Ausgabe 2 / 2021 Artikel von Elisa Klapheck

Jüdisch-Politisches Lehrhaus

Jüdische Tradition und die Politik der Gott-Mensch-Begegnung

Von Elisa Klapheck

Als ich die Rede anlässlich der Eröffnung des Jüdisch-Politischen Lehrhauses am 8. März 2017 im Frankfurter Stadthaus zum Thema „Die politische Tradition des Judentums“1 hielt, traf ich dort viele mir bekannte Menschen. Menschen aus dem jüdischen Leben. Menschen, die zum jüdischen Leben dazugehören, auch wenn sie selbst keine Jüdinnen* sind. Und ich sah noch mehr neue Gesichter – Gesichter von Menschen, die einen Zugang zu jüdischer Tradition suchen. Das zeigte mir, wie wichtig es ist, das Judentum im allgemeinen gesellschaftlichen Dialog mitzunehmen.

Nicht alles, was Jüdinnen* machen, ist schon „jüdisch“ oder „jüdische Tradition“. Nicht alles, was auf Italienisch gesungen wird, ist italienische Oper – und man muss auch nicht Italiener*in sein, um italienische Oper zu lieben – ebenso muss man nicht Griechin* sein, um von der griechischen Philosophie her die Demokratie zu begründen. Genauso muss man auch nicht Jüdin* sein, um die politische Tradition des Judentums zu bejahen. Für eine Auseinandersetzung mit dieser möchte ich ein häufiges Missverständnis ausräumen. Die jüdische Tradition ist nicht das Erste Testament – also die Bibel minus das Zweite Testament. Es ist ganz falsch zu meinen, die Hebräische Bibel sei schon das Judentum. Es stimmt, dass es ohne die Bibel kein Judentum gäbe – aber dieses ist nicht identisch mit dem Ersten Testament, sondern die Folge eines dialektischen Prozesses zwischen dem, was Gott der Bibel zufolge will, und der kritischen Auseinandersetzung damit vonseiten der Menschen.

In der Antike wurde dies durch die rabbinische Diskussionskultur geleistet. Ihr wichtigstes Werk ist der Talmud. Christ*innen, die sich im jüdisch-christlichen Dialog engagieren, betonen zumeist was sie mit dem Judentum gemeinsam haben – das Erste Testament, also die Bibel minus das Zweite Testament. Im Nebel bleibt bei der Betonung des Gemeinsamen das, was anders war, was anders ist: die rabbinische Kultur und der Talmud, die sich parallel zum Neuen Testament und dem Wirken der Kirchenväter als ganz anders gelagerte jüdische Tradition mit ihrer wichtigsten Grundlage entwickelten. Fundament jüdisch-politischer Tradition ist danach eine Dialektik von Bibel und Talmud – beziehungsweise von Gottes Willen in der Tora und der kritischen Auseinandersetzung damit. Ohne diese Dialektik ist die politische Tradition des Judentums nicht zu verstehen.

Die rabbinische Auseinandersetzung mit der Bibel war immer kritisch. „Kritisch“
ist in keinem negativen, sondern einem konstruktiven Sinn zu verstehen
– in einer konstruktiven Spannung zur Bibel, in der Rabbinen anhand der gesellschaftlichen Wirklichkeit neue Akzente und eigene Ansichten gegenüber Gott einbringen. Sie brachen die Beziehung mit Gott und Gottes Forderungen keineswegs, sondern stärkten sie, indem sie Gott als ein selbstbewusstes Gegenüber begegneten. Die talmudischen Rabbinen haben den Willen Gottes in der Tora ernst genommen – und zugleich an der Lebensrealität gewogen. Damit schufen sie eine religiöse Tradition, die von vornherein, weil sie von der Weltlichkeit her argumentiert, säkular ist. Die jüdische Tradition ist religiös, weil sie säkular – weltlich ist.

Das aus dieser Dialektik gewachsene Judentum ist also keine ungebrochene Fortsetzung der Tora, sondern ein kritisch-konstruktiver Umgang mit ihren Ideen – ein kritisches Spannungsverhältnis der Menschen zum Höchsten, zu Gott, der Transzendenz, um die Position des Menschen in der Welt zu bestimmen. In dieser Dialektik ist nicht alles schon einmal gesagt worden, als wäre das früher in der Bibel schon Gesagte nur in zeitgemäßem Gewande zu wiederholen. Vielmehr vermag sich die aus dieser Dialektik entstandene Tradition zu revidieren. Jedoch in einem Prozess, der das Alte nicht verdrängt, sondern es als Teil der Dialektik mitnimmt und kontextualisiert. Die Mensch-Gott-Beziehung bleibt als eine dialektische Beziehung fortbestehen. Diese Dialektik ist die Basis der politischen Tradition des Judentums.

Sie kann, weil sie jeweils entsprechend gesellschaftlicher Herausforderungen konstruktiv-kritisch mit Gott umgeht, kritisch gegenüber gesellschaftlichem Geschehen sein. Deshalb ist sie auch kritisch gegenüber Autoritäten. Nicht unbedingt feindselig – konstruktiv-kritisch eben. Sie kann aus der dialektischen Beziehung heraus Dinge benennen, erkennen. Nicht durch die Aufkündigung des Verhältnisses zu Gott, sondern durch die Weiterentwicklung in der Dialektik.

Nach einer religiös-säkularen Auffassung ist der Bund, der am Sinai geschlossen wurde, kein singuläres historisches Ereignis – sondern besteht in neuen Formen, im säkularen Bewusstsein weiter. Die vielen Jüdinnen*, die sich politisch engagieren, tun dies oft aus dieser religiös-säkularen Bindung – aus einem Selbstverständnis, das sich Gott verpflichtet weiß und zugleich neue Akzente und Vorstellungen setzt.

Diese politische Tradition des Judentums war immer anteilig an der Geschichte,
an den großen demokratischen Schüben wirksam. Manchmal vermittelt über das
Christentum oder in Distanzierungen von diesem, oder an das jüdische
religiös-säkulare Erbe anknüpfend. Die biblische Geschichte vom Exodus
der versklavten Israelit*innen aus Ägypten war Blaupause für viele freiheitliche Revolutionen, der Bundesschluss am Sinai inspirierte historische Verfassungsdebatten, die rabbinisch-talmudische Diskussion über die menschliche Ebenbildlichkeit Gottes zeichnet heutige Vorstellungen von Menschenwürde.

Eine Reihe jüngerer Autor*innen benennt das politische Erbe der jüdischen Tradition. Eric Nelson zum Beispiel legt in „The Hebrew Republic“ dar, wie sich englische und niederländische Denker des ausgehenden Mittelalters von der jüdischen Rechtstradition inspirieren ließen und daher Republik, Reformen, Religionsfreiheit begründeten. Protagonist*innen dieser revolutionären Entwicklungen wurde oft vorgeworfen zu „judaisieren“ – Judenknechte zu sein – wie David Nirenberg in „Anti-Judaismus“ darlegt. Die revolutionären Forderungen liefen auf Gleichberechtigung für Jüdinnen* hinaus, waren gleichzeitig begründet im politischen Erbe des Judentums und schrieben dieses fort. Untragbar für viele.

Mein Wunsch ist es, den Anteil der jüdisch-politischen Tradition sichtbar zu machen – wie er unsere demokratische Gesellschaft mitgeschaffen hat und immer noch mitgestaltet. Ein Lehrhaus – das Lehrhaus, das von Anfang an zur rabbinischen Kultur gehörte, in dem ein Diskurs entsteht, bei dem wir alle durch die Auseinandersetzung lernen.

Ich möchte zwei Aussagen des talmudischen Gelehrten Samuel mitgeben, der im 3. Jahrhundert in der Stadt Nehardea lebte und in welchem viele Jüdinnen* einen Ausgangspunkt für die Emanzipation der Jüdinnen* in der Diaspora und eine säkulare Auffassung sehen.

Das erste Zitat entstammt der großen talmudischen Debatte über den Messias. Was können wir von der messianischen Zeit, der besseren kommenden Welt, erwarten? Ist es eine Welt nach der Welt? Ist es eine Welt, die schon jetzt im Werden ist, die wir selber verwirklichen? Oder woher kommt sie? Abrupt? Oder im Wege der kleinen Schritte? Samuel nahm in dieser Debatte eine äußerst reservierte Haltung ein. Er warnte vor Illusionen und sagte: „Es gibt keinen anderen Unterschied zwischen dieser Welt und den messianischen Tagen, als die Knechtschaft der Regierungen, denn es heißt: ‚nie wird der Dürftige im Lande aufhören‘ (Deu. 15,11).“2 In der messianischen Zeit hört nicht die Arbeit auf, sondern die Herrschaft – wir werden keine Herren über uns haben.

Die zweite Aussage Samuels bezieht sich auf Dina deMalchuta Dina = „Das Gesetz der Regierung ist das Gesetz“.3 Es bedeutet, dass Jüdinnen* die Gesetze des Landes akzeptieren, zugleich ihre eigene Rechtstradition haben. Sie wirken mit am Staat und sind zugleich aufgrund ihrer eigenen Rechtstradition in einem Diskurs mit Gott gebunden – was sich in einer kritischen Dialektik zum Staat spiegelt.

Diese Einstellung ist eine Bedingung für Demokratie.

Anmerkungen
1)
www.elisa-klapheck.de/vortraege-und-aktivitaeten
2) Schabbat 63a.
3) Malchuta = Regierung, Land, Königreich, Staat. Dieses Diktum kommt viermal im Talmud vor (Ned 28a, Git 10b, BK 113a, BB 54b/55a) und mindestens 25 Mal im Schulchan Aruch.

Prof. Dr. Elisa Klapheck ist Rabbinerin und engagiert sich für die jüdisch motivierte Auseinandersetzung des Verhältnisses zwischen Politik und jüdischer Tradition. Ein Forum hierfür sind z.B. ihre Machloket/Streitschriften mit „Säkulares Judentums aus religiöser Quelle“ und „Bürgerschaftliches politisches Engagement als jüdische Praxis“.

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