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Ansehen ist Ansichtssache

„Er wäre was, wenn er was hätte“, verspottet Wilhelm Busch gegen Ende des 19. Jahrhunderts die offenbar zeitlose menschliche Neigung, Haben und Sein zu verwechseln. Ebenso hinreißend bissig dichtet bereits 250 Jahre früher Friedrich von Logan gegen Dünkel und Anmaßung des Adels an: „Kleider machen Leute, trifft es richtig ein, werdet ihr, ihr Schneider, Gottes Pfuscher sein.“

Etwas feiner im Ton, aber ebenso punktgenau belehrt Gott seinen sonst recht klugen Propheten Samuel auf der Suche nach einem geeigneten Nachfolger Sauls, dass das „Haben“ ansehnlicher Gestalt und Ausstattung noch längst kein Qualitätssiegel ist: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.“ Durch den Wink seines Gottes aufmerksamer geworden, entdeckt Samuel den jungen Mann, der das notwendige Zeug dazu hat, König in Israel zu werden.

Ansehen ist Ansichtssache. So haben wir diese Arbeitshilfe betitelt, weil die Jahreslosung 2003 nachdrücklich in Erinnerung bringt: Das „Ansehen“ eines Menschen hängt nicht zuletzt davon ab, wie wir diese Frau, diesen Mann, dieses Kind ansehen. Es hängt davon ab, ob es gelingt, durch die blickverstellenden Äußerlichkeiten hindurch ihr oder sein „Herz“ zu erkennen. Menschen mit einem solchen „göttlichen“ Blick anzusehen, ent-deckt manchmal Qualitäten, von denen die oder der andere oft nicht einmal selbst wusste, dass sie oder er sie hatte. Die Beiträge in dieser Arbeitshilfe wollen diesen Blick schärfen und dazu ermutigen, wie eine der Autorinnen es formuliert, „verborgene Lebensmöglichkeiten, vielleicht auch Berufungen willkommen zu heißen.“

Die Grundlage dafür schafft Andrea Richter mit einer Bibelarbeit zur Jahreslosung (1 Sam 16,7). Die zentrale Frage der neutestamentlichen Bibelarbeit ist, wie Jesus Menschen ansieht und bewertet. Für Esther Immer und Hanna Sauter-Diesing war es eine „Herzensangelegenheit“, Frauen zu ermutigen, sich selbst und andere als von Gott Geliebte anzusehen.
Einen überraschenden Anstoß, bisherige „Sichtweisen“ in Frage zu stellen, erhielt Rosemarie von Orlikowski, als sie die Jahreslosung in Form einer Andacht mit einem Bild aus dem indianischen Kulturkreis zusammenbringen sollte. Ähnlich herausgefordert wurde Sylvia Puchert, gewohnte Zugänge zu vertrauten biblischen Texten um neue zu ergänzen, ihre Andacht zur zweiten der drei Jahreslosungskarten der Evangelischen Frauenhilfe in Deutschland, ein Bild aus einem Tarotspiel, wirbt dafür, das Unerwartete offen anzunehmen.

In unterschiedlichen Zugängen umkreisen die Arbeitseinheiten ZUM THEMA die Bedeutung des Sehens und Ansehens. Dass Angesehenwerden bereits im Säuglingsalter höchst bedeutsam ist für die Entwicklung von Selbstwertgefühl und Identität, ist allgemein bekannt. Elisabeth Grözinger zeigt auf, wie wichtig liebevolle Blicke ein Leben lang sind, um die eigene Kraft zu entdecken und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Den Weg zum eigenen, innersten Selbst und dessen Reifen kann uns allerdings niemand abnehmen. Astrid Utpatel-Hartwig beschreibt, wie wir uns dabei vom Lebenswissen der Märchen unterstützen lassen können.
Kraft und Fähigkeiten in uns selbst zu entdecken ist schön. Wir sind damit allerdings nicht schon am Ziel unseres Weges, sondern lediglich „gerüstet“, vor uns liegende Aufgaben anzunehmen. Der Kontext der Jahreslosung ist die Geschichte der Berufung Davids ins Königsamt! Frauen neigen – immer noch – dazu abzulehnen, wenn die Berufung in eine Leitungsaufgabe droht. „Da gibt’s Berufenere als mich!“ Welche Frau hätte diesen Satz nicht schon gehört oder sogar von sich gegeben. Einen Weg, solche Ängste anzupacken und zu überwinden, stellt Sigrid Schneider-Grube vor: Mentoring ist eine systematische Art und Weise, in der ältere, erfolgreich-erfahrene Frauen Jüngere in der haupt- oder ehrenamtlichen Karriere begleiten.

„Gott aber sieht das Herz.“ Heidemarie Schwermer hat sich diesem göttlichen Blick bewusst geöffnet und dabei Erfahrungen gemacht, die sie dazu herausforderten, ihr Leben völlig zu verändern. Jenseits der Angst fand sie genug Vertrauen, um alle materiellen Sicherheiten aufzugeben und neue Wege des (Zusammen-)Lebens zu erkunden. Über Jahrhunderte hinweg wurde diese eigentlich befreiende Glaubenserfahrung allerdings auch und vor allem „pädagogisch“ missbraucht. Höchst bedrohlich erschien Generationen von Kindern das göttliche Auge, das alles sieht, auch wenn’s in dunkler Nacht geschieht – oder dort, wo mütterliche und väterliche Augen gerade nicht hinreichten. Dietlind Steinhöfel setzt sich mit dieser Schattenseite göttlicher Allgegenwart auseinander. Ihre Arbeitseinheit regt dazu an, eigene Ängste und Unsicherheiten zu überwinden und zu lernen, sich offen und gerne ansehen zu lassen.

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