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Am ruhenden Punkt der kreisenden Welt

Eine Annäherung an den Tanz

Von Barbara Besser


Am ruhenden Punkt der kreisenden Welt
Eine Annäherung an den Tanz
Am ruhenden Punkt
der kreisenden Welt
Dort ist der Tanz
Wäre der Punkt nicht,
der ruhende Punkt,
so wäre der Tanz nicht –
und es gibt nichts als den Tanz.

Ich war zarte 20 Jahre alt, als ich das gesamte lange Gedicht von T.S. Eliot(1) in mein Reisetagebuch übertrug. Warum nur? Hatte meine Tanzkarriere doch einige Jahre zuvor in der Tanzschule mit einem mittelschweren Trauma begonnen: zwar war ich weder übergewichtig noch verpickelt, doch der von meiner Großmutter selbst genähte Tanzrock mit drei Falten – für mehr reichte der Stoff aus dem Sonderangebot nicht – und, was noch schlimmer war, meine Brille, ließen mich in den Augen der auf der anderen Seite des Saales aufgereihten Jünglinge nur begrenzt begehrenswert erscheinen. Von denen die meisten, nebenbei erwähnt, auch nicht zu meiner „ersten Wahl“ gehörten. Natürlich hatte ich danach auf Partys getanzt, solo oder auch das, was wir damals den „Klammerblues“ nannten. Doch jetzt erst war ich so richtig vom Tanz ergriffen worden: Ein archaischer Reigen aus Bulgarien, auf einem Folkfestival an der Westküste der USA Mitte der 70er Jahre, mit Live-Musik, Instrumente von schriller, ursprünglicher Kraft, gespielt von jungen Leuten in meinem Alter, die Kinder und Enkel von Einwanderern aus Europa – all dies hatte es geschafft, mich zutiefst zu berühren.(2) Denn hier ging es um etwas anderes als alles, was ich vorher im Zusammenhang mit Tanzen erlebt hatte. Was war es nur, was mich derartig getroffen hatte, berührt hatte auf eine Art, die mich betraf?

Warum tanzen wir?

Warum liegt einer/einem eine bestimmte Art des Tanzens? Ich habe Menschen aus meinem Umfeld dazu befragt, Erwachsene zwischen Mitte 30 und 60 und zwei jugendliche Mädchen – mit dem Ergebnis, dass ich auf der Stelle alles selbst ausprobieren möchte!
„Afrikanischer Tanz ist kraftvoll und erdig. Ich fühle mich dabei ganz lebendig und erotisch, so was wie ‚ich und mein Körper strahlen in die Welt'. Die Schritte und Bewegungen sind zwar vorgegeben, aber du kannst jedes Gefühl reingeben und auch ausdrücken. Am Ende bin ich ‚geputzt' – alles durfte mal raus und sich zeigen!“ (Beate)
„Mir gefällt, dass nichts vorgegeben ist. Alles passiert im Moment, aus nur drei oder vier Grundschritten, zwischen den beiden, die tanzen.“ (Sonja, Tango)
„Manchmal genieße ich das, dass ich mal nicht alles selbst entscheiden muss. Ich führe ja sonst ein eigenständiges Leben, wo ich es bin, die alle Entscheidungen trifft. Da ist das manchmal ganz wohltuend, wenn ein Mann gut führen kann und ich merke: Hier muss ich – im Kleinen – mal keine Entscheidungen treffen, sie werden mir abgenommen.“ (Irmgard, Standardtanz)
„Ballett war mir zu streng, immer Rücken gerade und Übungen an der Stange und so. Jazztanz macht mir Spaß, da bewegen wir uns mehr, im ganzen Raum, die Musik ist auch moderner. Ja, die Schritte sind alle vorgegeben, aber ich will ja auch was lernen, wenn ich mir alles selbst ausdenke, brauche ich ja nicht dort hinzugehen!“ (Lea, 13)
„Das tut mir gut. Der Ausgangspunkt ist der Körper und das, was darin in Bewegung kommen will. Ich komme ganz in meinem Körper an, ich muss aufmerksam werden und hinhören, was mir mein Körper sagen will – Welche Bewegung tut mir jetzt gut? – anstatt irgendwas Vorgegebenes nachzumachen. Darin liegt ein großes Heilungspotential.“ (Ramona, biodynamisches Tanzen)
„Das ist ein sehr kommunikativer Tanz. Ich musste eine sehr große Klarheit dabei entwickeln. Deutliches Führen ist so ein Thema. Was ich vorgebe, versuche ich so zu machen, dass meine Partnerin ihre Bewegungen optimal entfalten kann. Tango tanzen hat mein Leben verändert: Die Klarheit setzt sich in meinem Alltag fort.“ (Michael, Tango)
„Das weibliche Zentrum meines Körpers wird auch zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Wie fühlt sich das an, wenn ein Tanz aus der eigenen Mitte heraus entsteht? Das ganze Thema mit der Weiblichkeit wird angestoßen. Ich finde es spannend, Bewegungen auszuprobieren, die in unserem Kulturkreis nicht vorkommen.“ (Yvonne, orientalischer Tanz)
„Es macht Spaß, sich selber herauszufordern. Ballett ist sehr strikt in den Übungen. Ich finde es besser, eine klare Struktur zu haben und darin meine Eigenart einzuarbeiten. Die Aufführungen sind der Höhepunkt. Es ist der Nervenkitzel, auf der Bühne zu stehen und alles drum herum ist schwarz bis auf das Scheinwerferlicht. Aber man weiß, dass dort viele Menschen zugucken und deine ganzen Bewegungen verfolgen.“ (Nora, 17, Ballett)
„Vorgegebene Schrittfolgen reichen mir oft nicht, da fühle ich mich eingeschränkt. Beim freien Tanzen kann ich besser meinem Körpergefühl Ausdruck geben.“(Kerstin) „Beim freien Tanzen kann ich das, was die Musik in mir auslöst, in Bewegung umsetzen. Vorgegebene Schritte passen da nicht, die lenken mich ab. Dann muss ich mich so stark konzentrieren, dass ich nicht mehr mit anderen in Kontakt gehen kann.“ (Martin)
„Auch wenn ich mich total verquer fühle und denke – Heute habe ich wirklich überhaupt keine Lust! – und mich richtig aufraffen muss, zum Tanzen zu gehen: Hinterher geht's mir jedes Mal besser, ich fühle mich klarer und gut gelaunt, mein inneres Chaos hat sich geordnet oder im Tanz aufgelöst. Der Kreis ist ein wunderbares Gefäß, das alles halten kann, was beim Tanzen mal hochkommt, auch durch den Bezug auf die gemeinsame Mitte. Für mich ist tanzen immer wieder auch in erster Linie Gebet.“ (Angelika, meditativer/sakraler Kreistanz)

Offensichtlich haben all diese Menschen Freude an ihrer Art des Tanzens und ziehen persönlichen Gewinn daraus. Aber könnten sie nicht ebenso gut Sport treiben, therapeutische Angebote wahrnehmen oder sich einer Meditationsgruppe anschließen? Warum tanzen wir?

Weil wir nicht anders ¬ können!

„Von allen Künsten … ist der Tanz die ursprünglichste. Er (der Mensch) empfing ihn von der Natur, er teilt ihn mit den Tieren“, schreibt Max von Boehn. Für Bernhard Wosien ist Tanz „ein Kunstwerk, das aus Meditation entsteht, gesteigertes Leben schlechthin“ und „die tiefste Form der Erinnerung“, für den Römer Plutarch „die stumme Dichtkunst“. Kaye Hoffman sieht die Quelle des Tanzes im „Urbedürfnis des Menschen, sich an jene Urlebendigkeit anzuschließen“, verbunden mit „einer verschwommenen, quälenden Sehnsucht nach Freiheit“. Gabriele Wosien bezeichnet ihn als „das natürliche Mittel, sich auf die Mächte des Kosmos einzustimmen“ – einem indischen Mythos zufolge verdanken wir und das gesamte Universum unsere Existenz einzig und allein dem Tanz Shiva Natarajas, dem Herrn des Tanzes.(3) „Tanz ist Bindung“, sagt Raimund Zoder. Oder der Versuch, eine verloren gegangene wertvolle Bindung („re-ligio“) wieder herzustellen?

Auf jeden Fall ist uns das Tanzen in die Wiege gelegt. Das Rhythmische ist eine menschliche Grunderfahrung: Die Rhythmen unseres Herzschlages begleiten uns vom ersten bis zum letzten Atemzug, und bereits vor der Geburt stellt der regelmäßige Herzschlag der Mutter einen der ersten Sinneseindrücke des Ungeborenen dar. Mit der Entdeckung der eigenen Bewegungsmöglichkeiten fangen die kleinen, ein- bis zweijährigen Dötze zu tanzen an, ohne dass ihnen jemand zeigt, „wie es geht“. Ich habe afrikanische Dreijährige dabei beobachtet, wie sie einen Trommelrhythmus der Erwachsenen ein paar Minuten in vereinfachter Form mitspielten und sich dann wieder anderen Dingen zuwandten, ohne dass ihnen irgendwelche Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Fähigkeit zu tanzen teilen wir mit anderen lebendigen Wesen: Bienen tanzen auf höchst differenzierte Weise, um ihren „Familienmitgliedern“ Informationen über Nahrungsquellen mitzuteilen. Und in der Vogelwelt ist der Tanz eine gepflegte Kunst, mit der vor allem die männlichen Vertreter Eindruck auf ihre weiblichen Artgenossen machen. Anscheinend ist das Tanzen bei den Tieren keine „zweckfreie“ Tätigkeit. Und bei den Menschen?

Bernhard Wosien unterscheidet mehrere Beweggründe für das Tanzen:
Tanz als Mittel zur Selbstverwirklichung: Wir tanzen, um etwas, das
in uns ist, z. B. ein Gefühl, auszudrücken;
Tanz als Mittel zur Begegnung mit anderen: Hierzu gehört Tanzen als Freude an der Bewegung, als „gesellschaftliches Vergnügen“,
z.B. als Möglichkeit, Menschen
(des anderen Geschlechts) kennen zu lernen;
Tanz als Kunstform: jegliche Art von Bühnentanz;
Tanz als Gebet: die „Tänze und Reigen der Völker“ als „ursprünglich kultischer Tanz“.
Ich möchte hinzufügen: Tanz als „Heilmittel“ für Körper, Geist und Seele – hierzu gehören auch die ekstatischen Trance- und „Besessenheitstänze“ verschiedener Kulturen sowie schamanische Tanzrituale.

Von Anfang an

Unsere europäischen Vorfahren tanzen seit mindestens 50.000 Jahren – so alt sind die Höhlenmalereien in den Pyrenäen, die offensichtlich Tanz-Szenen darstellen: „neun halb bekleidete Frauen um einen nackten Mann“. Für diese Menschen war der Tanz ein wichtiges Mittel, sich mit dem zu verbinden, was sie umgab – wohl geprägt von der Hoffnung und auch der Erfahrung, dass die Dinge sich leichter begreifen lassen, wenn man sich „in sie hineinbegibt“.(4) Sie kleideten sich in Tiermasken und -felle, verehrten Tiere, denen sie besondere Eigenschaften zuschrieben, als „Stammesahnen“, studierten deren Lebensgewohnheiten und ahmten im Tanz Bewegungen und Verhalten der Tiere nach, von denen ihr eigenes Überleben abhing. Noch heute finden sich Reste dieser uralten Praktiken in den Tänzen z.B. der Ureinwohner Nordamerikas. Auf ähnliche Weise wurden die kleinen und großen Zyklen des Lebens wie Geburt und Tod, Kindheit und Initiation, PartnerInnenwahl und Sexualität bis hin zum Lauf der Jahreszeiten und sogar der Gestirne von Tänzen begleitet, im Tanz abgebildet, nachvollzogen und „durchdrungen“. „Der Tanz verleiht wichtigen Akten des menschlichen Lebens eine religiöse Weihe“, bringt Meyers Großes Taschenlexikon es auf den Punkt. Mit den Ackerbaukulturen kamen Gesänge und Tänze auf, die synchron den Rhythmus gleichförmiger Arbeitsbewegungen begleiteten; so gingen sie leichter und ausdauernder von der Hand. Solche Bewegungen lassen sich z.B. noch im zeitgenössischen afrikanischen Tanz entdecken, und die dabei gesungenen Lieder bildeten die Basis für den späteren Blues.

In den Hochkulturen Altägyptens und Mesopotamiens ebenso wie im antiken Griechenland – „wo vielerorts Knaben … bereits im fünften Lebensjahr mit der Erlernung des Tanzes beginnen muss¬ ten“ – gab es kultische wie „gesellige“ Tänze: „Kaum steigt der Duft des Weines in die Nüstern, so fängt, was Füße hat, zu tanzen an“, schreibt Athenäos. Die griechische Antike, die über eine umfangreiche Tanzliteratur verfügte, kannte den solistischen Tanz wie auch den Reigen und den „Chor“, bei dem der Tanz mit Musik und Dichtkunst eine Einheit bildete und der in gewisser Weise als sakraler Tanz wie als frühe Form des Bühnentanzes betrachtet werden kann. Der alte Römer war längst nicht so tanzfreudig – eher ließ er tanzen, bevorzugt zu Flötenklang und von „jungen Mädchen …. von äußerst laszivem Charakter“. Für Frauen gehobenen Standes galt es als anrüchig, wenn sie „besser tanzen konnten als es für ein Frau von Ehre passen will“.

Sowohl das Judentum als auch das frühe Christentum kannten den sakralen Tanz. „Der Bischof war der Vortänzer und der heilige Johannes Chrysostomus (gest. 407), muß sich einmal schriftlich entschuldigen, weil ein Unwohlsein ihn verhindert, am Tanze teilzunehmen.“ Im frühen Mittelalter hatte sich aber bereits eine ablehnende Haltung seitens der Kirche herausgebildet. Besonders die Tänze des Volkes, durch fahrende Spielleute im Lande verbreitet, erregten höchste Missbilligung, denn „die tanzzen… also unflätig, dass sie die Weiber und Jungfrauen dermaßen herumschwenken und in die Höhe werffen, dass man ihnen hinten und vorne hinaufsiehet bis in die Weich.“ Der Reigentanz, laut Tacitus bereits von unseren germanischen Vorfahren gepflegt, galt als Hexen- und Teufelswerk, und so wurde diese „schenntliche neue Art“ paarweise zu tanzen in zahlreichen deutschen Städten verboten. Den Tänzen des Volkes haftete etwas Unberechenbares bis hin zum Ekstatischen an, auch in Europa. Ganze Wellen der „Tanzwütigkeit“, bei denen Hunderte von Menschen gleichzeitig von Zuckungen gepackt wurden, sind sowohl aus Deutschland (vor allem an Rhein und Mosel gegen Ende des 14. Jh.) als auch aus dem südlichen Italien belegt. Die italienische Variante befiel vor allem sehr junge, einfache Frauen um die Zeit der Sommersonnenwende – vorgeblich nach dem Biss einer harmlosen Wolfsspinne wurden sie von einer Art Besessenheit ergriffen, deren einziges Heilmittel im „Tanzen bis zum Umfallen“ bestand. Hierzu holte man Musiker herbei, die die jungen Frauen, „tarantate“ genannt, beim Tanzen „anheizten“. Das immer zu mehreren vollzogene Ritual half ihnen wohl, sich vom Druck der kaum erträglichen Lebensumstände zu befreien.

Die gehobenen Schichten übten den „in Kolonnen ausgeführten Einzelpaartanz“, ein gesittetes Schreiten mit kleinen Schrittchen, wenig Körperkontakt und vielen Reverenzen. „Unartige“ Drehungen oder Umfassen der Partnerin waren bis gegen Ende des 16. Jh. bei Geldstrafe verboten, wogegen das Küssen der Partnerin als Bestandteil des Tanzes galt. Die Bürger in den Städten verfügten über eigene Tanzhäuser und jede Zunft über ihre eigenen Tänze, und doch schielten alle heimlich auf das Treiben der jeweils anderen. Und so wurden die Tänze „bei Hofe“ von dem beeinflusst, was im Volk gerade Mode war, und umgekehrt. Wechselwirkungen erfolgten auch grenzübergreifend und ohne Rücksicht auf politische Tatsachen: Englische Reihentänze wurden Anfang des 18. Jh. in Paris Mode, als Frankreich und England seit über einem Jahrzehnt miteinander im Krieg lagen. Bestimmte deutsche Gepflogenheiten wirkten bereits um 1580 auf einen durchreisenden Franzosen etwas absonderlich – und bescherten mir selbst Jahrhunderte später als Jugendlicher noch Magendrücken: „[Die Herren] hören alle Augenblicke wieder [mit dem Tanzen] auf, führen die Damen auf ihre Sitze zurück, die sie auf einer Seite des Saales abgesondert haben, und nehmen sich dann eine andere. Die Mannspersonen haben [im Ballsaal] ihre eigenen Sitze, die von denen der Damen abgesondert sind, denn es scheint, als hätten sie nicht gern viel mit ihnen zu tun.“

„Schautänze“ als Einlage bei höfischen Banketten – die in unserer „Eventkultur“ derzeit eine Renaissance erleben – gab es bereits im 15./16. Jahrhundert. Gleichzeitig legten berühmte Tanzlehrer in Italien und Frankreich den Grundstein für den modernen Bühnentanz, der sich im 17./18. Jh. zur eigenständigen Kunstform des Balletts entwickelte. 1681 sah man zum ersten Mal Tänzerinnen auf der Bühne der Großen Oper in Paris, und im Laufe der folgenden Jahrhunderte bildete sich die hohe Schule des klassischen Balletts heraus, zunächst geprägt von der „Formenlandschaft und den klassischen Proportionen der griechischen Antike“, später weiter entwickelt bis zum Spitzentanz der Romantik, die Tänzerin „eine im Tanze schwebende Elfe, losgelöst von der Erdenschwere“. Im klassischen Ballett wird der „aus dem Urfeuer der Leidenschaft, aus der Tiefe des Unbewussten geborene Tanz … gebannt und beschworen“. Schade eigentlich! müssen wohl auch die Pionierinnen des Ausdruckstanzes gedacht haben. Frauen wie Isadora Duncan und Mary Wigman wagten es als Erste, sich von den strengen Regeln des klassischen Balletts zu lösen.(5) Sie stießen damit nicht nur auf Begeisterung, u.a. wegen der Neigung einiger, „sich mit dem Klima als einzigem Kleidungsstück zufriedenzugeben“, öffneten jedoch die Tür zu einem kreativeren Umgang mit Bewegungsformen und musikalischen Bindungen, der heute in unzähligen Varianten tänzerischer Bühnenproduktionen seinen Ausdruck findet.

„Bei uns boomt es“, wurde mir von einer alteingesessenen Tanzschule meiner Heimatstadt bestätigt. Bei den Jugendlichen ist „dance for fans“ angesagt – originalgetreu werden die Tanzbewegungen der Stars in den Musikvideos vermittelt. Die mittlere Generation liebt lateinamerikanische Tänze, Tango erlebt ein großes Comeback. Und für die ältere Generation (bis ca. 90 Jahre!) gibt es den klassischen Tanztee mit selbst Gebackenem. Nur Männer fehlen allenthalben – eine Tendenz, die bereits mit Aufkommen des Ausdruckstanzes auf der Bühne bemerkt wurde. „Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass der bürgerliche Mensch unter einem Tänzer einen etwas peinlichen Menschen … einen unmännlichen Mann … versteht“, mutmaßt Frank Thies 1910. Verkümmert das Tanz-Gen im männlichen Geschlecht im Industriezeitalter? Zum Glück jedenfalls nicht überall. 1967, als Bernhard Wosien mit StudentInnen nach Griechenland reist, wird im gemeinsamen Tagebuch festgehalten: „Zur mitternächtlichen Stunde zeigten uns die Griechen ihre Tänze …. In das Erstaunen der Griechen (alles Männer! BB), wie schnell wir ihre rhythmisch raffinierten Schrittfolgen lernten, mischte sich die Freude darüber, dass unsere jungen Damen so unbekümmert selbstverständlich mittanzten.“ Meine Mutter, die in den 70er und 80er Jahren Kinder der ersten „Gastarbeiter“-Generation unterrichtete, bestätigt diese Beobachtung: Wenn es ans Tanzen ging, waren sie mit großer Begeisterung dabei, allen voran die Jungen…

Tanz ist Bindung

Ach, der Tanz: so von Grund auf den Menschen zugehörig, mit so verschiedenen Gesichtern ausgestattet – sakral, kultisch, auf verstehen und verbinden wollen mit der „ersten Wirklichkeit“ (Beatrice Grimm) ausgerichtet, weltlich, zuweilen unanständig, ekstatisch, auf jeden Fall unberechenbar! Kann man dem vertrauen? Tanz trägt in sich ein ungeheures Kraftpotential. Das ist von seiner Grundbeschaffenheit her völlig neutral, weder gut noch schlecht – wie ein Naturereignis. Und wie dieses fühlt Tanzen sich lebendig an, „packt“ uns an unserer Lebenswurzel, beheimatet uns in unserem Körper, verweist unseren analysierenden Verstand auf den ihm gebührenden Platz. Diese Neutralität macht den Tanz zu einer höchst geeigneten „Trägersubstanz“ für alle möglichen Arten von „Botschafterstoffen“.

Tanz ist Bindung! Nicht von ungefähr war und ist Tanzen ein wichtiger gemeinschaftsbildender Faktor – etwa für Nationen im Exil, aber auch für Hitlerjugend und BDM zur Zeit des Nationalsozialismus. Als Resultat dessen wurde im Westen Deutschlands allerdings das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. „Seid wachsam – singt nicht!“ warnte Hans Magnus Enzensberger in den 60er Jahren, und dieses Misstrauen galt auch dem Tanzen. Wohl keine Nation hat ein derart verstörtes Verhältnis zum eigenen kulturellen Erbe wie die Deutschen. „Folklore“ lässt sich noch tanzen, das kommt aus Griechenland oder Israel und darf Spaß machen – aber „Volkstanz“? Da stellen sich bei vielen Assoziationen wie Heimatverein, Trachten, Schuhplattler, Neonazis… ein. Hier sehe ich eine Aufgabe zur Befreiung – aber die scheint bereits begonnen zu haben. Mit der Entwicklung des „Sacred Dance“ (auch als sakraler Tanz oder meditativer Kreistanz bezeichnet) vor allem in Deutschland, den Niederlanden, England und der Schweiz halten „gebundene“ Tanzformen wie alte und neue Reigen wieder Einzug in Gruppen von Menschen (auch und gerade in Kirchengemeinden), die bereit sind, sich zu verbinden: mit sich selbst und ihrem Körper, Geist und Seele; miteinander; mit einem Thema; einem Anliegen; oder mit jener ewigen Gegenwart, der „ersten Wirklichkeit“.

„Ich? Ich kann doch nicht tanzen!“ Konfrontiert mit zahllosen Film- und Fernsehbildern von Einheitskörpern, biegsam, ästhetisch, schlank, jugendlich, denken viele so. Tappen Sie nicht in diese Medienfalle! Die bekannte Wuppertaler Choreografin Pina Bausch rekrutierte für ihr Stück „Kontakthof“ ausschließlich über 65 Jahre alte Nicht-Profis. Setzen Sie sich also in Bewegung, und seien Sie neugierig – auf sich selbst, auf die Begegnung mit dem eigenen Körper und auf das, was dadurch vielleicht „losgerüttelt“ werden kann.

Barbara Besser ist seit 1983 Kursleiterin im Bereich ‚Meditative Kreistänze' und Mitbegründerin der Zeitschrift „Kreise ziehen“. Sie unterrichtet auf der Grundlage intensiver Weiterbildungen in Deutschland, England und Findhorn/Schottland und arbeitet zu Kultur und Choreographie internationaler Kreistänze.


Anmerkungen

1„Burnt Norton“ ist in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Vier Quartette“ erschienen; vgl. das längere Zitat auf S. 35
2 So beschreibe ich es im Nachhinein. Damals wusste ich nur: JA! Das will ich wieder tun, so oft sich die Gelegenheit bietet, und wenn sich keine bietet, werde ich sie suchen – oder selber schaffen!
3 Einem indianischen Mythos zufolge waren es allerdings Fuchs und Coyote, die gemensam den Plan ausheckten, die Welt durch Singen zu erschaffen!
4 „Urteile nicht über einen Menschen, bevor du nicht zehn Meilen in seinen Mokassins gegangen bist“, lautet ein zeigenössisches, angeblich indianisches Sprichwort.
5 Eine tiefgehende Erfahrung auch für heutige Tänzerinnen: „Vom klassischen zum moderenen Tanz zu wechseln bedeutet, Mensch zu werden“, sagte die chinesische Tänzerin Jin Quing kürlich in einem Radio-Interview.


Zum weiterlesen
Bernhard Wosien: Der Weg des Tänzers, Linz 1988
Bernhard Wosien u.a.: Kretischer Sommer 1967, ¬ Studienreise des Arbeitskreises Tanz der Münchener Volkshochschule (privates Schriftstück)
Max von Boehn: Der Tanz, Berlin 1925
Beatrice Grimm und Willigis Jäger: Der Himmel in dir. Einübung ins Körpergebet, München 2000
Maria Gabriele Wosien: Tanz im Angesicht der ¬ Götter, München 1985
Kaye Hoffman: Tanz Trance Transformation, ¬ München1984
Margarete Möckel, Helga Volkmann (Hgg.): Tanz, Spiel und Märchen, Kassel 1995
Richard Wolfram: Die Volkstänze in Österreich und verwandte Tänze in Europa, Salzburg 1951

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