Alle Ausgaben / 2011 Artikel von Kirsten Beuth

Alle Wohlgerüche des Orients

Ein Bummel über den Wiener Naschmarkt

Von Kirsten Beuth

Die Sonne scheint. Ein Frühlingstag, der schon eine leise Spur von Sommer in sich trägt, hat mich auf den Wiener Naschmarkt gelockt. Ich liebe die Atmosphäre auf dem wohl bekanntesten Markt der österreichischen Hauptstadt.

An Sonnabenden lohnt auch ein Bummel über den angrenzenden Flohmarkt, der das Areal der Handel Treibenden einmal wöchentlich ergänzt. Trödelprofis und Laien unterschiedlichster Herkunft offerieren nahezu alles, was zum Leben dazu gehört. Die Herstellung der Leuchter und Vasen datiert der Standler in die Zeit des Architekten Otto Wagner, dessen Jugendstil-Häuser dem bunten Treiben eine prachtvolle Kulisse geben.

Hinweis für die Leiterin: Laden Sie die Gruppe ein, die Autorin auf ihrem Bummel über den Wiener Naschmarkt zu begleiten. Sie können dazu den Beitrag komplett oder in Auszügen vorlesen und auch die folgenden Impulse zur Unterbrechung aufgreifen.

Auch wenn Name und angebotene Waren auf dem Naschmarkt ein Hinweis auf genüsslichen Verzehr sind, so ist der Ursprung des Wortes durchaus umstritten und hat nichts mit „naschen“ zu tun. Historische Spuren führen eher zu dem Begriff „Aschen“, der von den früher verwendeten Milchkannen abgeleitet ist. Die Assoziation von Köstlichkeiten und Wohlgerüchen verbindet sich jedoch in meinem Kopf unweigerlich und lässt jegliche historische Herleitung verblassen und unwichtig sein.
Marktfrauen und -männer bieten täglich von sechs Uhr in der Frühe ihre Waren an. Es ist alles erhältlich, was für die orientalische Küche benötigt wird: frisches Gemüse, Lammfleisch, Gewürze, Nüsse, bei Bedarf auch Heilkräuter und Wasserpfeifen. „Die besten Falafel bei uns!“ – „Frischer Ingwer!“ – „Bitte probieren: köstliche Oliven!“ Getrocknete Zitronen, Ananas, Feigen und Datteln, frische Mangos, Algenblätter, Okara, Bittermelonen, Melanzien oder Gewürze wie weißer Sesam, Sternanis, Kurkuma, Safran, Koriander verführen zum Kosten, Riechen und Kaufen. Gewogen wird nach Dekagramm. 1 dag = 10 Gramm, eine Maßeinheit, die in den 1950er Jahre in Österreich eingeführt wurde und noch heute beim Kauf von Lebensmitteln Verwendung findet.

– Impuls: Sind Sie auch schon einmal über einen orientalischen Markt geschlendert? Wann und wo war das? Woran erinnern Sie sich besonders?

Von einem Babel fremder Sprachklänge begleitet wandle ich weiter und mache vor dekorativ drapiertem Türkischem Honig, den mit Zuckersirup und Zitronensaft gefertigten Tulumba und Baklava, einem aus Filoteig mit Walnüssen, Mandeln und Pistazien gefüllten Gebäck, halt. Diese und ähnliche Süßigkeiten sind im gesamten Nahen Osten und auf dem Balkan in unterschiedlichen Varianten mit Zimt, Nelken, Kardamom oder Rosenwasser bekannt.

Nicht nur die Auslagen locken, sondern auch kleine Imbissstände und Cafés. So zum Beispiel das „Orientoccident“. Ich bestelle also Baklava und als Kontrast zur üppigen Süße einen „Großen Braunen“. Auf der Speisekarte ist neben Wiener und Türkischem Frühstück auch eine orientalische Variante mit Lepinibrot, Honigbutter mit Walnuss, Humus, Schafskäse, Oliven, Tomaten, Gurken und Modjul-dattel zu finden.

– Impuls: Bieten Sie entsprechende Speisen zum Verkosten an.

Auf meine Frage nach dem Namen des Restaurants erzählt mir der freundliche junge Kellner, dass die Besitzer zwar in Österreich aufgewachsen seien, aber orientalische Wurzeln hätten. Die Frage, was er denn unter „orientalisch“ verstehe, beantwortet er lächelnd: „Wenn ich ehrlich sein soll, orientalisch ist vielleicht eine etwas offenere, herzlichere Art des Umgangs.“ Und was genau meint er mit „orientalisch“, woher kommen die Betreiber des „Orientoccident“? „Aus der Türkei natürlich!“

Feindschaft und Faszination

So werde ich auf den weiten Begriff „Orient“ oder auch „Morgenland“ verwiesen: die vorderasiatischen Hochkulturen im mediterranen Orient – Ägypten, Palästina und Griechenland – gelten als Ursprung der Zivilisation des „Abendlandes“. Das Osmanische Reich beherrschte einst den gesamten Mittelmeerraum, war tonangebend in Kultur und Wissenschaft. Das Orientbild Europas wurde später jedoch vor allem durch die vordringenden Osmanen geprägt und erhielt in Wien durch zwei Türken-Belagerungen im 16. und 17. Jahrhundert eine besondere Zuspitzung. Es entwickelte sich eine Geschichte von Feindschaft und Faszination, rivalisierender Mächte und Religionen, zweier Imperien, die die europäische Geschichte durch Jahrhunderte geprägt haben. Kurz nach der siegreichen Beendigung der 2. Türkenbelagerung der Habsburger Hauptstadt im Jahre 1683 – wodurch die Gefahr aus dem Orient gebannt war – wich die Furcht, und es begann die Verklärung zu einer romantischen Traumwelt. Aus der Angst vor den Osmanen wurde Faszination, aus einer fremden Kultur eine exotische Mode, und ein neuer Wissenschaftszweig, die Orientalistik, entstand. Der Orient wurde zu einem bevorzugten Sujet der Genremalerei. Kaiserin Maria Theresia ließ sich in türkischen Gewändern abbilden, Kronprinz Rudolf richtete sich in der Hofburg ein „Türkisches Zimmer“ ein, und 1754 gründete Maria Theresia die Kaiserlich-königliche Akademie für Orientalische Sprachen. Es ist also nicht verwunderlich, wenn bei dem Wort „orientalisch“ zunächst an „türkisch“ gedacht wird.

– Impuls: Was fällt Ihnen spontan ein, wenn Sie an den Orient denken? Und welche Gefühle verbinden Sie damit?

Bis heute ist das Bewusstsein aus dieser Geschichte heraus geprägt, allen Besuchern der Stadt wird erklärt, dass eine der größten Glocken der Welt, die Pummerin des Stephansdoms, aus 180 erbeuteten türkischen Kanonen gegossen wurde. Und hin und wieder wird die Vergangenheit auch für rechts-populistische Ausfälle missbraucht.

Der Vielvölkerstaat, in dem schon Anfang des 20. Jahrhunderts 600.000 Muslime unter der Habsburger Krone lebten, hat durch seine multiethnische Großstadtgesellschaft viele lebens- und liebenswerte kulturelle Geschenke erhalten. Und natürlich gehört der Kaffee dazu. Mitte des 16. Jahrhunderts erreichte das schwarze Getränk als Importware Europa und erweiterte die Angebotspalette der Gewürzkrämer. Schon ab 1645 – zwischen der ersten und zweiten Türkenbelagerung Wiens – sind in den Rechnungen der Kaiserlichen Hofkammer Ausgaben für Kaffee an türkische Gesandtschaften verbucht.

– Impuls: Schenken Sie eine Runde Kaffee mit Kipfel aus.

Das erste Kaffeehaus nach türkischem Muster wurde allerdings in Venedig eröffnet. In Wien waren es zwei osmanische Staatsbürger aus Armenien, die 1697 die erste Kaffeesiederei und 1685 das erste Kaffeehaus gründeten. Gern wird dazu ein Kipfel gegessen, der an den Halbmond der Türken erinnert. Durch Marie Antoinette kam das Gebäck nach Frankreich und wurde dort zum Croissant. Der Duft des schwarzen Getränks ist seit jener Zeit an lauen Tagen ein steter Begleiter durch die Stadt.

Weihrauch und Zitronenöl

Gut gestärkt bummle ich nun weiter, um Orientalisches zu erschnuppern, und betrete ein kleines Geschäft. Der Raum, kaum größer als ein Wohnzimmer, gleicht einem Geruchstempel. Ein ganzes Regal beherbergt sorgsam beschriftete Räucherstäbchen. Die Inhaberin erzählt mir, dass Nag champa ein Jahrtausende alter, Entspannung und Belebung bringender Duft ist. Der Geruch der goldgelb oder weiß blühenden Champaca-Blume ist angeblich auch bei Brillenschlangen sehr beliebt. Fläschchen mit ätherischen Ölen aus Myrrhe, Jasmin, Zitrone oder Lavendel sind neben kleinen, etwas verstaubten Tüten mit Süßholz und Harzen der „Weihrauch Colophony“ zu finden. Die Aufschrift verspricht einen anregenden Pinienduft mit Citrus Aroma. Meine Nase wird noch auf Rosenöl- und Olivenseifen aufmerksam.

– Impuls: Duftproben reichen …

Harze wurden schon mit der Entdeckung des Feuers zur Abwendung böser Geister und zur Heilung von Krankheiten genutzt. Bald entwickelten sich Zeremonien für Geburten, Hochzeiten, Bestattungen und ein reger Handel mit Kräutern und Harzen setzte ein. So entstand durch die Weihrauchstraße ein internationaler Austausch zwischen Afrika, Arabien und Europa, zwischen Orient und Okzident. Diese Handelsstrecke ist zweifelsohne eine der bedeutendsten seit der Antike. Sie nahm ihren Anfang in Dhofar (heute Südoman), wo bereits vor mehr als 5000 Jahren Weihrauch geerntet und in der Folge von dort aus vor allem Mesopotamien, Syrien, Griechenland, Rom und Ägypten beliefert wurden.

In Europa spielte Weihrauch erst mit dem Bau von Kirchen eine Rolle. Die Standorte der Weihrauchbäume und die Methoden der Harzerzeugung wurden streng geheim gehalten, da sie eine enorme Geldquelle waren und das kostbare Gut mit Gold aufgewogen wurde. Auch nicht so bibelfeste ZeitgenossInnen verbinden mit Weihrauch das Weihnachtsfest und wissen, dass es eine der Gaben der drei Weisen aus dem Morgenland war, mit der das Kind Jesus beschenkt wurde.

Etwas unentschieden, welcher der zahlreichen Duftkomponenten ich mich zuwenden soll, bietet die Ladenbesitzerin Hilfe. Sie erklärt, dass Weihrauch lediglich ein Oberbegriff sei und bei ihr viele unterschiedliche Sorten, mit verschiedenen Wirkungen auf Geist und Seele zu beziehen seien. Schließlich drückt sie mir ein Tütchen mit einer, nach ihrer Meinung, zu mir passenden Sorte in die Hand. Auch Nag champa nehme ich, in der Gewissheit keine Kobra anzulocken, mit.

Auf dem Weg zur U-Bahn fällt mein Blick auf ein Schild mit der Aufschrift „Orientalische Spezialitäten – Firma Emanuel Y. Oeg“. Ich gehe auf das Pärchen hinter dem großen Tisch mit Gewürzsäckchen zu und frage, was bei ihnen die besonderen orientalischen Spezialitäten seien. Der Mann wechselt einen fragenden Blick mit seiner Partnerin. Ich deute auf die Inschrift über ihnen. „Ach so! Das gilt nicht mehr, schon seit ungefähr zehn Jahren“, sagt die Frau mit polnischem Akzent.

Dr. Kirsten Beuth, Jg. 1956, hat Kultur- und Theaterwissenschaften studiert und war Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Akademie der Künste der DDR. Viele Jahre hat sie als Studienleiterin am Frauen-studien- und -bildungszentrum der EKD gearbeitet, ab August 2011 ist sie Direktorin der Evangelischen Akademie Wien.

Die Impulse für die Gruppen hat Simone Kluge für den Redaktionsbeirat ahzw beigesteuert.

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