Alle Ausgaben / 2012 Material von Monika Maron

Annaeva

Von Monika Maron


An einem violetten Tag erwachte Annaeva wieder müde und lustlos, und sie beschloss, die Stadt, in der sie lebte, zu verlassen. Sie zog ihr schwärzestes Kleid an, packte alle vorhandenen Konserven in die leinene Umhängetasche und machte sich auf den Weg. Sie verabschiedete sich von ihrer Mutter, von ihrem Vater, von den Geschwistern, von ihren Freunden, die sie nicht mehr liebte, und von den Feinden, die sie nicht mehr hasste.
Der Abschied von den Feinden wurde ihr schwer, denn Annaeva kannte sie gut, und auch die Feinde kannten Annaeva gut. Man wusste, was man voneinander zu erwarten hatte. Bislang hatte man es überlebt.
Zu welchen Feinden willst du gehen, Annaeva, fragten die Feinde. Ich muss durch die Dürre, ich muss wissen, was danach kommt, antwortete Annaeva. … Zu welchen Freunden gehst du, Annaeva, fragten die Freunde. Ich muss durch die Dürre, in der es keine Freunde gibt. …
Am ersten Tag durchquerte Annaeva die Stadt, lief durch die kleine Straßen, die sie gemocht hatte, vorbei an den Cafés, in denen sie gesessen hatte. Sie kehrte nicht mehr ein. Sie war nicht wehmütig und nicht ängstlich. Vor den letzten Bäumen am Rande der Stadt blieb sie stehen und betrachtete sie so lange, bis sie jeden Zweig wusste und jedes Blatt, damit sie sich in der Dürre an sie erinnern könnte. …
Ungläubig, weil sie es wirklich gewagt hatte, und erschrocken über die Ziellosigkeit der kahlen Landschaft, suchte Annaeva nach der Richtung, in die sie gehen wollte. …

Die Nacht verbrachte sie in der Nähe der Stadt, im Windschatten eines hohen Steines. Bevor sie einschlief, dachte sie an die merkwürdigen Tiere, die in der Dürre leben sollten, Säbelzahnameisen und grüne Schleimspinnen, die noch niemand gesehen hatte, an deren Existenz aber jeder glaubte. Sie fand, die erste Nacht in der Einsamkeit war keine Zeit, sich zu ängstigen. Noch kroch keine Schleimspinne über ihre Haut und keine Säbelzahnameise zerschnitt ihr Herz. Ihre Stadt lag als eingemauertes Lager, in der Dunkelheit schwer erkennbar, hinter ihr. …
Nach zwanzig Tagen war der Körper fühlloses Fleisch, das Hirn krank von dem Satz: ans Ende der Dürre. Für jeden Schritt einmal: ans Ende der Dürre. Kein Gedanke an Umkehr; woher kam sie; wie lange lief sie; und keine Reue.
Nichts verloren
nichts gewonnen
so zerronnen. …

Am Abend legte sie sich auf die Erde und suchte hinter den geschlossenen Lidern das Bild ihrer Zukunft. Sie sah in zwei Augen. Die Augen waren grau und klar mit großen Pupillen, umrahmt von dunklen Wimpern. Es waren ihre Augen. Annaeva verstand das Bild nicht, setzte sich auf, suchte den Himmel nach Wolkengebilden ab, fand ein galoppierendes Pferd, auf drei Beinen, schloss die Augen wieder und wartete auf ein anderes Bild. …

Am Morgen stand Annaeva nicht auf. Sie hatte Zeit. Wo sie herkam, wurde sie nicht vermisst. Nirgends wurde sie erwartet. Was hieß das: sie wurde nirgends erwartet, wenn sie nach Nirgends ging. Sie wurde nicht erwartet oder: sie wurde erwartet in Nirgends. Niemand stand am Stadttor von Nirgends. Er ähnelte Ferdinand und schenkte ihr zur Begrüßung eine Handvoll Blumensamen. Damit sie nicht so schnell verwelken, sagte Niemand, und jetzt werde ich dir unser Haus zeigen. Es steht am schönsten Platz von Nirgends inmitten eines großen Gartens, in dem Niemands Kinder spielen werden. Niemand küsste sie und streichelte ihr Gesicht. Niemand sagte: wenn du krank wirst, werde ich dich pflegen; wenn du stirbst, werde ich dich begraben. Und du sollst das gleiche für mich tun. Das sagte Niemand und brachte sie in das Haus am schönsten Platz von Nirgends. Annaeva sagte: wir wollen Abstand halten voneinander, damit wir unsere Gesichter nicht vergessen unter den vielen Grimassen des Überdrusses. Und Niemand freute sich, weil er darüber dachte wie sie.
Ich habe Zeit. Niemand wird lange warten auf seine versprochene Witwe. Ich kann liegen bleiben und auf meine Zukunft warten, die ich selbst bin; die zwei, die ich bin, streiten lassen, bis ich selbst Niemand bin, der auf mich wartet.
Und fressen mich die Raben
dann werd ich nicht begraben.

in:
Dies., Das Missverständnis
© S.Fischer Verlag Frankfurt/M. 1991

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