Ausgabe 1 / 2017 Artikel von Irene Leicht

Vom Zwang zur Häresie

Warum ich Protestantin geworden bin

Von Irene Leicht

„Häresie“ bedeutet Wahl oder Auswahl. Damit ist es im Blick auf die deutsche Übersetzung zunächst einmal ein „unschuldiges“ Wort. Und doch klingt Häresie wohl in manchen Ohren alles andere als harmlos. Warum ich mich für dieses aus dem Altgriechischen stammende Fremdwort entscheide, um vom Wechsel meiner Konfessions- oder Kirchenzugehörigkeit zu erzählen, wird aus dem Folgenden ersichtlich werden.

Der Religionssoziologe Peter Lukas Berger hat 1980 von einem häretischen Imperativ gesprochen. Die deutsche Übersetzung seines Ansatzes ist erschienen unter dem Titel „Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft“. Berger vertritt die These, dass heutzutage jeder Mensch wählen bzw. sich entscheiden müsse. Die religionskulturelle Vielfalt erfordere dies. Und angesichts des religiösen Pluralismus sei auch jede Entscheidung für eine bestimmte Orthodoxie eine Häresie.

Die Konfession wechseln – nicht die Religion

Dass es diesen positiv gemeinten „Zwang zur Häresie“ gibt, formuliert als freie Möglichkeit der 18. Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder seine Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.“
So weit, so gut. Doch wie sieht es mit dieser Wahlfreiheit in der Praxis aus? Eine kleine Phänomenologie des Wählens kann leicht plausibel machen, dass es große Unterschiede gibt zwischen der Auswahl aus einer Menge von Haarshampoos, der Wahl einer bestimmten Partei oder der Entscheidung für eine Religions- oder Konfessionszugehörigkeit. Der Grad der persönlichen, auch existentiellen Betroffenheit ist ein Faktor, der die Unterschiede erklären hilft. Im Blick auf Religion oder Konfession stehen im Hintergrund in der Regel die Sinnfrage und damit die Frage nach dem Zugang zum Ganzen der Wirklichkeit.

Die Religion frei wählen

Im Rahmen dieser kleinen Phänomenologie wähle ich ganz bewusst diese parataktische Konstruktion: „Religion oder Konfession“. Vor gut 15 Jahren habe ich mich lediglich für einen Konfessionswechsel entschieden, indem ich von der römisch-katholischen Kirche in die Evangelische Landeskirche in Baden übergetreten bin. Doch im Alltag sprechen mich Menschen immer wieder auf meinen vermeintlichen Religionswechsel an. Das zeigt mir, wie fremd manche Differenzierungen sind, die für theologisch Gebildete selbstverständlich scheinen. Und zudem begegnet ja auch das nicht selten: ein Religionswechsel. Oder eine doppelte Religionszugehörigkeit. Eine für mich eindrückliche Lektüre in diesem Kontext: „Ohne Buddha wäre ich kein Christ“ von Paul F. Knitter. Was mich mit ihm und auch mit Fulbert Steffensky oder Edith Stein verbindet, um auf weitere Religions- und Konfessionswechsel hinzuweisen: Das ist kein leichtfertiges Auswählen zwischen verschiedenen Möglichkeiten, sondern hinter der „Häresie“ steht ein Ringen, ein Reflektieren und bisweilen auch die Erfahrung von Erleuchtung oder Gnade. Freilich will ich nicht ausschließen, dass Menschen sich für eine Religion oder Konfession auch „einfach so“ entscheiden, weil es gerade einer Mode entspricht oder evtl. soziale Vorteile bringt. Doch die Regel ist das vermutlich nicht.

Zuhause in einer katholischen Familie

Bei mir war es so: Ich bin in eine recht konservative, CDU nahe katholische Familie hineingeboren worden, in der es auch liberale und ökumenisch aufgeschlossene Anteile gab. Das hat sich z.B. darin gezeigt, dass meine Geschwister und ich in eine evangelische Singschule geschickt wurden. Bis zum Abitur und darüber hinaus wurde diese Schule für mich ein soziales und geistliches Zuhause. Und auch im humanistischen Gymnasium wurde ich eher durch ein protestantisches Milieu geprägt. Viele Pfarrerskinder und andere Evangelische waren in meinem Freundeskreis. Während ich als ca. achtjähriges Mädchen gerne zur Kommunion gegangen bin, gab es einen ersten Bruch mit der römisch-katholischen Kirche, als ich danach nicht wie meine Brüder und Cousins ministrieren durfte. In anderen Gemeinden war das damals schon für Mädchen möglich. Im Gymnasium wuchs die Distanz zu dieser als erstarrt und frauenfeindlich erlebten Kirche weiter. Auch eine evangelische Pfarrerin, die als Religionslehrerin mit uns im Landschulheim war und die Eine-Welt-Arbeit in der Schule mit aufbaute, hatte mich ehedem sehr beeindruckt und den Wunsch in mir entstehen lassen, selbst Pfarrerin zu werden.
Warum ich nicht schon als Schülerin die Konfession gewechselt habe, hing vermutlich damit zusammen, dass ich meine Familie als zu stark erlebte. Und da Lehrerin auch ein für mich passendes Berufsziel war, studierte ich katholische Theologie und Latein auf Lehramt. In das Theologiestudium fand ich nicht wirklich hinein. Und auch existentiell wurde mir der Glaube immer fremder. Im Nachhinein kann ich sagen, dass ich auf Grund persönlicher Verletzungen an die Liebe nicht mehr geglaubt habe. Und diese hat mich dann sehr heftig getroffen. Als Geschenk des Himmels in Gestalt eines Mannes, mit dem ich nun schon gut 30 Jahre lang zusammen bin. Er stammte aus dem sehr katholisch geprägten Emsland, war eine Zeitlang auch Priesteramtskandidat und stand damals kurz vor dem Abschluss als Diplomtheologe. Durch ihn vermittelt habe ich neu an die Liebe glauben gelernt – das war eine wirkliche „Konversion“! Und teilweise durch ihn vermittelt bin ich dann auch mit ganz anderen Phänomenen der römisch-katholischen Kirche in Kontakt gekommen. Ich lernte Ordensleute kennen, die mich unterstützt und geprägt haben. Dadurch fand so etwas wie eine Initiation in katholisches Leben hinein statt – nach einem einjährigen Aufenthalt in Rom über viele Jahre vor allem in einem Karmelkloster in Tübingen.
Mit dieser Konversion verbunden war eine Intensivierung des Theologiestudiums. Ich wechselte in den Diplomstudiengang und promovierte im Anschluss. Auch auf Grund meiner eigenen Erfahrungen galt mein Interesse neben der feministischen Theologie insbesondere der christlichen Mystik. Promoviert wurde ich mit einer Arbeit über Marguerite Porete. Sie wurde 1310 als „Häretikerin“ auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Das war offensichtlich „mein“ Thema. Eine pervertierte Kirche verketzert und eliminiert eine Geistliche, weil diese ihr als Frau auferlegte Grenzen übersteigt, öffentlich Theologie treibt und sich allein von der Liebe leiten lässt. Hier taucht er also wieder auf: Der Zwang zur Häresie. In diesem Kontext in dreifacher Bedeutung, denn 1. hat sich Marguerite Porete von der göttlichen Liebe zu einer radikalen Wahl für die Liebe bewegen lassen, 2. fühlte die damalige Kirche sich offensichtlich gezwungen, eine solche Frau für häretisch zu erklären und (mund)tot zu machen und 3. fühlte ich mich innerlich gedrängt, mich jahrelang mit einem solchen Thema zu beschäftigen.
Parallel dazu habe ich gekämpft: als Assistentin und Frauenbeauftragte an der katholisch-theologischen Fakultät; als Gründungsmitglied von AGENDA, einem Verein katholischer Theologinnen; als in diversen kirchlichen Kontexten auch ehrenamtlich Engagierte. Beruflich konnte ich mir als katholische Theologin nichts anderes als eine wissenschaftliche Laufbahn vorstellen. Eine entsprechende Neigung war vorhanden, doch diese Orientierung war auch bedingt durch fehlende attraktive Alternativen.

„Protestantin“ werden

Nachdem ein Professor ablehnte, eine Habilitation meinerseits zu unterstützen, war ich ratlos im Blick auf weitere berufliche Perspektiven. In diesem Vakuum „zwang“ mich die „zufällige“ Lektüre von Bonhoeffers „Sanctorum Communio“ zu einer weiteren Häresie. Damals war mir meine Verwurzelung in der evangelischen Kirche kaum mehr präsent gewesen. Deshalb traf mich das wie ein Schock. Zum einen war ich dankbar für die vielfältige spirituelle Begleitung, die mir im Kontext der römisch-katholischen Kirche zuteil geworden war. Und auch meine Liebesbeziehung war eng mit meiner Verankerung in dieser Kirche verknüpft. Zum anderen fühlte ich mich dem Erbe mutiger Frauen wie Marguerite Porete und Elisabeth Gössmann verpflichtet und meinte, es sei mein Weg, in dieser Tradition weiter zu kämpfen. Der beunruhigenden Überraschung sich anschließende Gespräche ermutigten mich. Also traf ich diese Wahl, trat aus der römisch-katholischen Kirche aus und begann als „Protestantin“ mit der Ausbildung zur evangelischen Pfarrerin. Ich war und bin dankbar dafür, als Theologin anerkannt und autorisiert zu sein, Liturgien zu gestalten und beauftragt zu sein, öffentlich das Evangelium zu kommunizieren. Mein eigener „Wahlkörper“ hat mich auf die Stimmigkeit dieser Entscheidung hingewiesen. Seither bin ich aus Sicht der römisch-katholischen Institution formal selbst eine Häretikerin. Wenn ich der Gefahr erliege, dieser Institution zu viel Macht einzuräumen, kann es auch heute noch geschehen, dass diese Exkommunikation mich schmerzt.
Was bedeuten meine Erfahrungen für das Thema der Wahlfreiheit im Blick auf die eigene Konfessionszugehörigkeit? Der Konfessionswechsel war für mich nur bedingt eine „Konversion“. Vor allem der Profession und auch theologischer Überzeugungen wegen habe ich ihn vollzogen. Mehr denn je bin ich überzeugt davon, dass man sehr wohl „konfessionslos glücklich“ (Hans-Martin Barth) sein kann. Dieser Ansatz eines religionstranszendenten Christentums scheint mir zukunftsfähig. Er nimmt das Bilderverbot ernst, orientiert sich an der Radikalität Jesu und ihm zufolge ist Glaube nichts als Glaube im Sinne eines dunklen und nackten Vertrauens in die göttliche Liebe. Die Kirchenzugehörigkeit hat ebenso wie die Religionszugehörigkeit m. E. viel mit der eigenen Sozialisation und auch der emotionalen Bindung zu tun. Habe ich denn überhaupt je die „Konfession“ gewechselt? Ein ausformuliertes Glaubensbekenntnis als „Konfession“ spielt in meinem Leben eine nur geringe Rolle. Eine Konversion zur Liebe – zu dieser weiß ich mich täglich neu herausge­rufen. Diese göttliche Liebe habe ich schon öfters auch als mich „bezwingend“ erlebt. Es tut mir nicht gut, wenn ich diesem teils heftigen, meist aber eher sanften Liebes­locken in meinem Leben nicht folge. Immer neu die Zugehörigkeit zur göttlichen Liebe aufspürend werde ich wohl auch weiterhin zu Häresien, zum Wählen gezwungen sein. Und bin dann hoffentlich so frei …

Methodische Impulse für die Gruppenarbeit:

– Warum gehören Sie einer bestimmten Konfession oder Religion an? Antworten Sie in drei Sätzen.
– Erzählen Sie sich Geschichten von Ihrer Religions- und / oder Konfessionszugehörigkeit.
– Zwang zur Häresie und / oder Wahlfreiheit: Was verbinden Sie selbst mit diesen Polen?

Dr. Irene Leicht (geb. 1965) ist Stadtpfarrerin in Freiburg und Gestalttherapeutin (HP)

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