenen Person verteilt. Nur die Freundin, nur die Sekretärin, nur die Haushaltshilfe, das viel beschworene Mädchen für alles, bräche ganz schnell unter den übersteigerten Erwartungen zusammen oder steigerte sich eines Tages selbst in Allmachtsfantasien hinein.

Je klarer die jeweilige Rolle der jeweiligen Begleiterin definiert ist, desto leichter ist sie auszufüllen. Eine Putzfrau ist ungeeignet, der blinden Chefin Konto-Auszüge oder ihre persönlichen Briefe vorzulesen, geschweige denn zu kommentieren. Umgekehrt müssen Freundinnen nicht unbedingt gebeten werden, die Blinde auf den Wochenmarkt zu führen oder ein Rezept vom Arzt abzuholen. Noch gefährlicher sind „Liebesdienste“ von bezahlten Angestellten. Heute schenken sie ihrer Chefin ein selbst gebackenes Stück Kuchen, morgen bestellen die Unbezahlbaren eigene Katalogwaren auf deren Namen und deren Rechnung.

Grenzen setzen. Zuständigkeiten unterscheiden. Es gibt unbezahlbare und bezahlte Begleiterinnen. Es gibt Freundschaftsdienste und Dienstleistungen, intime Verrichtungen und sachliche Aufgaben. Es gibt den kleinen Gefallen, und es gibt die berechnende Manipulation. Leider sind diese Unterscheidungen in der Praxis schwieriger zu treffen, als sie sich in der Theorie heruntertippen lassen. In dem Viertel Jahrhundert, das ich nun anderen Leuten am Arm hänge, habe ich auf diesem Drahtseil zwischen Nähe und Distanzierung Tanzen geübt, bin aber oft genug abgestürzt. Bis heute verwechsle ich eine zwangsweise Hautnähe mit vertrauten Beziehungen. Ich kann mich immer noch nicht ohne Überschneidungen in die blinde Bekannte, die blinde Chefin und die blinde Freundin aufspalten. Diese Schwäche kostete bis jetzt sechs Haushaltshilfen ihren Job und mich zwei, drei enge Freundinnen.

Auf Freiheit verzichten

Mein zweites Leben: Ohne Augen, ohne Spiegelkontrolle meines Gesichts. An guten Tagen zeige ich mich überzeugt, dass ich mich an meine Abhängigkeiten gewöhnt habe und froh bin, nicht mehr so viele Berührungsängste zu haben wie früher. An mittelguten Tagen freue ich mich darüber, die meisten Verluste, die frau erst im Alter erlebt, schon früher kennengelernt zu haben. Mich kann nicht mehr viel erschrecken. An mittelschweren Tagen rette ich mich mit dem Gedanken, dass andere Menschen auch auf mich angewiesen sind – meine Freundin auf meine Logik, meine Haushälterin und Sekretärin auf die Jobs, die ich zu bieten habe und gut bezahle. Ich fühle mich an solchen Tagen nicht unautonom. An schlechten Tagen balle ich die Fäuste und klage, wie weit ein blinder Mensch von einem Leben in Autonomie entfernt bleibt und wie verdammt anstrengend der Kampf um jeden Zentimeter Freiheit ist. Keine Spontaneität, sondern Organisation. Keine Intimsphäre, sondern Geheimniskrämerei und Tricksereien. Die beste Idee ist, es frei nach Luther für die größte aller Freiheiten zu halten, auf Freiheit zu verzichten – auch wenn es schwer fällt.

Impulse für die Arbeit in der Gruppe

Material
ggf. Kopie des Artikels; Kopien Leitfragen für Kleingruppen; Kärtchen oder Papierstreifen in 2 Farben, Stifte

Kopiervorlagen sind für AbonnentInnen unter www.ahzw-online.de / Service zum Herunterladen vorbereitet.

Ablauf
Nach der Begrüßung lädt die Leiterin die Teilnehmerinnen ein, sich mit der Frage auseinanderzusetzen: Was bedeutet es für mich, unabhängig zu sein und zugleich auf andere Menschen angewiesen?

1 Alle TN erhalten Kopien der folgenden Fragen; nach ca. 10 Minuten Zeit für eigenes Nachdenken und Notizen wird zum Austausch in Kleingruppen von 2-3 Personen eingeladen (ca. 20 Minuten)

– Wann / in welcher Situation habe ich mich abhängig gefühlt? Von wem und warum? Welche – negativen und positiven – Gefühle hat diese Abhängigkeit ausgelöst?
– In welche Situation von Abhängigkeit möchte ich auf keinen Fall kommen? Wovor habe ich Angst?
– Was kann ich gegen die befürchtete Abhängigkeit unternehmen?

2 Die TN sitzen im Stuhlkreis oder um einen großen Tisch herum; die Leiterin verteilt Karteikarten (oder Papierstreifen) einer Farbe und bittet die TN, Synonyme für „abhängig“ aufzuschreiben (je ein Begriff pro Karte; 3-5 Minuten).
Die gefundenen Begriffe werden reihum benannt, die Karten untereinander in die Mitte gelegt (Mehrfachnennungen zusammenlegen; 5-10 Minuten).
Jetzt notieren die TN auf den andersfarbigen Karten Synonyme für „Autonomie“.
Auch dieser Katalog wird in der Mitte gesammelt, ggf. so, dass sich die Begriffe als Gegensatzpaare gegenüber stehen.

3 Gesprächsimpuls: Wann / in welchen Situationen sind Menschen voneinander abhängig? Gibt es auch positive Aspekte des Angewiesenseins? Was sind die Gefahren?

4 Wenn genügend Zeit ist, erhalten die TN jetzt Kopien des ganzen Artikels und lesen den Text gemeinsam (kapitelweise von verschiedenen TN laut vorlesen). Die TN notieren während der Lesung ggf. auf dem Rand: ? (wo ein Wort oder Gedanke nicht verstanden wird); 🙂 (wenn ein Satz / Gedanke besonders anspricht); 🙁 (wenn ein Satz/Gedanke Widerspruch auslöst). – Anschließend zunächst Verständnisfragen klären, dann Austausch zu 🙂 / 🙁

5 Unter welchen Bedingungen kann ich auch als Mensch mit Behinderung oder altersbedingter Einschränkung ein autonomes Leben führen?

Lied:
Bis hierher hat mich Gott gebracht
(EG 329,1+2)

Susanne Krahe, 54 Jahre, lebt als frei schaffende Theologin und Autorin in Unna. –
mehr von der und über die Autorin unter www.susanne-krahe.de

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