Ausgabe 1 / 2022 Bibelarbeit von Christiane Wüste

Abrahams Aufbruch und andere Erfahrungen von Aufbrüchen

Von Christiane Wüste

Da ist einer, der hört einen göttlichen Ruf zum Aufbruch, dazu eine fast unglaubliche Verheißung – und macht sich direkt auf den Weg, nimmt alle und alles mit, was zu ihm gehört, und kommt schließlich am Ziel an. Welch eine Erfolgsgeschichte! Vielleicht klingt diese Erzählung aus Gen 12,1-5 beeindruckend und nachahmenswert. Aber die Bibel ist nicht als moralisches Lehrbuch von „Superhelden“ zu lesen, denen wir unbedingt nacheifern sollen. Ja, sicher gibt es Menschen, die Gottes Ruf hören und daraufhin alles stehen und liegen lassen und unmittelbar aufbrechen. Daran ist nichts Falsches. Es ist aber leider viel zu häufig, dass biblische Texte vorschnell moralisch verzweckt werden nach der Devise: „Sollten wir nicht alle so mutig und gottergeben wie Abraham und jederzeit bereit sein, Gottes Ruf zu folgen?“. Dieses idealisierte Abrahambild, diese Lesart von Gen 12 zeichnet nicht nur ein überhöhtes Bild von Berufung, es ist auch einfach nur die halbe Wahrheit.

 

Denn Abraham war schon mal aufgebrochen, aber auf halbem Wege stehen geblieben (Gen 11,31). Zusammen mit seiner Großfamilie war er aus Ur in Chaldäa, d.h. dem südlichen Mesopotamien, losgezogen, um nach Kanaan am Mittelmeer zu gelangen.1 Dabei machten sie in Haran, im nördlichen Mesopotamien, Station und blieben einstweilen dort.2 Warum sie dort hielten, wird nicht erzählt. Es ist eben dort, in Haran, auf halber Strecke des ursprünglichen Wegs, wo Abraham nun diesen Ruf Gottes bekommt, den wir in Gen 12,1-3 lesen, um dann wirklich bis nach Kanaan zu ziehen. Nur: Diesen Anfang der Geschichte Abrahams hört man selten. Weder in der katholischen noch der evangelischen Liturgie hat er einen vorgesehenen Platz, d.h. wer nicht selbst in der Bibel liest, kennt die Geschichte kaum. Meist ist es die „Erfolgsgeschichte“ des vertrauensvoll und ohne Zögern aufbrechenden Abrahams, die verkündet wird.

Eine Andacht zu Gen 12,1 finden Sie bspw. in leicht & SINN 1/2018: LechLecha
von Regine Lünstroth, Geertje Bolle
.

Doch warum hören wir in Liturgie und Kirche nur diese (halbe) Erzählung? Im Alltag gibt es oft das gleiche Phänomen: Es wird von Erfolgen gesprochen, nicht aber von den Schwierigkeiten auf dem Weg. Das Gelingen wird erzählt, das Vergebliche bleibt im Schweigen. Dabei sind biblische Texte gerade deswegen so wertvoll, weil sie genau diese Ambivalenzen zur Sprache bringen und aushalten, weil ein Abraham für das Stehenbleiben, aber auch das (erneute) Aufbrechen stehen kann. Wie schön (und biblisch) wäre es, wenn solche Ambivalenzen, das Gebrochene und Fragmentarische auch in Liturgie und Verkündigung der Kirche ihren Platz haben dürften.

In Gen 12 bricht Abraham also auf, ein zweites Mal. Er macht sich auf den Weg, nimmt alles mit. Er fragt nicht, er zögert nicht. Wir kennen nicht seine Motive. Die Bibel erzählt selten das Seelenleben ihrer Figuren. Sie ist auch keine Biographie einer historischen Person mit Namen Abraham, sondern Zeugnis verdichteter Gotteserfahrungen von Menschen aus verschiedenen Zeiten. Die Bibel erzählt hier von Gott, Gott ruft beharrlich weiter und bleibt Menschen treu, auch wenn diese eigene Wege gehen oder einfach stehen bleiben. Was an dieser Erzählung in Gen 12 fasziniert, ist die Art, wie Gott Abraham anruft, obwohl dieser schon mal aufgebrochen und stehen geblieben war. Da sind keine Vorwürfe, da ist nur ein beharrliches Auffordern und Ermutigen. Das sagt mehr über Gott als über Abraham.

Gen 12 enthält noch eine weitere Ebene: Abraham ist eine literarische Figur, eine Identifikationsfigur, die vielfältige Erfahrungen des Volkes Israel aus späteren Zeiten bündelt. So verarbeitet Gen 12 den Aufbruch bzw. die Rückkehr Israels aus dem Exil in Babylon. Natürlich war der Weg Israels ins Exil keineswegs freiwillig, doch das Leben in Babylon ist nicht als Gefangenschaft im engeren Sinn vorzustellen. Die Lebensbedingungen dort waren so, dass sich Israel auf die Dauer sogar einlebte und nach dem Machtverlust der Babylonier und der damit einhergehenden Rückkehrmöglichkeit nicht unbedingt wieder zurückkehren wollte. Die Menschen hatten in dem ca. halben Jahrhundert der Exilszeit ein neues Leben aufgebaut, waren sozial und wirtschaftlich integriert. In dieser Situation versuchte die Erzählung von Abrahams Aufbruch zum Weg ins Verheißene Land zu motivieren: So wie sich auch Abraham auf den Weg von Chaldäa (was Babylonien entspricht) aufgemacht hat, sollten auch die Exilierten von Babylon in ein ihnen unbekanntes Land aufbrechen. Dass Abraham scheinbar so leichtfertig losgezogen ist, ist als Gegenbild zu Israel zu verstehen, das sich gar nicht leichttat, die neue Heimat in der Diaspora aufzugeben. Dass Israel mehrfach dazu aufgefordert wird (vgl. bspw. auch Jes 48,20; 52,11f), wieder ins Land Israel zurückzukehren, zeigt deutlich, wie schwierig es sein kann, aufzubrechen und loszulassen. Mit jedem Aufbruch ins Unbekannte ist ein Risiko verbunden. Aufbruch hat auch immer etwas mit „Bruch“ zu tun, mit dem Abbrechen von Vertrautem. Nur wenn Altes zurückgelassen wird, kann Neues erreicht werden – manchmal ist das schmerzhaft, manchmal ist das heilsam. Da beim Aufbruch selbst eben nicht klar ist, ob der Gewinn oder Verlust überwiegt, bleibt der Aufbruch etwas zutiefst Ambivalentes.

Israel hat noch andere Erfahrungen mit Aufbrüchen: Die Wegführung ins Exil war ein erzwungener Aufbruch, der den Verlust von Land, Königtum und Tempel bedeutete. Zahlreiche biblische Texte (2 Kön 24f; 2 Chr 36; Jer 39. 52; auch z.B. die Klagelieder) zeugen von diesen schmerzhaften Ereignissen. Gleichzeitig hat dieser immense Einschnitt in die Geschichte Israels zu einer grundlegenden Transformation des Glaubens Israels geführt: Durch den Verlust bewährter Identitätsmarker und theologischer Deutungsmodelle gerieten zentrale Glaubenswahrheiten ins Wanken und wurden neu durchdacht und formuliert. Die Katastrophe der Exilierung hat einen überraschenden Prozess in Gang gesetzt, in dem Israel sich sehr produktiv mit seiner eigenen Identität und Theologie auseinandersetzte.3 So wurde der erzwungene Aufbruch Ausgangspunkt einer grundlegenden Erneuerung Israels. Natürlich darf das nicht in einem Sinne missverstanden werden, der Leid instrumentalisiert – und die Konsequenz darf auch nicht sein, Leiderfahrungen als „Chance“ zu beschönigen. Die Interpretation der eigenen Leiderfahrung liegt immer bei den Überlebenden und nicht jede Krise ist eine Chance. Im Fall des Exils ist es Israel gelungen, nach dem schmerzhaften Aufbruch zu einer Neuinterpretation der eigenen Traditionen und Glaubensgewissheiten zu kommen. Dies trug zum Überleben des Volks Israel bzw. des damit entstehenden jüdischen Glaubens bei – ohne die leidvollen Erfahrungen zu verschweigen oder zu überdecken.

Israels Weg ins Exil verdeutlicht das transformative Potenzial von Aufbrüchen: Sie bergen die Notwendigkeit ebenso wie die Möglichkeit, bisherige Überzeugungen neu zu denken und das Leben neu zu gestalten. Diese positive Einstellung Neuem gegenüber wird im Jesajabuch in anschauliche Bilder gebracht: Israel soll ein neues Lied singen (Jes 42,10), die Wüste wird verwandelt zu neuem Leben (Jes 41,18-20; Israel bekommt einen neuen Namen (Jes 62,2), es wird ein neuer Himmel und eine neue Erde verheißen (Jes 65,16-25). Jes 43,18f fasst zusammen: „Denkt nicht mehr an das, was früher war […]. Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht?“

Ein weiterer Aufbruch ist zentral in Israels Geschichte: Der Exodus, der Auszug aus der Unterdrückung in Ägypten. Dieser Aufbruch ist aus der Not geboren, er ist die Folge der Versklavung Israels. Der Weg von Ägypten ins Verheißene Land ist somit zwar ein Weg in die Freiheit, aber auch diese Erzählung sperrt sich gegen eine Überhöhung allen Wandels. Der Weg in die Freiheit bedeutet für Israel einen Verlust an Sicherheit, selbst wenn die Sicherheit im Leben als Unterdrückte und Versklavte besteht. So sehnt sich das Volk angesichts der Ungewissheit nach dem Aufbruch wieder nach den „Fleischtöpfen Ägyptens“ (Ex 16,3). Der Aufbruch in die Freiheit, so heilsam er ist, ist nicht einfach nur positiv. Die Mühen, die der Weg in die Freiheit mit sich bringt, werden deutlich benannt. Von den vielen Herausforderungen, aber auch Freuden auf dem Weg in die Freiheit erzählen ausführlich die Bücher Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium: Das Leben in Freiheit muss erlernt und eingeübt, die neue Gesellschaft gerecht gestaltet werden (dafür braucht es bspw. Weisungen/ Gebote). Gleichzeitig muss diese Geschichte der Befreiung immer wieder erinnert werden. Das ist der Inhalt des PessachFestes und der vielfachen biblischen Mahnung: „Gedenke/Vergiss nicht“ (vgl. Dtn 4,9; 5,15; 6,12; 8,14; 32,7 u. ö.). Der Aufbruch, aber auch die Zeit vor dem Aufbruch, darf nicht vergessen werden: Auch hier wird die Ambivalenztoleranz biblischer Texte deutlich. Die Einschärfung des Erinnerns hat ebenso Bedeutung wie die Ausrichtung auf das Neue. Am Ende des Buches Exodus steht das Bild vom mobilen Heiligtum Gottes, in dem Gott mitten unter den Menschen gegenwärtig und gemeinsam mit ihnen unterwegs ist – eine Zusage, die weit über den eigentlichen Exodus hinaus Relevanz hat.

Was der Aufbruch Abrahams, aber auch die anderen Aufbrüche Israels – ob schmerzhaft oder heilsam, erzwungen oder herbeigesehnt – deutlich machen, ist: Gott begleitet durch alle Aufbrüche, Abbrüche und Transformationen. Gott geht mit und verwandelt Unterdrückung in Freiheit und Tod in Leben.

Dr. Christiane Wüste ist Referentin für biblische und liturgische Bildung im Haus Ohrbeck im Bistum Osnabrück

Anmerkungen
1) In Gen 11,31 klingt es, als sei Terach mit seiner Großfamilie aus eigenem Antrieb nach Kanaan aufgebrochen. In Gen 12,1-3 fordert Gott Abraham dazu auf. Mglw. erübrigt sich vielleicht das Aufwiegen der Angaben: In Gen 15,7 wird rückblickend erzählt, dass Gott Abraham „aus Ur in Chaldäa herausgeführt“ habe.
2) Diese Reise von ca. 900 km ist keine gewöhnliche Strecke für Kleinviehnomaden wie Abrahams Sippschaft. Bei der Suche nach Futterland waren ihre Bewegungen viel kleinräumiger.
3) In der Exilszeit entstand eine große Zahl von biblischen Texten, die diese Katastrophe theologisch verarbeiteten. Gleichzeitig bildeten sich abseits von Identitätsmarkern wie Tempel und Königtum neue Zeichen der Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft (bspw. Beschneidung, Feier des Sabbats). Es entwickelten sich Synagogengottesdienste, sodass Gott unabhängig vom Tempel verehrt werden konnte.

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit
ca. 90 min

1. Entdeckungen im vorangehenden Artikel
Lesen Sie den vorangehenden Text zu Aufbrüchen im Ersten Testament. Sammeln Sie Resonanzen und Fragen dazu. Besprechen und klären Sie diese in der Gruppe.

2. Entdeckungen zur literarischen Ebene von Gen 12
Die Erzählung vom Aufbruch Abrahams ist keine historische Wiedergabe oder Biographie. Trotzdem lohnt es sich, sich auf der literarischen Ebene in die Figuren der Erzählung hineinzuversetzen.

Lesen Sie zunächst gemeinsam die Erzählung in Gen 12,1-5. Bilden Sie drei Kleingruppen. Jede Gruppe versetzt sich in eine Figur der Erzählung hinein:

Gruppe A (Abraham):
Wie ist es für dich, Abraham, alles stehen und liegen zu lassen und aufzubrechen? Wie ist es, so eine große Verheißung zu hören?

Gruppe B (Sara):
Wie ist es für dich, Sara, aufzubrechen, ohne vorher gefragt worden zu sein? (Worauf) Kannst du vertrauen?

Gruppe C (ein Bewohner der Stadt Haran):
Wie ist es für dich, Bewohner Harans, zu sehen, dass andere aufbrechen?

Hören Sie innerhalb der Kleingruppe die verschiedenen Antwortmöglichkeiten und tauschen sich darüber aus. Abschließend kann ein Austausch in der Großgruppe erfolgen.

3. Entdeckungen auf der biographischen Ebene
Je nach Vertrautheit der Gruppe und zeitlichem Rahmen können die folgenden Fragen in Einzelarbeit und/oder im (anschließenden) Austausch bedacht werden:
– Wo habe ich in meinem Leben Aufbrüche erlebt? Waren sie freiwillig oder notgedrungen? Was hat den Aufbruch motiviert? Bin ich am Ziel angekommen oder habe ich den Weg unterbrochen, abgebrochen?
–  Gab es schmerzhafte oder heilsame Abschiede bzw. Neuanfänge?
–  Habe ich Gottes Begleitung gespürt? Bin ich irgendwo angekommen oder steht (wieder) ein Aufbruch an?

4. Entdeckungen im größeren Kontext
Tauschen Sie sich in der Gruppe zu folgenden Fragen aus:
Wenn ich auf Kirche und Gesellschaft schaue:
–  Wo gibt es freiwillige oder erzwungene Aufbrüche?
–  Wo gibt es Wandel und Transformation?
–  Wo stehen sie noch aus und wären nötig?

 

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