Ausgabe 2 / 2019 Material von Birgit Mattausch

Regen – Slam

Von Birgit Mattausch

Und wie vom Geruch des Mokkas, wenn er aufkocht in meiner kleinen Kanne mit dem roten Stiel.


Als Marina Abramovic schwimmen lernen soll, ist sie sechs Jahre alt, der Vater setzt sie in ein Boot und fährt mit ihr hinaus aufs Meer. Dort wirft er sie über Bord und rudert davon. Als sie dann untergeht, dann fast stirbt, dann schwimmt, rudert er weiter, sie folgt dem Boot. Der Vater zieht sie hinein, aber ohne sie anzusehen.

Dass das Vertrauen wie Regen wäre, fiele auf das Meer. Machte kleine Einbuchtungen auf seiner Oberfläche. Noppen zum Festhalten.

Wir sind die Kinder des Krieges. Immer noch. Vielleicht nicht Ihr. Aber ich und alle, die älter sind als ich. Deren Eltern und Großeltern Partisaninnen waren oder Nazis. Mitläufer. Täterinnen. Verfolgte. Und alles dazwischen. Das Misstrauen hat sich in unsere Seelen gekrallt. Unsere Eltern haben uns allein gelassen, ohne es zu merken. Sind fortgerudert in unsichtbaren Booten. Waren da und waren weg.

Wir, ihre Kinder, halten uns an der Meeresoberfläche mit To-do-Listen, Yoga, Therapien, Diäten, Hausbau, Karrieren und Carearbeit, bis wir nicht mehr können. Und manche von uns mit Vorstellungen von einem Deutschland, das es nie gab. Maß und Mitte. Keine Fremden. Nicht immer diese Frauen und Queers. Und sichere Außengrenzen. Das Ertrinken der anderen seltsam egal.
Wir sind die Kinder und Kindeskinder des Krieges.

Dass das Vertrauen wie Regen wäre, fiele auf unsere Angst. Fiele auf Stacheldraht, Meere, Gesetze. Fiele auch auf Salvini, Seehofer, Putin, Le Pen. Leise und stetig. Ohne Unterlass.
Dass das Vertrauen ganz von jenseits des Himmels wäre. Nicht von uns gemacht und nicht erarbeitet und nicht verdient.
Wie Regen.

Dass das Vertrauen ganz von hier wäre und ganz alltäglich – wie der Geruch von Mokka, wenn er aufkocht – in meiner kleinen Kanne mit dem roten Stiel.

Vertrauen ohne Konjunktiv fällt am Ende eines sehr heißen Tages aus dem Schwarz des Himmels in die Straße. Leise und stetig. Lange. Es sprenkelt den Asphalt. Bleibt hängen in den Bäumen. Es rinnt in meinen Kragen und in die Hoodies und Sneakers, fällt auf die Kopftücher und Ballonseidenhosen. Es füllt die Vertiefungen zwischen den Kopfsteinpflastersteinen. Fällt und fällt.

Wir stellen alles, was wir haben, hinaus auf die Fensterbretter und Balkone und Gehwege: Töpfe, Tassen, Teegläser, Schnapsgläser, Babybadewannen. Wir fangen das Vertrauen darin auf. Wir trinken es pur, waschen unsere Augen und die Füße unserer Alten. Wir taufen, spülen und planschen.

Vertrauen fällt und fällt. Die ICEs bleiben in den Bahnhöfen stehen, die Flugzeuge heben nicht ab. Die Straßen werden gesperrt. Wir können eine Weile nur zu Fuß gehen, und das ist gut. Weil Vertrauen Zeit braucht und Geduld.
Wir verpassen Termine. Bleiben so lang an einem Ort, dass es sich endlich lohnt, den Koffer auszupacken.

Fällt und fällt. Bis unsere Haare durchnässt sind, unsere Kleider. Wir fühlen es am ganzen Körper – am meisten hier im Nacken. Wo die Angst sitzt, nicht genug zu sein, die Panik unterzugehen.
Dorthin fällt das Vertrauen.

Es ist warm und es hat so viele Namen wie der Regen: Gnade heißt es, Erlösung, Love, bedingungsloses Grundeinkommen, Segen. Es heißt Wahrheit, richtig guter Sex und Scheißegal-ich-lass-das-jetzt-so.

Vertrauen wie Regen und ohne Konjunktiv. Und wenn selbst ich dann für einen Tag ohne Angst bin, aufwache ohne Stein auf der Brust und ohne schlechtes Gewissen – dann koch ich Mokka für dich und für mich und für Marina Abramovic und ihren Vater und meinen. Ich koche ihn in der kleinen Kanne mit dem roten Stiel. Aus Vertrauen wie Regen koch ich ihn und aus Espressopulver und mit sehr viel Zucker. Und das mach ich schon jetzt. Und dann nehmen wir ihn mit auf unser Boot. Sea Watch 4
Und wir fahren hinaus und ziehen alle an Bord, die es brauchen.

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