Ausgabe 2 / 2007 Andacht von Ulrike Eichler

Annäherung an die eigene Lust

Andacht über weibliche Sexualität als Thema der Bibel

Von Ulrike Eichler

Zeit: 1-1,5 Stunden; es können aber auch Teile zu einer kürzeren Andacht zusammengestellt werden.

Material: Ein großer, prächtiger Blumenstrauß und eine große Kerze für die Mitte; Teelichter in der Anzahl der Frauen; Kopien der Zeichnung von Else Lasker-Schüler (s.S. 50; für AbonnentInnen unter „Service“ zum Herunterladen vorbereitet) oder Folie des Bildes und Tageslichtprojektor


Ablauf:

Lied: O heilger Geist kehr bei uns ein (EG 130,1+2+6)

Einführung

Um eine wichtige Dimension der Liebe soll es heute gehen: um die Lust der Liebe, die Sexualität. Die Kirchen und die Theologie sprechen viel von Liebe – aber Sexualität, Lust, noch dazu die Lust der Frauen? Da herrscht Schweigen. Gehören Leidenschaft, Sexualität und Begehren also nicht so richtig zur Liebe dazu? Sind sie etwas Niedriges, das nur einen Ort hat in Frauenzeitschriften und Romanen? Wir wollen die Bibel danach fragen, ob sie etwas zu sagen hat zu einer Möglichkeit, uns sachte zu nähern: unserer Sexualität und unserer eigenen weiblichen Lust.

Wie alles anfing
Genesis 2+3

Wenn wir nach der Sexualität in der Bibel fragen, ist das Ergebnis überraschend. Die gesamte Bibel beginnt nämlich mit nichts Geringerem als der Sexualität zwischen Männern und Frauen. Am Anfang steht die Geschichte der ersten Liebe – die zugleich die Geschichte ihrer ersten, tiefen Störung ist:

Und Gott sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Ich will dem Menschen einen Beistand machen, ein Gegenüber, das sich vor ihm aufrichtet. Deshalb machte Gott aus Erde die Tiere des Feldes und die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zum Menschen, denn Gott wollte sehen, wie er sie nennen würde, denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab wirklich jedem Vieh und jedem Vogel unter dem Himmel und jedem Tier auf dem Feld seinen Namen. Aber einen Beistand, der ihm wirklich ein Gegenüber wäre, fand er nicht. Da senkte Gott auf den Menschen eine tiefe Betäubung, und er schlief ein. Und Gott nahm eine seiner Rippen und verschloss die Stelle wieder mit Fleisch. Und baute die Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, zu einer Frau und brachte sie zu dem Menschen. Und da sprach der Mensch: Diesmal ist sie's! Bein von meinem Gebein, Leib von meinem Leib! Sie soll ischa, Frau, genannt werden, denn von isch, vom Mann ist sie genommen. Deshalb verlässt ein Mann seinen Vater und seine Mutter und klebt anhänglich an seiner Frau, damit sie wieder ein Leib werden. Und die beiden waren nackt, der Mann und seine Frau, aber sie schämten sich nicht.
Genesis 2,18-25 (Übersetzung: Ulrike Eichler)

Das ist also die berühmte Geschichte, mit der die Bibel beginnt. Extra für diese beiden – Eva und Adam – war der Garten Eden erfunden worden. Wörtlich übersetzt: der Garten der Lust. Für diese beiden waren die Pflanzen geschaffen worden, auch die Apfelbäume natürlich, und große Ströme voller Wasser, aber auch voller Edelsteine und Gold. Und auch das war sofort klar, dass es im Garten der Lust nicht nur einen Menschen geben konnte. Denn zuallererst ging es nicht um die Lust auf Äpfel, sondern um die Lust aufeinander. Zuallererst ging es um das erotische Begehren zwischen einem Mann und einer Frau, einer Frau und einem Mann.

Also bildet Gott aus dem ersten Menschenwesen ein zweites, und diese beiden erkennen sich leidenschaftlich ineinander und sind zugleich von Anfang an unterschieden voneinander, unterschieden als Mann und Frau. Geschaffen für ein Leben im Garten Eden, für eine Welt voller Begehren und Erfüllung, in dem die Sexualität so unbefangen ist, so frei von jeder Entstellung, dass es Scham nicht gibt: „Und die beiden waren nackt, der Mann und seine Frau, aber sie schämten sich nicht.“ Das ist in der Bibel der Zustand des Anfangs und des Ziels. Das ist der Zustand der Erlösung, des Lebens, wie es gemeint ist und sein soll: voller Gegenseitigkeit, voller Begehren und Erfüllung, frei und ohne alle Scham.

Mit der Erfahrung meines eigenen Lebens ist mir das fast unzugänglich. Eine ganze Welt von Bildern und Zuschreibungen an mich als Frau steht zwischen mir und solchem freien Begehren – ohne Angst und Scham. Die verzerrenden Bilder beginnen schon in der traditionellen Übersetzung des biblischen Textes selbst. Nicht von einem Beistand, der dem Menschen ausdrücklich ein Gegenüber sein soll, das sich vor ihm aufrichtet, ist in der Luther-Übersetzung die Rede, sondern von einer Gehilfin, die um ihn – den Mann – sein soll. Das klingt anders! Doch Luthers Übersetzung stimmt hier nicht. Sie ist eine Phantasie protestantischer Theologie, eine Männerphantasie. In ihr sehen wir uns als Frauen vom ersten Tag an kreisend um das Eigentliche, um den Mann. Das Schürzchen der Gehilfin tragen wir schon im Paradies. In diesem Bild ist die unbefangene Sexualität von Frauen bereits ausgelöscht. Und dabei waren wir doch einmal im Garten Eden, dort, wo er, Adam, Vater und Mutter verlässt, um an ihr, Eva zu hängen – regelrecht zu kleben an ihr. Wie immer wir das gefunden hätten: Im Paradies war Eva noch das Zentrum, um das sich Adam drehte.

Doch die Geschichte ging weiter und führte uns zu Schlange, Baum und Apfel. Zur Vertreibung in eine Wirklichkeit, die wir nur allzu gut kennen: die Wirklichkeit jenseits von Eden. Und die wird in der Bibel nicht nur dadurch beschrieben, dass jetzt unter Mühen gearbeitet werden muss und die Kinder unter Mühen geboren werden, sondern vor allem auch dadurch, dass männliche Herrschaft Einzug hält in die Sexualität, in die Liebesbeziehungen zwischen Männern und Frauen. Sie wird auch dadurch beschrieben, dass nicht mehr die Frauen selbst über ihr Begehren und ihre Wünsche bestimmen. „Dein Begehren wird nach deinem Mann sein, er aber wird dein Herr sein.“ Dieser Satz ist in der Theologie Jahrhunderte lang gegen die Frauen und ihr Begehren gerichtet worden. Dazu benutzt, um deutlich zu machen, dass mit der weiblichen Sexualität etwas nicht in Ordnung ist. Mit diesem Satz sind wir verunsichert worden, ob unsere eigene Lust eine Berechtigung hat.

Für mich hat dieser Satz eine unauflösliche Doppelgesichtigkeit. Er nennt die Verhältnisse beim Namen. Vollkommen unbefangen spricht er aus, was sonst in dieser Deutlichkeit nur durch feministische Theorie zur Sprache gebracht wird: dass die patriarchale Herrschaft von Männern über Frauen bis in die einzelnen Liebesbeziehungen hineinreicht und die Erfüllung der Liebe stört. Und dass das kein Naturzustand ist, sondern ein Fluch, eine katastrophale Situation, die nach Beendigung schreit. Zugleich spricht er so allgemein, dass er diese Verhältnisse auf ewig zu verlängern droht. So ist das eben: In dieser Welt wird dein Begehren keine Erfüllung finden. Du hast vielmehr allen Grund zur Angst vor den Machtverhältnissen, in die du dich hineinwagst, wenn du deiner eigenen Lust folgst.

Die Bibel bestätigt damit die Erfahrungen vieler Frauen, dass sich gerade in den Liebesbeziehungen die Widersprüche und Schwierigkeiten erst richtig auftun. Ach, glückliche Liebe – die gibt's nie! Sollen wir nun, klug geworden, die Liebe meiden? Was aber sollen wir dann mit unserer unvernünftigen Lust anfangen? Was soll aus unseren Sehnsüchten werden, die keiner klugen Einsicht gehorchen wollen? Sollen wir das eigene Begehren so tief verbergen, dass wir uns selbst kaum mehr daran erinnern?  Es mangelt uns Frauen ja nicht an Einübung in diese Strategien des Selbstverzichts. Wie viel weibliche Energie fließt in diese scheinbar lebensnotwendige Anstrengung!

Doch wenn die Lust ganz ins Heimliche verschwindet, wenn das weibliche Begehren stumm wird, dann werden viele Frauen krank. Dann wird die Welt armselig und eng. Wie viele Frauen leben unter dieser schwarzen Sonne der Depression! So endet das Paradies, die große Vision von einem erlösten Leben. Und gerade so ist die Katastrophe der Welt am Anfang der Bibel beschrieben: als Angriff auf die weibliche Sexualität, auf die weibliche Lust.

Gesprächsimpulse

1 Was sehen Sie auf dem Bild der jüdischen Schriftstellerin Else Lasker–Schüler?
   Beschreiben Sie, was Sie wahrnehmen. Alle Wahrnehmungen sind wahr!
2 Diese große Frau verkörpert vieles von dem, was wir nicht sein dürfen. Was ist
   das? Welche Erfahrungen kommen Ihnen in den Sinn?
3 Else Lasker-Schüler nennt ihr Bild: Frau mit der heiligen goldenen Schlange. Was
   ist heilig, was ist golden an dieser Frau, an unserer Sexualität?

Lied: O dass ich tausend Zungen hätte (EG 330,1+2+6)
 

Und wie es wieder sein soll
Das Hohe Lied der Liebe 5,2-16

Ist das nun das letzte Wort, ohne dass es noch einmal um das Ende dieses furchtbaren Zustands ginge? Nein! Nicht nur unsere Gefühle und unser Gerechtigkeitssinn erheben dagegen Einspruch. Die Bibel selbst tut es: im Hohen Lied der Liebe. Hier erhebt sich eine Stimme, die sich nicht zufrieden gibt. Ist es eine biblische Stimme von Frauen? Manche Bibelwissenschaftlerinnen vermuten es…

Klug zitiert das Hohe Lied der Liebe die Worte aus der Schöpfungsgeschichte, doch zitierend verändert es sie – um ein kleines bisschen nur und doch alles entscheidend. In Kapitel 7 heißt es: Meinem Geliebten gehöre ich. Er ist's, der mich begehrt. Hören Sie's? Nicht: Dein Verlangen wird nach deinem Mann sein, er aber wird dein Herr sein.  Sondern: Meinem Geliebten gehöre ich. Er ist's, der mich begehrt. Und dann führt uns das Hohe Lied noch einmal in einen Garten, noch einmal ins Paradies, zur Liebe samt ihrem Verlangen und ihrer Lust. Möchten Sie das vor sich sehen, hören, wie es klingt? Es klingt so:

Wie schön ist deine Liebe
meine Schwester, Braut!
Wie gut deine Liebe
besser als Wein.
Der Geruch deiner Salben
besser als jedes Parfüm.
Honig
tropft von deinen Lippen
Braut!
Milch und Honig
unter deiner Zunge
der Duft
deiner Kleider
wie der Duft des Libanon.
Ein Garten
verschlossen
Meine Schwester, Braut!
Eine Quelle
verschlossen
ein Brunnen
versiegelt.
Was du ausstrahlst
das Paradies!
Granatapfelbäume samt köstlichen Früchten
Henna samt Narde
Narde und Safran
Zitronengras und Zimt
samt allem Weihrauch
Myrrhe und Aloe
samt allem allerbesten Balsam.
Gartenquelle
Brunnen lebendigen Wassers!
Und es fließt
herab vom Libanon.
Wach auf Norden
und komm Süden!
Beatmet meinen Garten
damit seine Gewürze fließen.
Kommen soll er
mein Liebster
zu seinem Garten
und essen soll er
seine köstlichste Frucht.

Hohes Lied 4,10–16 (Übersetzung hier wie im Folgenden: Ulrike Eichler für die Bibel in gerechter Sprache © Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 2006)

Wie schön es ist, mit den Worten des Hohen Liedes zurückzukehren ins Paradies, in diesen Garten voller Schönheit, voller Wohlgerüche und Köstlichkeiten. Zu schön vielleicht? Ich lebe nicht in einem Paradies, denke ich. Ich lebe in einer Großstadt. Und mein Körper ist nicht nur Wohlgeruch, Köstlichkeit und Schönheit. Manchmal bin ich nicht schön, bin kein Genuss, nicht für jemand anderen und auch nicht für mich selbst. Und hat jemals jemand mich so besungen, wie wir es gerade gehört haben? Im Paradies, da gibt's Begehren und Erfüllung. Aber in meinem Leben, in meiner Wirklichkeit?

Es ist, als würde das Hohe Lied diese Einwände kennen. Und deshalb führt es uns noch an einen anderen Ort, wo die Verhältnisse denen ähneln, die wir kennen. Und dort sehen wir, wie eine Frau – das Hohe Lied nennt sie Shulamit – festhält an ihrem Begehren und ihrer Sexualität, auch gegen Widerstände. Sie tut es, indem sie von sich selbst und ihren Wünschen spricht. Indem sie „ich“ sagt. Niemals sagt das im Hohen Lied der geliebte Mann. Denn um ihr Ich geht es hier, um ihr Begehren und ihre Sexualität, um ihre Stimme. Beim ersten Mal voller Erwartung: Ich, ich schlief. Doch mein Herz war wach. Wie im Traum sehen wir eine Frau, in ihrem eigenen Raum, der erfüllt ist von ihrer Erwartung. Und dann kommt der Erwartete wirklich, und spielerisch flirten die beiden miteinander, sprechen miteinander, voller Erotik:

Ich schlief. Doch mein Herz war wach.
Da ist die Stimme meines Liebsten!
Und er klopft an.
Öffne mir
meine Schwester
meine Liebste
meine Taube
meine Vollkommene!
Denn mein Haupt ist voll Tau
und mein Haar voller Tropfen der Nacht.
Ich habe mein Kleid schon ausgezogen.
Soll ich es wieder anziehen?
Ich habe meine Füße schon gewaschen.
Soll ich sie wieder schmutzig machen?

Und dann will sich die Liebe zwischen ihnen erfüllen. Ganz deutlich und schön spricht die Bibel davon:

Mein Geliebter streckt seine Hand aus
durch die Öffnung
und das Innerste meines Schoßes
stöhnt ihm entgegen.
Ich, ich stehe auf.
Öffne meinem Geliebten
meine Hände triefen
von Myrrhe
und meine Finger
von fließender Myrrhe
am Griff des Riegels.

Doch unversehens zerbricht die wunderbare Gegenseitigkeit der Liebenden. Sie wird zerbrochen durch den geliebten Mann, der sich plötzlich und auf völlig unbegreifliche Weise entzieht:

Ich, ich habe ihm geöffnet
meinem Liebsten!
Doch er
mein Geliebter!
Hat sich abgewandt
und ist weggegangen.

Aus der Traum vom Ende der Fluchwirklichkeit der Liebe zwischen Männern und Frauen. Es ist, als würde der Fluch neu installiert. Wir hören kein Wort der Begründung dafür. Der Abbruch der liebenden Gegenseitigkeit wird lediglich in aller Schärfe benannt. Die Liebende verliert sich nicht in der Suche nach Gründen. Sie widersteht der Versuchung, sich in seine Motive und Beweggründe, sein Wollen und nicht Wollen zu versenken. Sie bleibt bei ihrem eigenen Wollen. Und so sagt sie wieder: „ich“. Fassungslos hervorgestoßen, außer sich. Aber:

Da breche ich auf
mein Leben bricht auf.
Seinem Wort nach.
Ich suchte ihn
doch ich fand ihn nicht.
Ich schrie nach ihm
doch er antwortete mir nicht.

Ihr Außer-sich-geraten ist im Hebräischen beschrieben mit dem Wort Jaza, Auszug. Das ist das Wort für den Exodus, den Auszug Israels aus der Sklaverei. So zieht sie aus, raus aus ihrem Zimmer, aus dem privaten Raum, der sich in ein Gefängnis der Stummheit und der Verzweiflung, des blockierten Begehrens zu verwandeln drohte. Ein solches Gefängnis ist für sie gefährlicher als die Bedrohungen der nächtlichen Stadt. Und die ist wirklich gefährlich:

Es fanden mich Soldaten.
Sie sind's, die in der Stadt herumgehen.
Sie schlugen mich
verwundeten mich
sie hoben meinen Rock hoch
die Soldaten der Stadt.

Dunkelheit und Nacht, eine Frau allein unterwegs, laut schreiend nach dem verlorenen Geliebten. So beansprucht sie die Stadt, den ganzen öffentlichen Raum als den Ort, an dem ihr Begehren zum Ausdruck kommen soll. Als den ihr zustehenden Raum. Diese Frau hält sich an kein vorgegebenes Maß mehr, in dem ein heimliches Begehren vielleicht noch erlaubt wäre. Wir kennen die Grenzen des Erlaubten nur all zu gut. Der Krankenwagen droht, der die Verrückte in eine Klinik bringt. Im biblischen Text sind's die Soldaten. Mit Gewalt versuchen sie, sie zurückzudrängen in den Rahmen dessen, was einer Frau erlaubt ist. Doch der Versuch, die Selbstbewusste auf ein stummes und gedemütigtes Opfer zu reduzieren, scheitert. Sie, Shulamit, sagt noch einmal: „Ich!“ Voll widerständigem Trotz. Wie ist das möglich, dass sie nicht aufgibt, nicht aufhört zu sprechen, dass sie festhalten kann an ihren eigenen Wünschen, an ihrem Begehren? Es ist möglich, weil es neben den Stimmen der beiden Liebenden eine weitere Stimme gibt, eine Stimme von anderen Frauen. Zu ihnen spricht sie:

Ich beschwöre euch
Frauen von Jerusalem!
Wenn ihr meinen Geliebten findet
was sagt ihr ihm?
Krank vor Liebe bin ich.

Die Stimmen der Frauen von Jerusalem eröffnen einen Raum, der es ihr ermöglicht, am eigenen Begehren festzuhalten und noch einmal „ich“ zu sagen und: „Ich will“. Denn die anderen Frauen sprechen mit ihr, erinnern die Beschämte an ihre eigene Würde, indem sie sie eine Schöne nennen unter den Frauen. Sie fordern die Verletzte auf, trotz allem weiter zu sprechen von ihrem Begehren, auch dadurch, dass sie sie reizen und provozieren:

Was unterscheidet deinen Geliebten
von irgendeinem Geliebten
Schöne unter den Frauen?
Was unterscheidet deinen Geliebten
von irgendeinem Geliebten
dass du uns so beschwörst?

Und nun spricht Shulamit. Spricht von der Poesie ihres Begehrens, von ihrer Sexualität. Und wir lauschen ihrer Stimme:

Mein Freund ist rot und voller Licht.
Aus Abertausenden ragt er hervor.
Sein Haupt
Gold, pures Gold.
Sein Haar
wie eine Traube von Datteln
voll und schwarz wie Raben.
Seine Augen
wie Tauben an Wasserbächen.
Sie baden in Milch
und wohnen in Fülle.
Seine Wangen
wie Gewürzgärten
Türme von Aromen.
Seine Lippen
Rosen
Tropfen von fließender Myrrhe.
Seine Hände
goldene Ringe
gefüllt mit Türkisen.
Sein Leib
ein Kunstwerk aus Elfenbein
bedeckt mit Saphiren.
Seine Schenkel
Marmorpfeiler
gegründet auf goldener Basis.
Seine Gestalt
wie der Libanon
wie Zedern auserlesen.
Süße ist sein Mund
und alles an ihm Begehren.
Das ist mein Liebster
das mein Geliebter!
Frauen Jerusalems!

Einladung

Unser Leben ist reich an Erfahrungen, auch an Erfahrungen mit unserer Lust. Und wir erinnern in unserem Leben auch wirklich beglückende, lustvolle Augenblicke voller Erfüllung. Sie geben uns Anlass zum Dank.

Aber vieles ist uns auch verwehrt geblieben. Tiefe Sehnsüchte unserer Seele und unseres Körpers haben sich nicht erfüllen können, sind vielleicht schon vergraben und warten doch noch auf ihre Erfüllung. Das ist uns Anlass zur Klage.

Wir haben gehört, dass wir zu einem Leben voller Lust geschaffen sind, frei von Angst und Scham. Das macht uns frei, auf unsere Sehnsüchte zu hören und auch unsere Bitten zur Sprache zu bringen.

Sie sind jetzt alle eingeladen, nach vorne zu kommen, Ihr Licht an der großen Kerze anzuzünden und Ihren Dank, ihre Klagen oder Bitten zum Ausdruck zu bringen. Sie laut auszusprechen – oder sie still vor Gott zu bringen.

Lied: Geh aus, mein Herz, und suche Freud (EG 503,1+8+10+12+15)

Sendung und Segen

Steh auf, meine Freundin und geh!
Meine Schöne, geh, geh los!
Denn sieh
der Winter ist gewichen
der Regen ist vergangen
selbst er ging.
Blüten lassen sich sehen auf Erden
die Zeit des Liedes ist da
in unserem Land lässt sich
die Stimme der Taube hören.
Die Feige hat Farbe bekommen
und blühende Reben duften.
Steh auf, meine Freundin und geh!
Meine Schöne, geh, geh los!
Meine Taube in Felsschluchten
im Versteck des Abhangs
lass mich dein Erscheinen sehen
deine Stimme hören.
Ja!
Deine Stimme tut wohl
dein Erscheinen ist wunderbar.

Ulrike Eichler, Jg. 1960, lebt in Berlin. Sie ist Wissenschaftliche Assistentin im Fach Systematische Theologie mit dem besonderen Schwerpunkt Feministische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Bethel und arbeitet im Rahmen einer Dissertation mit dem Titel „Poesie des Begehrens“ zu Hannah Arendt, Luce Irigaray, Luisa Muraro und dem biblischen Hohen Lied der Liebe.

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