Ausgabe 1 / 2018 Andacht von Regine Lünstroth und Geertje Bolle

LechLecha

Trau dich. Der Weg kommt beim Gehen.

Von Regine Lünstroth und Geertje Bolle

Im Namen Gottes, der uns ruft, in Gerechtigkeit zu wandeln // im Namen Jesu Christi, der uns begleitet auf unseren Wegen // und im Namen des Heiligen Geistes, der uns ins Leben zieht.
Amen.

Lied Geh aus, mein Herz  EG 503, 1-3.8
Geh aus, mein Herz – mach dich auf.
Der biblische Vers, der uns heute ans Herz gelegt wird, ist auch so ein „Geh aus“. Ein „Geh los“, „Geh, du“, „Geh vor dich hin“. Und hier nicht wie in Paul Gerhardts Lied von sich selbst dem eigenen Herz zugerufen, sondern von Gott dem Abram zugerufen. Dieser Vers aus dem 1. Buch Mose im 12. Kapitel – da, wo die Geschichte GOTTES mit IHREM Volk beginnt.

Die LEBENDIGE sprach zu Abram:  Geh vor dich hin aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dich sehen lassen werde. (Gen 12,1)

Geh los – trau dich – der Weg kommt beim Gehen.

Geh-Übung  Ich möchte Sie einladen zu einer Übung und Sie bitten, dazu aufzustehen und ganz langsam durch den Raum zu gehen, ganz bewusst zu gehen, vielleicht zeitweise wie in Zeitlupe.

Gehen, einen Weg gehen heißt: von A nach B oder nach Unbekannt gehen – heißt weg gehen. In der deutschen Sprache ist das nur der Unterschied im kleinen und im großen W und im langen und im kurzen E. Weg und weg. Immer, wenn ich mich auf den Weg mache, gehe ich von etwas weg zu etwas hin.

Einen Weg gehen heißt: sich be-weg-en. In Bewegung ist auch der Weg drin. Sich bewegen – sich aufmachen – Schritte wagen – gehen.

Was ist das: gehen? Gehen – das ist anders als liegen, sitzen, stehen. Im Chinesischen werden diese vier Würden des Menschen beschrieben.

Losgehen – aus dem Stand in die Bewegung, aus dem Sicheren ins Unsichere.
Ein Fuß, ein Bein hebt sich, löst sich vom Boden ab, ist in der Luft, bis es auftritt,
und dann der andere Fuß und das andere Bein sich hebt, immer wieder aus dem Sicheren ins Wackligere und wieder ins Sichere und wieder in die Verunsicherung und doch immer im Kontakt mit dem Boden.

Gehen, losgehen, aufbrechen, etwas zurücklassen. Vertrauen in das, was kommt,
ins Ungewisse…, weil ich einen Wert spüre, für den ich losgehe, weil mich etwas zieht.

Lesung    Ich lese uns das Miriam-Lied aus Exodus 15 – die große Erzählung vom Aufbruch der jüdischen Sklavinnen und Sklaven aus ihrer Unterdrückung in Ägypten ins von GOTT verheißene gelobte Land. Und mit ihnen zog das kleine nicht-jüdische Pöbelvolk. (Ex 12,38)

Da nahm Mirjam, die Prophetin, Aarons Schwester, eine Pauke in ihre Hand, und alle Frauen folgten ihr nach mit Pauken im Reigen. Und Mirjam sang ihnen vor: Lasst uns dem HERRN singen, denn er hat eine herrliche Tat getan; Ross und Mann hat er ins Meer gestürzt. (Ex 15,20f)

Fragen Wo bin ich unterwegs auf meinem Weg ?  Derzeit und gerade jetzt ?  Wo bin ich verwurzelt, wo zuhause ?  Wo bin ich gut auf dem Weg ? Wo verharre ich einfach, bleibe stehen, wage keinen Schritt, will mich absichern, ganz und gar in Bodenhaftung bleiben ?  Wo laufe ich wie im Kreis, im Hamsterrad, funktioniere ? Wo möchte ich gern mal auf die Pauke hauen ? Vor Freude ?  Vor Wut ? Was hält mich ?  Was zieht mich ? Wo bin ich zerrissen? Wo im Aufbruch ?  Wovon träume ich ?  Wonach sehne ich mich ?

Nach einer Zeit der Stille: Murmelgruppen zu dem, was den einzelnen in den Sinn kam.

Lied  Geh aus, mein Herz   EG 503, 13-15

Die biblischen Geschichten unserer Mütter und Väter  – sie beginnen mit dem Aufbruch, mit dem Ruf Gottes an Abram: Geh vor dich hin!

Nachdem am Anfang der Genesis elf Kapitel lang gewissermaßen Grundsätzliches erzählt wird, von der Erschaffung der Welt, davon, wo den Menschen Grenzen gesetzt werden, beginnt jetzt die Geschichte Gottes mit dem Volk Israel. Und sie beginnt ganz konkret mit einzelnen Menschen. Mit diesem Abram und dieser Sarai.
Die LEBENDIGE sprach zu Abram:  Geh vor dich hin aus deinem Land, aus deiner
Verwandtschaft, aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dich sehen
lassen werde.

Geh vor dich hin. LechLecha. Geh – du – für dich – vor dich hin. Es soll offenbar ganz deutlich werden, dass eindeutig Abram gemeint ist, nicht irgendwer. Ein Ruf, der jede und jeden von uns personal trifft, wo ich spüre, da bin ich gemeint, niemand anders.

Manchmal ist es nicht leicht, wahrzunehmen, wo das Leben mich fragt, wo mein Weg weiter geht, wo Gott mich ruft. Es gibt so viele Stimmen, Rufe, Fragen. Unendlich viel in unserer Gesellschaft, wo es gut und notwendig wäre, sich zu engagieren. Deutschunterricht für geflüchtete Menschen. Besuche im Pflegeheim. Für ein gutes Miteinander verschiedener Kulturen auf die Straße gehen. Hospizdienst. Lesepatin in der Schule. Telefonseelsorge. Mädchen in Not. Die Liste endet nicht. Aber wo bin ICH angefragt? Das kann ich mit Sachdiskussionen und guten Argumenten meist nicht herauskriegen – dann müsste ich überall aktiv werden. Wo bin unbedingt ich gemeint? Was liegt direkt vor meinen Füßen? Für mich ist es der Weg, ganz genau hinzuhören, ganz genau hinzuspüren. Und manchmal hilft uns unsere Intuition.

LechLecha – das Wort, das darin steckt, ist halach: gehen, ziehen, wandeln, leben. LechLecha – Geh vor Dich hin! Zweimal in seinem Leben wird Abraham mit diesen Worten von Gott gerufen. So beginnt sein Weg ins gelobte Land.

Die LEBENDIGE sprach zu Abram:
Geh vor dich hin aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dich sehen lassen werde.

Von Abram wird vorher in der Bibel wenig erzählt. Dass er aus Ur in Chaldäa stammt, Sohn eines Terach, dass er Sarai zur Frau nimmt, die unfruchtbar ist, und dass die Familie losgezogen ist von dort ins Land Kanaan. In Charan sind sie dann geblieben.

Und nun also  LechLecha.   Losgehen geschieht in der Spannung von loslassen, hinter sich lassen und Neues vor sich haben.

In der Übung haben wir es eben erfahren: Losgehen heißt, den festen Stand – beide Füße im Bodenkontakt – zu verlassen, sich in die Verunsicherung bringen, um Neuland zu betreten.

Wo zum Aufbruch gerufen wird, sind Fragen: Ist das der Ort, wo ich leben möchte, leben kann, da sein kann? Sind Menschen um mich, mit denen ich gut in Beziehung bin, mit denen ich leben mag? Und: Lebe ich mein Eigenes? Frei sein für etwas heißt auch Ballast abwerfen: frei werden von.

In Abrams Ohren klingt dreimal ein „aus“ – „aus und vorbei“.

Mit dreierlei soll Abram brechen
1 Mit seinem Land – alles Nationalistische soll er hinter sich lassen. 2 Mit seiner Verwandtschaft – mit dem biologistischen Denken soll er aufhören.  3 Mit dem Haus seines Vaters – alle patriarchale Macht soll er überwinden.

Ein Aufbrechen aus einengenden Machtstrukturen auf der Suche nach gutem Miteinander. Eine offene Haltung des Vertrauens für Zukünftiges.

Wer in „–ismen“ unterwegs ist, hat sich ideologisch festgefahren. Vertritt Standpunkte so radikal, dass sie dem Leben nicht mehr dienen, es oft gar schädigen.

Nationalistisch, biologistisch, patriarchal. Wo sind wir verstrickt? Wo hart geworden auf unserem Weg? Der Ruf an Abram lässt mich innerlich wachsam bleiben. Die AfD ist seit kurzem größte Oppositionspartei: wachsam bleiben, dass da nicht salonfähig wird, was unser Land und unsere Menschengemeinschaft zerstört. Wie ist das mit Verwandtschaft und Freundschaft? Wie oft erlebe ich, dass biologische Verbindungen ernster genommen werden, wenn es etwa um pflegerische Unterstützung geht? Wo bin ich da verwoben, verstrickt? Wo bin ich selbst Opfer? Wo Täterin?

Mit kritischen Fragen mein Leben durchforsten, immer wieder den Kurs korrigieren – den Weg des gerechten Lebens suchen. Liebe deinen Nächsten – er ist wie du. Immer sensibler werden und klarer auf dem Weg durchs Leben.

LechLecha – das sind Worte, die ein innerbiblisches Gespräch in Gang setzen. Es gibt einen zweiten Wendepunkt in Abrahams Leben, wo die Worte LechLecha wieder erklingen – bei der Bindung Isaaks – und eine klare Grenze in die Zukunft setzen. Wo Menschen zu Opfern werden auf dem Wege, ist das kein gangbarer Weg.

Und ein drittes Mal finden wir diese so ungewöhnlichen Worte in ihrer Doppelung LechLecha – in etwas veränderter, jetzt weiblicher Form (LechiLach) im Hohelied. Auch da ein Aufbruch. Mach dich auf, meine Freundin, meine Schöne, und geh vor dich hin. Hld 2,10

Hier sind die Worte an eine Frau gerichtet. Sie wird explizit mit hineingenommen in die große biblische Aufbruchsgeschichte. Auch sie soll zurücklassen und die Vision vom gelobten Land wieder in Blick nehmen und sich in Bewegung setzen, losgehen.

Und dieses LechLecha oder LechiLach – das hört ja im innerbiblischen Gespräch nicht auf. Wir sind eingeladen, das Gespräch mit GOTT und dem Leben weiterzuführen, den Ruf zu hören, da, wo er uns jeweils trifft.

Aufzubrechen, wo uns etwas gefangen nimmt, kleinhält. Wo wir uns eingerichtet haben, wo wir uns verstrickt haben, wo wir selbst zu Täterinnen geworden sind.
Kennen Sie den bekannten Poetry Slam von Julia Engelmann?

Eines Tages, Baby, werden wir alt sein, Oh Baby, werden wir alt sein und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können.

(…) Unser Leben ist ein Wartezimmer, niemand ruft uns auf. Unser Dopamin – das sparen wir immer, falls wir es später brauchen.  Wir sind jung und haben so viel Zeit, warum soll’n wir was riskieren?

Wir wollen keine Fehler machen, wollen auch nichts verlieren. Und es bleibt so viel zu tun, unsre Listen bleiben lang,

und so geht Tag für Tag ganz still ins unbekannte Land.

Wenn Sie sich diesen Slam einmal auf YouTube anhören, werden Sie verstehen, warum er so eingeschlagen hat. Julia Engelmann fängt pointiert auf, was Menschen alles am Leben hindert, am Losgehen, am Aufbrechen, und stellt das in den Kontext unserer Endlichkeit. Mit Witz und konkreten Situationen macht sie anschaulich, was es bedeutet, nicht losgegangen zu sein, nicht aufgebrochen zu sein. Einmal wäre ich fast einen Marathon gelaufen…

LechiLach, du Schöne, geh los. Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen. Lass uns suchen die Wege der Liebe – in vielen kleinen Schritten – im Verbund der Schwestern und Brüder in Christus. Sei mutig! Heb das Bein in die Luft und schau, wo du hintreten magst, wo es dich hinzieht. Spüre dem nach. Mutig.

Der große biblische Aufbruch muss sich im Alltag bewähren – ganz kleinschrittig, immer in Bewegung, halt unterwegs. Im Miteinander von Menschen, in der Liebe, wie im Hohelied, im Zusammenleben heute. Suche nicht den einen Weg im stillen Kämmerlein, sondern auf der Straße, mitten unter den Menschen. Immer wieder sind Menschen eingeladen, aus unguten Strukturen aufzubrechen, sich auf Neues einzulassen, sich als Hinzugekommene mit hineinzustellen in die Befreiungsgeschichte GOTTES mit IHREM Volk. Trau dich – der Weg kommt beim Gehen. Vertraut den neuen Wegen.

Lied  Vertraut den neuen Wegen  EG 395

Gebet  Wenn du Gott vertraust

Verwendete Literatur
– Die Schriftwerke. Verdeutscht von Martin Buber, 61962
– Klara Butting   Die Buchstaben werden sich noch wundern. Innerbiblische Kritik als Wegweisung feministischer Hermeneutik, Knesebeck 21998
– Gerard Minnaard   Er rief seinen Namen: Israel! Wittingen 1996

Regine Lünstroth und Geertje Bolle leben in der Kommunität LechLecha.
LechLecha ist eine kleine christlich-ökumenische Gemeinschaft. Menschen sind aufgebrochen, um offenes Haus zu leben. Wir verstehen uns als Gemeinschaft auf dem Weg. Für das, was wir politisch vertreten, wollen wir auch im Kleinen einstehen. Im Alltag bemühen wir uns darum, Spiritualität, Bibel und politische Praxis zusammenzubringen. Wir kommen zusammen im Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und möchten Menschen einladen, mitzugehen. Dazu laden wir zu Andachten und Gottesdiensten ein, zu Gesprächen um die Bibel, zu gemeinsamen Kommunitätswochenenden und inhaltlichen Veranstaltungen, zu verabredeten Zeiten auch zum Mitleben.
Unser Kommunitätshaus ist das alte Pfarrhaus in Zerpenschleuse, das wir von der evangelischen Kirchengemeinde gepachtet haben und gemeinsam mit ihr nutzen. Zerpenschleuse ist ein kleines Dorf, etwa 40 km nördlich von Berlin.  www.lechlecha.de

Geertje Bolle ist Pfarrerin und arbeitet als Klinikseelsorgerin in den Kliniken im Theodor-Wenzel-Werk in Berlin. Zudem bietet sie Beratung und Therapie als Logotherapeutin und Existenzanalytikerin an.

Regine Lünstroth ist Pfarrerin und arbeitet als Klinik
seelsorgerin im Evangelischen Waldkrankenhaus 
Berlin-Spandau.

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