Ausgabe 1 / 2019 Andacht von Angelika Scholte-Reh

Verlocke und verführe uns:

in der anderen die Schwester, im anderen den Bruder zu sehen

Von Angelika Scholte-Reh

Still werden, hier ankommen – Gott erwartet uns schon.
Ausatmen, den Alltag zurücktreten lassen
– Auszeit in Gottes Gegenwart.
Dasein mit anderen, für mich
– Stärkung im Miteinander erfahren.
Orientierung bekommen aus Gottes Wort
– Kraft schöpfen im Glauben.
Wir sind zusammen im Namen Gottes,
der uns voller Liebe ansieht,
im Namen Jesu Christi, unseres Bruders,
in dem Gottes Liebe Mensch wurde,
im Namen der heiligen Geisteskraft,
die uns durch das Band der Liebe verbindet.
Amen.

Lied   Ich kenne Gottes Ruf
oder Liedtext Seite 49

Gottes Ruf. Gott spricht dich an, mich auch, jeden und jede von uns:

Da bist du ja, meine Tochter, mein Sohn. Ich kenne dich. Ich kenne deine guten Seiten, deine Gaben, dein Strahlen. Ich kenne das, was dich besonders macht und was du voller Freude einbringst. Ich freue mich daran.

Ich kenne auch die Seiten, die du lieber verstecken möchtest: deine Ungeduld und deinen Zorn, die unbedachten Worte, die verletzt haben. Dein Schweigen, wenn du reden solltest, weil Unrecht geschieht. Deine Bequemlichkeit und dein Wegducken, diese Lüge und jene Halbwahrheit. Ich kenne deine Schuld und dein Versagen und weiß, wie sehr sie dich schmerzen.

Ich kenne deine Freude über alles, was dich im Leben beschenkt: die Liebe und das Miteinander, das Leuchten der Natur und die stillen Momente voller Segen. Deine Dankbarkeit beschenkt mich.

Ich kenne deine Verletzungen, weiß um das Böse, das andere dir getan haben. Ich sehe deine Scham und möchte sie gerne bedecken. Ich spüre deine Trauer und deinen Schmerz. Ich weine mit dir. Gott kennt uns, so wie wir sind, und sieht uns an. Wir sind Gottes geliebte Kinder, von unendlichem Wert. Es zählt nicht, was wir haben oder leisten, schon gar nicht, was andere von uns sagen. Gott sieht uns voller Liebe an. Das bestimmt, wer wir sind: Gottes geliebte Kinder.

Lied   Gott gab uns Atem
EG 432,1

Gott gab uns Augen. Gott bittet uns, dass wir an seiner Welt der Liebe mit bauen und in der anderen unsere Schwester, im anderen unseren Bruder sehen.

Ein Weg ist, Grenzen zu überwinden. Unsere Welt ist oft aufgeteilt in „Die da“ und „Wir hier“. Und dann tappen wir in die Falle gegenseitiger Ausgrenzungen und Abwertungen. Da braucht es jemanden, der Grenzen überwindet und Liebe aussät.

Jesus hat das in der Begegnung mit der kanaanitischen Frau erlebt. Sie kommt auf ihn zu, bittet um Hilfe. Alles an ihr ist fremd. Sie kleidet sich anders, trägt ein buntes Kopftuch, ihre Sprache hat einen anderen Klang, ihre Leute glauben anders als das jüdische Volk. Jesus tritt einen Schritt zurück. Sie gehört nicht zu „seinen“ Leuten. Lieber Abstand halten – wer weiß, worum es ihr geht!

Die fremde Frau streckt hilfesuchend ihre Hand aus: Hab Erbarmen mit mir, Herr, du Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem bösen Dämon beherrscht!
Jesus wendet sich ab. Auch seine Begleiterinnen und Begleiter fühlen sich gestört. Schick sie weg! Denn sie schreit hinter uns her! „Die da“, mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Die bringen alles durcheinander. Dann wendet Jesus sich doch noch der Frau zu, alles andere als freundlich, eher beleidigend und beschämend. „Wir hier“ gehören zusammen, „Ihr da“ gehört nicht dazu: Ich bin nur zu Israel gesandt, dieser Herde von verlorenen Schafen. Eine Ohrfeige! Jede andere hätte verletzt die Schultern hochgezogen und das Weite gesucht. Die Frau ist zu verzweifelt. Es geht doch um ihre Tochter. Sie kniet nieder, macht sich klein. Er hat mit Worten zugeschlagen. Sie nimmt die Schläge für ihr Kind hin. Herr, hilf mir doch! Das hätte doch eigentlich schon ausreichen können, um die Mauern zwischen „Die da“ und „Wir hier“ bröckeln zu lassen.

Die nächsten Worte Jesu machen die Abgrenzung noch verletzender: Es ist nicht richtig, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen. Was würden wir tun? Aufgeben, weggehen? Jetzt steht die Frau ihm aufrecht gegenüber. Soll er sie doch als „Hund“ beschimpfen. Wenn einer ihrer Tochter helfen kann, dann dieser da. Ja, Herr! Aber die Hunde fressen doch von den Krümeln, die vom Tisch ihrer Herren herunterfallen. Mutig schluckt sie die Beleidigung. Gib mir ein klein wenig von der Macht, die du hast – sie wird reichen, meine Tochter zu heilen!

Wer hat hier Heilung erfahren? Jesus atmet tief durch, versteht, was da geschehen ist. Sein Blick war durch seine eigenen Abgrenzungen, seine Vorurteile verstellt. Wie mutig sie ist, die fremde Frau, und wie tief ihr Glaube ist. Frau, dein Glaube ist groß! Was du willst, soll geschehen! Die Begegnung hat Jesus verändert. Er hat gelernt, auch in der fremd aussehenden, fremd klingenden Frau ein Gotteskind zu sehen, eine Schwester, die Gott ihm anvertraut hat. Eine gläubige Frau, die seine Mauern bröckeln ließ und seine Perspektiven geweitet hat. Staunen, Dankbarkeit, Liebe klingt in seinen Worten: Frau, dein Glaube ist groß! Aus „Die da“ und „Wir hier“ wird für Jesus „Wir alle“, das bunte Volk Gottes, in dem es viele Farben und Sprachen gibt und in dem alle miteinander Kinder Gottes sind. Und die Tochter der Frau wurde gesund.

Lied   Gott gab uns Atem
EG 432,2

Gott gab uns Augen. Gott bittet uns, dass wir an seiner Welt der Liebe mit bauen und in der anderen unsere Schwester, im anderen unseren Bruder sehen.

Ein anderer Weg ist der zur Versöhnung. Wir neigen dazu, den anderen oder die andere auf das Gestern festzulegen: „Der ist so, die ändert sich sowieso nicht.“ Oder bei der Schuld und dem Zorn des Vorgestern hängen zu bleiben. „Weil der damals…; die hat doch immer schon…“

Wie alte Festlegungen überwunden werden und Brüder neu miteinander anfangen, zeigen Jakob und Esau (1.Mose 32). Begonnen hat der Bruderstreit mit kleinen Übervorteilungen, später mündet er in einen handfesten Betrug. Jakob erschleicht sich den Segen des Erstgeborenen. Esau ist wütend, Jakob muss fliehen. In der Ferne heiratet er, bekommt Kinder, kommt zu Reichtum. Dann kehrt er in die Heimat zurück. Die Eltern sind längst gestorben, Esau ist nun Herr der Sippe. Wie wird Jakob ihm begegnen?

Sie könnten einander auf das Gestern festlegen: Jakob der Lügner und Esau der Jähzornige. Es kommt anders. Jakob schickt seinem Bruder Geschenke, immer wieder mit der Bitte um Versöhnung und Frieden. Er kämpft in einer durchwachten Nacht mit sich selbst, mit seiner Schuld, seinem Jahrzehnte zurückliegenden Versagen, und geht aus der Begegnung mit dem eigenen Dunkel verändert hervor. „Gottes Angesicht“ nennt er den Ort, an dem ihm Gott begegnet ist. Jakob weiß um seine Schuld und hat große Angst vor seinem Bruder. Die Bibel erzählt von der Wiederbegegnung: Jakob warf sich siebenmal zur Erde nieder, bis er zu seinem Bruder kam. Esau aber lief ihm entgegen und umarmte ihn, fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und sie weinten.

So kann neues Miteinander gelingen: Der eine bekennt seine Schuld, ist bereit, um Vergebung zu bitten. Der andere überwindet seinen Zorn und den Impuls, recht zu behalten, Wiedergutmachung zu fordern. Versöhnung wird möglich, die Ängste lösen sich. Die Brüder haben einander wieder, in aller Gebrochenheit und Vorsicht.

Was geschehen ist, fasst Jakob so zusammen: Ich habe dein Angesicht gesehen, wie man das Angesicht Gottes sieht, und du hast mich freundlich aufgenommen. Deine Freundlichkeit hat mir gezeigt, wie freundlich Gott ist, deine Vergebung hat mich erleben lassen, wie auch Gott mir vergibt. Und auch Esau begegnet im Bruder Gottes Gegenwart: Deine Bitte um Vergebung und das Eingeständnis deiner Schuld hat in mir Zerbrochenes heilen lassen. Gott hat meine Seele geheilt. So wird Versöhnung möglich, so öffnet sich eine neue  Perspektive für das Leben. Brüder können einander als Brüder wahrnehmen und im Gesicht des anderen Gottes Gegenwart entdecken.

Lied   Gott gab uns Atem
EG 432,3

Gebet

Wir bringen dir, Gott, unsere Welt mit all ihren Vorurteilen und gegenseitigen Festlegungen, mit allem Unfrieden und allen Ausgrenzungen.

Schick uns Menschen, die uns berühren, Mauern bröckeln lassen und uns neue Perspektiven schenken, damit wir auch in der nahen Fremden Deine Tochter erkennen und im fernen Vertrauten Deinen Sohn sehen.

Gib uns Phantasie, Ungewohntes zu denken, Kraft, das uns Mögliche zu tun, und Glauben, das unmöglich Scheinende von dir zu erwarten.

Wir bringen dir, Gott, unsere Welt mit allem Streit, aller Gewalt, allem Zorn und aller Friedlosigkeit.

Schenke uns Mut, eigene Schuld zu bekennen, Aufrichtigkeit, um Vergebung zu bitten, Weitherzigkeit, Verzeihen zu schenken, und Liebe, die Versöhnung möglich macht.

Lass uns im je anderen Menschen dein geliebtes Kind sehen, das wie wir selbst der Liebe wert und des Respektes würdig ist.

Wir bringen dir, Gott, all Deine Menschenkinder, in ihrer bunten Vielfalt.

Du kennst ihr Leid und ihre Trauer, du kennst ihr Strahlen und ihre liebenswerten Seiten, du kennst auch ihre Schuld und ihr Gelingen.

Sei bei uns allen. Lass uns deine Gegenwart erfahren und gib uns offene Augen und Herzen, damit wir einander mit deinen Augen der Liebe ansehen.

Vater Unser
Segen

Sei gesegnet!
Gott, der Vater, weise dir Wege ins Leben durch sein lebendiges Wort und helfe dir, dein Leben mit Gutem zu füllen. Jesus Christus, der unser Freund und Bruder ist, umhülle dich mit seiner Liebe und fülle dein Herz mit gütiger Liebe zu den Menschen. Die heilige Geistkraft lasse dich demütig vor unserem Schöpfer und respektvoll seiner Schöpfung gegenüber sein.
Amen

Angelika Scholte-Reh war Kaiserswerther Diakonisse. 1998 ist sie in die Lausitz gezogen und arbeitet seitdem dort als Gemeindepfarrerin, seit 2013 im Pfarrsprengel Lindenau-Kroppen.

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