Ausgabe 1 / 2019 Artikel von Judith Schumacher und Helga Schwarze

LesepatInnen vom Dienst

Das Erfolgsgeheimnis liegt in der persönlichen Beziehung

Von Judith Schumacher und Helga Schwarze

Noch ist die Bücherei geschlossen. Doch Heba und Omar warten bereits sehnsüchtig darauf, dass die Türen sich öffnen. Denn es ist der Tag, an dem sie Lesezeit mit ihrer Lesepartnerin verbringen dürfen. Darauf freuen sie sich schon die ganze Woche.

Diesen Service gibt es in der Evangelischen Öffentlichen Bücherei in Neuss-Erfttal, die bereits seit mehreren Jahren auf dem Gelände einer Grundschule untergebracht ist. Er ist ein wichtiges Element der Kooperation der Bücherei und der Grundschule. Mit diesem Angebot werden Kinder individuell beim Lesen lernen gefördert. Sowohl die Kinder als auch die Lesepatinnen und -paten genießen die gemeinsame Zeit. Darüber hinaus trägt die kontinuierliche Arbeit Früchte. „Es ist toll zu sehen, wie die Lesefähigkeit sich im Laufe der Zeit verbessert hat“, berichtet die 19-jährige Rebecca stolz über die gemeinsame Zeit mit ihrem zehnjährigen Schützling.

Lesepartnerinnen wurden zum Vorbild für den LesepatInnenservice

Dieses erfolgreiche Angebot der LesepatInnenarbeit für Kinder hat bei der Entwicklung eines Integrationsprojektes Modell gestanden. Die Frage für die Büchereifachstelle der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) war, ob diese individuelle Begleitung auch auf die Unterstützung des Spracherwerbs von Geflüchteten und Erwachsenen übertragbar ist. Der LesepatInnenservice wurde ein wichtiger und letztlich sehr erfolgreicher Bestandteil des Pilotprojekts „Sprachräume – Büchereien für Integration“. Das Projekt hatte die EKiR zusammen mit der Büchereifachstelle, der Koordinierungsstelle Fundraising in der EKiR und weiteren Partnerorganisationen entwickelt und an ausgewählten Standorten erprobt. Dafür hat sie EU-Fördermittel aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds erhalten.

„Sprachräume“ eröffnen neue Perspektiven

Menschen unterschiedlicher Nationen zusammenbringen, Integration fördern und Geflüchtete beim Spracherwerb und dem Ankommen in Deutschland unterstützen: Diese Ziele hatte sich das Projekt gesetzt. Fünf ehrenamtliche Büchereien, die ihre Türen für Geflüchtete öffneten und mit viel Engagement ihr Angebotsspektrum für sie erweiterten, beteiligten sich. Für den LesepatInnenservice, eines der neuen Angebote, wurden Ehrenamtliche gesucht und in drei Schulungstagen qualifiziert.

Für Anja Zern war es selbstverständlich, etwas für Geflüchtete zu tun. „Ich konnte gar nicht begreifen, was da um mich herum passierte, das war so unwirklich“, erzählt sie. Aber sie wusste nicht, wo sie sich am besten einbringen konnte. Im Begegnungscafé der Hardtberger Kirchengemeinde traf sie andere Ehrenamtliche und meldete sich für den LesepatInnenservice an. „Das ist eine spannende Erfahrung“, sagt Anja Zern, die mittlerweile ein enges, freundschaftliches Verhältnis zu ihrer Lernpartnerin hat. Sie findet, dass es in der deutschen Gesellschaft noch viel mehr Bewusstsein für neu ankommende Geflüchtete geben muss.

LesepatInnen sind mehr als SprachtrainerInnen

Anders als der Name vermuten lässt, unterstützen Lesepatinnen und -paten nicht nur beim Lesen lernen, sie üben die deutsche Sprache auf unterschiedlichen Wegen: vom gemeinsamen Betrachten von Bildwörterbüchern und dem Erlernen deutscher Vokabeln über das Vor- oder Nachbereiten des Sprachkurses bis zum Gespräch über Ereignisse des Alltags. Natürlich werden auch gemeinsam Bücher betrachtet, gelesen und besprochen oder wird spielerisch die deutsche Sprache erforscht. Wichtig ist, dass Geflüchtete sich während dieser Zeit in einem geschützten Raum befinden, sodass sie Vertrauen zu „ihren“ Lesepatinnen und -paten haben können und sich trauen, Worte und Sätze zu formulieren. Sie müssen sich nicht wegen ihrer Fehler schämen. Der LesepatInnenservice ersetzt also nicht den Sprachkurs, sondern ergänzt ihn. Das Erfolgsgeheimnis der Arbeit liegt neben der individuellen Begleitung vor allem in der persönlichen Beziehung, die sich zwischen den Deutsch Übenden entwickelt.

Weil dieser LesepatInnenservice so erfolgreich ist, sind andere Büchereien dem Beispiel gefolgt. So auch die Bücherei, in der die 19-jährige Marie als Lesepatin mit einem geflüchteten Jungen und seiner Mutter arbeitet. Marie selbst ist zweisprachig aufgewachsen und weiß, wie wichtig die Sprache im Alltag ist. Sie erzählt, dass der LesepatInnenservice für sie so perfekt passt, weil sie ihre Zeit selbst einteilen und ihr Hobby, das Lesen, an andere weitergeben kann. Wer selbst Spaß am Lesen hat, dem kann sie eine Mitarbeit als Lesepatin oder Lesepate nur empfehlen. „Einfach ausprobieren und auf sich zukommen lassen, es ist eine tolle Chance, jemand kennen zu lernen, der von woanders kommt.“ So unterschiedlich die Anforderungen an die Lesepatinnen und -paten sind, so verschieden sind ihre Motivationen, ihre Zeit einzubringen, um Geflüchtete zu unterstützen. Regine Müller aus Bad Sobernheim hat selbst vier Jahre in Nepal gelebt und weiß noch gut, wie sie sich vollkommen fremd in einem Land fühlte, das so ganz anders ist als das, was sie aus ihrer Heimat kannte. Weil sie sich bereits in der Flüchtlingsarbeit Ihrer Kommune und der Kirche engagierte, musste sie gar nicht lange überlegen, ob sie beim LesepatInnenservice mitmacht. „Ich möchte etwas zurückgeben“, sagt sie. „Ich möchte den Menschen zeigen: Ihr seid willkommen und Ihr seid uns wichtig.“ Sie arbeitet mit Kindern aus verschiedenen Ländern. Dafür, dass sie ihre Lesepatinnenzeit spielerisch und mit viel Vergnügen gestaltet, erntet sie eine Menge Respekt und Herzlichkeit von ihnen. Mit Kindern zu arbeiten findet sie toll, „die Kinder trauen sich, ganz viel zu reden“. Ihre „Dankbarkeit, Aufgeschlossenheit und Lebensfreude“ motivieren Regine Müller immer wieder neu.

Sprachtreffs sind mehr als Sprach-Lernräume

Als Kernelement im Projekt „Sprachräume“ hat sich der LesepatInnenservice bewährt. Deshalb sollte er auch einen Platz im Nachfolgeprojekt finden. Auch „Sprachtreff – für Integration auf dem Land“ wurde dank Mitteln aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU möglich und läuft noch bis Juni 2020. Ziel des Projektes ist eine nachhaltige allgemeine und berufsbezogene Sprachförderung von Geflüchteten im ländlichen Raum. Während der Öffnungszeiten der dazu eingerichteten Sprachtreffs stehen geschulte Ehrenamtliche als Sprach- und Lesepatinnen und -paten bereit, um mit Geflüchteten Deutsch zu sprechen.

Mit einem herzlichen Lächeln heißen die ehrenamtlichen Helferinnen im neuen Sprachtreff in Daaden, Rheinland-Pfalz, jeden Neuankömmling willkommen. Zweimal pro Woche sind die neun Frauen im evangelischen Gemeindehaus vor Ort, um Geflüchtete beim Deutscherwerb zu unterstützen. Gemeinsam werden bei Spielen Wörter und Sätze geübt, wird der Sprachkurs vor- oder nachbereitet und vor allem viel gesprochen. Im Sprachtreff gehen die Ehrenamtlichen ganz individuell auf die Wünsche und Bedürfnisse der Geflüchteten ein.

In die saarländischen Sprachtreffs kommen vor allem Geflüchtete, die schon länger in Deutschland leben und nun den Start in das Berufsleben wagen wollen. Hier finden sie Medien mit fachspezifischem Vokabular oder Informationen über Bewerbungen und verschiedene Berufe. Ehrenamtliche Berufspraktikerinnen und -praktiker aus verschiedenen Sparten erzählen aus ihrem Berufsalltag und geben Tipps. Auch dieses Projekt wird wissenschaftlich begleitet und evaluiert, damit die Erkenntnisse und Erfahrungen als Wegweiser für weitere potenzielle Standorte dienen können. Dazu werden im Laufe des Projektes Arbeitshilfen auf der Projekt-Homepage zur Verfügung gestellt.

Wie kann ich Sprach- und LesepatIn werden?

Überlegen Sie zunächst, mit welcher Zielgruppe Sie arbeiten möchten – zum Beispiel Kinder? Erwachsene? Geflüchtete? Wenn Sie mit Kindern lesen möchten, nehmen Sie Kontakt mit Büchereien, Kindertagesstätten oder Grundschulen auf. Wenn Sie mit Geflüchteten arbeiten möchten, sind Kirchengemeinden, Kommunen, Büchereien, Integrationszentren oder andere Einrichtungen der Flüchtlingsarbeit wichtige Anlaufstellen. Hier können Sie klären, ob es bereits einen LesepatInnenservice gibt oder ob Interesse besteht, einen aufzubauen.

Denn: Als Lesepatin oder -pate zu arbeiten ist auf jeden Fall eine bereichernde Aufgabe! Vielleicht auch für Sie?

– Einen Einblick in die Arbeit als Lesepatin erhalten Sie in der Handreichung Leseräume – Sprachräume – Begegnungsräume. Für die Broschüre hat das Projektteam Erfahrungen und Empfehlungen zusammenfasst und gibt Anregungen zum Nachmachen. Die Handreichung kann bestellt werden bei:
helga.schwarze@ekir.de

– Informationen über das Projekt Sprachräume – Büchereien für Integration inklusive Veranstaltungskonzepte und Arbeitshilfen zum kostenfreien Download lesen Sie unter www.sprachraeume.ekir.de

– Informationen zum Projekt Sprachtreff – für Integration auf dem Land finden Sie unter www.sprachtreff.ekir.de

Diese Projekte werden aus Mitteln des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds kofinanziert.

Judith Schumacher hat Sozial- und Medienwissenschaften studiert und beim Evangelischen Literaturportal eine Ausbildung zur Fachfrau für Büchereiarbeit, Literaturvermittlung und Leseförderung gemacht mit abschließender Prüfung zur Bücherei-Assistentin im kirchlichen Dienst. Als Mitarbeiterin im EU-Projekt „Sprachräume – Büchereien für Integration“ unterstützte sie die Pilotbüchereien in ihrer Arbeit. Im Projekt „Sprachtreff – für Integration auf dem Land“ betreut sie die Sprachtreffs in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Rheinland-Pfalz.

Helga Schwarze ist Diplom-Bibliothekarin. Sie leitet die Büchereifachstelle der Evangelischen Kirche im Rheinland, begleitet in ihrer Arbeit circa 1.300 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und bildet sie aus und fort. Im Rahmen der beiden EU-geförderten Projekte „Sprachräume – Büchereien für Integration“ und Sprachtreff – für Integration auf dem Land“ hat sie die fachliche Leitung inne.

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