Wir leben in einer Phase der Um- und Neugestaltung und des Abbaus von arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Strukturen und sozialen Sicherungssystemen. Das betrifft nicht nur Deutschland, sondern viele europäische Länder.
Die sozialen Kürzungen treffen bei Frauen und Männern auf unterschiedliche Voraussetzungen und haben unterschiedliche Wirkungen. Frauen sind immer noch (oft) anders und härter betroffen als Männer. Erwerbsarbeit sichert für viele Menschen nicht mehr das notwendige Einkommen (working poor). Die Erwerbslosigkeit steigt ebenso wie die unbezahlte Arbeit. Und auf die Sozialversicherungen ist kein Verlass mehr, weil der Sozialstaat angeblich in die Krise geraten ist.
Die Forderung nach „Grundeinkommen“, das unabhängig von der jeweils geleisteten Arbeit an alle Personen gezahlt wird, die sich nicht aus eigener Arbeit oder Rente ernähren können – oder gar an alle Personen, unabhängig von der geleisteten Arbeit – ist die seit einiger Zeit populärste Antwort auf die nicht mehr ausreichend vorhandenen existenzsichernd bezahlten Erwerbsmöglichkeiten. Kaum eine andere Debatte wird so emotional und mit derart missionarischem Eifer geführt. Schon auf dem ersten Bundeskongress der Erwerbslosen 1982 in Frankfurt/M. hatten die von Erwerbslosigkeit Betroffenen die Forderung nach 1.500 DM Existenzgeld für alle zur Diskussion gestellt.(1) Wissenschaftler, die damals dem links-alternativen Spektrum zugehörten, entwickelten in den 1980-er Jahren Modelle für eine Existenzsicherung für alle, unabhängig von der geleisteten Arbeit,(2) und namhafte Politiker fragten nach der Tragfähigkeit dieser Reformidee.(3)
Angesichts von Hartz I–IV scheinen immer mehr BundesbürgerInnen überzeugt zu sein: „Wir brauchen ein Grundeinkommen für alle Menschen.“ Denn: In der Bundesrepublik Deutschland gerät das erwerbsabhängige soziale Sicherungssystem durch zunehmende Erwerbslosigkeit und Sozialabbau aus den Fugen. Immer mehr Menschen geraten in den Sog von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld (früher Sozialhilfe) oder werden von Partnern und Bedarfsgemeinschaften abhängig. Immer mehr Menschen leben in Armut, auch wenn sie Erwerbsarbeit leisten. Die ungleiche Verteilung der bezahlt und unbezahlt geleisteten Arbeiten und der ungleiche Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen trägt zunehmend zur Spaltung in Arme und Reiche, aber auch zur Spaltung zwischen den Geschlechtern bei.
Bei allen Vorstellungen zum Grundeinkommen geht es vor allem darum, die wachsenden Teile der Bevölkerung sozial abzusichern, die nicht oder zumindest über einen längeren Zeitraum nicht mit einer erwerbsabhängigen Existenzsicherung rechnen können. Dahinter steht die berechtigte Befürchtung, dass in absehbarer Zeit existenzsichernde Arbeitsplätze weiter abgebaut werden und in noch größerem Ausmaß prekäre Arbeitsverhältnisse und Niedriglöhne zusätzlich subventioniert werden müssen. Über Alternativen nachzudenken scheint nahe liegend. Gefordert wird es zunehmend von Menschen, die aus der Erwerbsarbeit ausgegrenzt worden sind. Eine wirkliche Utopie, um „in Freiheit tätig sein“(4) zu können, ist diese Forderung nicht. Genauso wenig, wie ein bezahlter Arbeitsplatz per se ein existenzsicherndes Einkommen garantiert, garantiert ein Grundeinkommen per se eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen oder gar eine freie Wahl des Jobs.
Die Situation der armen und ausgegrenzten Menschen ließe sich ohne Zweifel verbessern, wenn sie anstelle des Arbeitslosengeldes (ALG) II oder des Sozialgeldes ein existenzsicherndes Grundeinkommen erhalten würden. Der Gang zur Arbeitsagentur, zum Sozialamt, die Bedürftigkeitsprüfungen, die Abhängigkeit vom Haupternährer, von der „Bedarfsgemeinschaft“, vom Mini- und 1-€-Job mit Arbeitszwang, um nur einige Schikanen zu nennen, sind in der Tat diskriminierend und menschenunwürdig. Hartz IV als so genannte „Grundsicherung für Arbeitslose“ erfüllt nicht die Bedingungen, die an eine menschenwürdige Bedarfssicherung zu knüpfen sind. Zu Recht wird mit Blick auf Hartz IV immer wieder darauf verwiesen, dass Reformen ihren Namen verdienen müssen. Mit Blick auf Grundeinkommensmodelle ist darauf zu verweisen, dass auch „Alternativen“ ihren Namen verdienen müssen. Die Erwerbsarbeit, die auch weiter als notwendig vorausgesetzt wird, bleibt wie sie ist. Widerstand gegen menschenunwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen, geschlechtshierarchische Arbeitsverteilungen, sinnlose Produkte und Dienstleistungen, gegen Armut und Ausgrenzung und gegen Herrschaft von Menschen über Menschen wird auch dann notwendig sein, wenn Grundeinkommen durchgesetzt ist.
Nach dem Modell des „Netzwerk Grundeinkommen“ soll die Grundsicherung auf einem individuellem Rechtsanspruch beruhen und bedingungslos, existenzsichernd, ohne Bedürftigkeitsnachweis und ohne diskriminierende Kontrollen an alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen in gleicher Höhe gezahlt werden. Das entspricht dem Verständnis der Menschenwürde. Selbstverständlich sind solche Vorstellungen nicht: Einige Grundsicherungsmodelle sehen Bedürftigkeitsprüfungen vor, enthalten Einschränkungen für Menschen, die aus anderen Ländern kommen, und für Jugendliche und Rentner; manche scheuen auch vor Arbeits- oder Tätigkeitszwang nicht zurück. Abgesehen davon, dass Arbeitszwang nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland nicht zulässig ist, ist es auch lange Erkenntnis sozialer Arbeit, dass Zwang zur Arbeit als Strafe verstanden wird und damit verbundene Sanktionen kontraproduktiv sind.
Auch zur Höhe des Grundeinkommens gibt es bei den Modellen ganz unterschiedliche Vorstellungen. Nur durch ein Grundeinkommen in Höhe einer Existenzsicherung (nicht zu verwechseln mit Existenzminimum) kann verhindert werden, dass GrundeinkommensempfängerInnen in prekäre und schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse, in Niedriglohnbereiche und ins „Ehrenamt“ mit „Aufwandsentschädigung“ gedrückt werden. Emanzipatorische Freiräume zum Experimentieren mit alternativen Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten, mit selbstverwalteten und genossenschaftlichen Unternehmensstrukturen und sinnvoller, sozial und ökologisch verträglicher und auf friedliche Zwecke gerichtete Produktion können durch Grundsicherung nur dann geschaffen werden, wenn die Höhe der Leistungen existenzsichernd ist und wenn zusätzlich Informations-, Ermöglichungs- und Finanzierungsstrukturen für alternative Arbeitsformen geschaffen werden.
Aus feministischer Sicht ist kritisch zu hinterfragen, ob ein Grundeinkommen geeignet ist, die Diskriminierung von Frauen in Erwerbsarbeit und Haus- und Sorgearbeit abzuschwächen und den Sozialabbau zu stoppen, der bekanntlich wesentlich zu Lasten der Frauen geht. Freilich bekämen nach den meisten Modellen – anders als beim Arbeitslosengeld II – Menschen unabhängig vom Einkommen des Partners/der -Partnerin/der Bezugsgruppe Grundeinkommen bezahlt, wenn sie selbst keine oder keine ausreichend bezahlte Erwerbsarbeit haben. Die Gefahr, dass ein Teil der Menschheit mit (niedriger) Grundsicherung versehen zu Langzeit- oder Permanenterwerbslosen oder zu Hausfrauen wird, darf dennoch nicht übersehen werden.
Ebenfalls kritisch zu betrachten ist, dass bei einem solchen Modell nicht an der Zweiteilung der Gesellschaft gerüttelt würde: Alle bekommen Grundsicherung, aber wer einer Erwerbsarbeit nachgeht, bekommt mehr. EmpfängerInnen arbeitslosen Einkommens bleiben „Menschen zweiter Klasse“. Thomas Straubhaar, Chef des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts, sagte in einem Interview in der taz: Das Grundeinkommen „ist ökonomisch effizient, weil es als Universaltransfer alle anderen Umverteilungsinstrumente und insbesondere alle sozialpolitisch motivierten Eingriffe in den Arbeitsmarkt überflüssig macht. Und es ist finanzierbar, weil es nur das Existenzminimum sichert und damit starke Anreize setzt, durch eigene Arbeit möglichst viel dazuzuverdienen.“(5) Damit wäre endlich die von den Arbeitgebern erwünschte völlige Deregulierung erreicht.
Jedenfalls ist die Gefahr groß, dass vor allem Frauen am gleichberechtigten Zugang zu existenzsichernder sinnvoller Arbeit behindert werden, solange die Familienstrukturen bleiben wie sie sind und die Übernahme von Erziehungs- und Pflegezeiten nicht für beide Geschlechter „normal“ wird, bzw. eine bruchlose Gestaltung der Erwerbsbiographie bei gleichzeitiger Übernahme von Haus- und Sorgearbeit nicht möglich ist. Das politische Interesse an der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Familienstrukturen mit Haupternährer und Hausfrau oder Zuverdienerin bzw. „ehrenamtlich“ arbeitenden Frau ist ebenfalls groß. Wie groß, zeigt die aktuelle Diskussion um die angebliche Notwendigkeit der Hausversorgung von Kindern und Pflegebedürftigen. Freilich wären mit rehausfrauisierten und – mit Grundeinkommen versehenen – nebenbei im „Freiwilligensektor“ sozial und kulturell engagiert arbeitenden Müttern und pflegenden Töchtern vielfältige Probleme zu lösen. Diese Bereiche sind ebenso wie der religiös-caritative Bereich chronisch unterfinanziert. Sie erhielten durch Grundeinkommen indirekte finanzielle Fundierung. „Die Arbeit am Menschen [würde] -endlich bezahlbar.“(6) Sie wird in der häuslichen Altenpflege fast zu 100 -Prozent durch Frauen geleistet. In der Kindererziehung und -pflege sind es nur unbedeutend weniger.
Viele Frauen wollen sich das Recht auf eigenständige Existenzsicherung aus Arbeit nicht verwehren lassen. Sie verfügen heute über Ausbildungen und Qualifikationen wie keine Generation zuvor. Das Recht auf sinnvolle existenzsichernde Erwerbsarbeit ist auch ein Menschenrecht. Sozialistische und bürgerliche Frauenbewegungen haben lange dafür gekämpft. Und der Kampf ist noch nicht zu Ende.
Mit Grundeinkommen blieben die Ursachen für die sozialen Ungleichheiten in unserer Gesellschaft (zunächst) unangetastet. Und Armut ist bekanntlich nicht alleine ein materielles Problem. Wer behauptet, die Armut würde mit Grundeinkommen „abgeschafft“, übersieht, dass Grundeinkommen als isoliertes Modell die Arbeitsgesellschaft mit ihren kapitalistischen Marktmechanismen, Über- und Unterordnungen und geschlechts- und schichtspezifischen Arbeitsverteilungen und Lohnsystemen lässt, wie sie ist. Es setzt sogar eine gut funktionierende kapitalistische Wirtschaft voraus, wenn es durch „Sozialsteuer“ aus allen Einkommen, ohne Obergrenze (Opielka) oder durch die Mehrwertsteuer (Werner), finanziert werden soll.
Vielmehr brauchen wir alternative Konzepte zur traditionellen Vollbeschäftigung. Vollbeschäftigung hatte in unserer Gesellschaft ohnehin immer eine geschlechtsspezifische Verzerrung: Männer arbeiten voll in der Erwerbsarbeit – Frauen in der Familie oder sind „Zuverdienerinnen“. Das ist aus feministischer Sicht (und auch für viele Männer) nicht mehr erstrebenswert. Dass die Annahme vom „Ende der Arbeit“ falsch ist, beweisen die vielen „offenen Stellen“ in den unbezahlten oder schlecht bezahlten Frauenarbeitsbereichen.
Grundeinkommensmodelle müssen mit der Forderung nach radikaler Arbeitszeitverkürzung, nach Mindestlohn, nach menschenwürdigen und nicht fremdbestimmten freiwillig geleisteten Tätigkeiten und sinnvollen Produkten verbunden werden. Ohne eine Neubewertung, Neudefinition und Neuverteilung der sinnvollen Arbeit in allen Bereichen auf Frauen und Männer, individuell und kollektiv, erscheint das Emanzipationskonzept verfehlt. Angesichts der aktuellen politischen Lage wird es für die Zukunft immer wichtiger, Vorstellungen zu entwickeln, wie eine „andere Welt“ aussehen soll, in der Menschen friedlich ohne Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung und ohne Existenzängste zusammen leben können. Wir brauchen Menschen, die sich über die soziale Ungerechtigkeit empören, gegen Armut und Ausgrenzung zur Wehr setzen, die Mut haben, grenzüberschreitend zu denken und auch Handlungsstrategien zu entwickeln.
Dr. Gisela Notz, geb. 1942, hat Industriesoziologie, Arbeitspsychologie und Erwachsenenbildung studiert. Von 1979 bis 2007 arbeitete sie als wissenschaftliche Referentin in der Friedrich-Ebert-Stiftung, zunächst in der Abteilung Arbeitskräfteforschung, später Arbeits- und Sozialforschung, während der letzten elf Jahre war sie in der Abteilung Sozial- und Zeitgeschichte für Frauenforschung zuständig.
Anmerkungen:
1 Bundeskongreß der Arbeitslosen (Hrsg.):Arbeitsloseninitiativen der BRD und Westberlins, Frankfurt/M. 1983.
2 Michael Opielka / Georg Vobruda (Hrsg.): Das garantierte Grundeinkommen: Entwicklung und Perspektiven einer Forderung, Frankfurt/M. 1986.
3 Vgl. z.B. Peter Glotz: Freiwillige Arbeitslosigkeit? Zur neueren Diskussion um das „Garantierte Grundeinkommen“. In: Gewerkschaftliche Monatshefte 3/1986, S. 180 – 192.
4 Motto zum Kongress Grundeinkommen vom 7. bis 9. Oktober 2005 in Wien.
5 Die tageszeitung (taz) vom 30. 4./1.5.2007.
6 ebd.
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