Ausgabe 1 / 2008 Artikel von Martina Feulner

Arbeitsplatz

Küche und Kochen sind Kinder ihrer Zeit

Von Martina Feulner


Früher war die Küche der Mittelpunkt eines Hauses. Und auch heute noch hat jede Wohnung eine Küche. Aber wird in jeder Küche auch gekocht? Wie werden Küchen geplant und eingerichtet? Und wie Kochkenntnisse vermittelt?

Die Küche als Mittelpunkt der Wohnung und das Kochen als zentrale Aufgabe im Zusammenhalt einer Familie sind nicht mehr eindeutig verortet. Schauen wir auf die Lebens- und Versorgungsstrukturen in der eigenen Familie und bei FreundInnen und NachbarInnen, ist alles zu finden – von der kompletten Versorgung durch „Handarbeit“ über Fertiggerichte bis hin zur Gourmetküche. Was bedeutet, dass jede und jeder ihre/seine Küche, ihre/seine Art zu kochen finden und für sich entwickeln muss.

Aus Sicht der Hauswirtschaft ist die Alltagsversorgung im eigenen Haushalt die Grundlage des Zusammenlebens in Familien und in Wohngemeinschaften. Um die Versorgung der Familien- und Haushaltsmitglieder zu sichern, sind Kompetenzen zur Alltagsbewältigung nötig. Die konkreten Anforderungen und Aufgaben in privaten Haushalten unterliegen dabei einem ständigen Wandel, der eng mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen verbunden ist.

Musste man/frau im ländlichen Selbstversorgerhaushalt der 60er Jahre noch Sauerkraut machen und Hühner schlachten können, heißt es heute latte macchiato aufzuschäumen und die Termine der Familienmitglieder zu koordinieren. In unseren modernen Haushalten werden weit weniger handwerkliche hauswirtschaftliche Tätigkeiten geleistet, denn viele der notwendigen Arbeiten werden nicht mehr direkt in den Haushalten ausgeführt. Die Aufgaben der Selbstversorgung haben sich hin zu umfassenden Management- und Koordinationsaufgaben verlagert.

Auch das Kochen selbst und die Gestaltung von Mahlzeiten haben sich verändert. Muss im Alltag häufig innerhalb eines engen Zeitkorridors gekocht werden, ist es am Wochenende oder für Feste und Feiern sehr viel aufwendiger geworden und nimmt wesentlich mehr Zeit und Raum in Anspruch. Hinzu kommt, dass die Mahlzeiten aus ihrem früheren festen Rhythmus herausgenommen wurden – unser Essverhalten ist von der Situation geprägt, in der sich die einzelnen Familienmitglieder gerade befinden. Familienmahlzeiten als gemeinsame regelmäßige Treffpunkte mehrmals am Tag sind aufgrund der unterschiedlichen Zeitstrukturen und Aufgaben der Familienmitglieder in aller Regel nicht mehr möglich.

Das Verschwinden der Familienmahlzeiten ist aber nicht als generelle Auflösung der häuslichen Tischgemeinschaft zu verstehen, sondern als Veränderung, als Anpassung an vielfältige Herausforderungen, denen sich Familien heute stellen müssen. Familienmahlzeiten haben immer noch eine herausragende Bedeutung für das Familienleben als Integrations-, Kommunikations- und Erziehungszentren. Nach wie vor sind die Gespräche bei Tisch wichtige Zeiten im Tages- und Wochenverlauf, um Gemeinschaft zwischen den Familienmitgliedern zu schaffen.

Entsprechend den Veränderungen in den hauswirtschaftlichen Anforderungen sind Kochkenntnisse und Kenntnisse zum Umgang und zur Verarbeitung von Lebensmitteln verloren gegangen. Und es gibt kaum noch Orte, an denen diese Kompetenzen vermittelt werden. Dies scheinen aber immer mehr Menschen als Mangel zu empfinden. Denn „Kochen“ ist längst kein Nischenthema mehr. Darauf verweisen
– die Vielfalt an Fernsehsendungen, in denen gekocht wird;
– die Zunahme an hauswirtschaftlich geprägten Ratgebersendungen, aber auch Reality-Shows und Sendungen, in denen über den Ansatz Living History eine Auseinandersetzung angeregt werden soll;
– die schier unendliche Zahl neuer Kochbücher und die vermehrt auftauchenden Bücher, in denen die Arbeit in Küche und Haushalt erläutert wird.

Offenkundig ist der Arbeitsplatz Küche – wieder – ein wichtiges Thema in unserer Gesellschaft. Nicht, dass nun wieder alles „wie früher“ wird oder gar werden sollte: Jede Zeit hat die Hauswirtschaft, die zu ihr passt. Denn Küche und Kochen sind immer auch ein Ausdruck der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und damit Kinder ihrer Zeit. Einige kurze Blicke zurück veranschaulichen das. 


Erster Blick

Für heute 50/60-Jährige ist die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Zeit, in der ihre Großmütter geboren wurden bzw. ihre Kindheit erlebt haben. Es ist die Zeit vor dem 1. Weltkrieg, wirtschaftlich geprägt von der Industrialisierung, in deren Folge sich bäuerliche Lebensformen verändern. Noch nimmt die Versorgung der Familien mit Lebensmitteln und die Zubereitung von Mahlzeiten viel Zeit und Raum im Familienleben ein. Familien auf dem Lande versorgen sich zu großen Teilen aus dem eigenen Garten bzw. mit den Produkten der eigenen Landwirtschaft. Jeder Landstrich hat seine Gerichte, Wissen und Erfahrungen zum Kochen werden in den Familien weitergegeben.

In der Hauswirtschaft werden Wissen und Erfahrungen zusammengetragen:
n Die ersten Lehrbücher erscheinen, das bekannteste ist das Kochbuch von Henriette Davidis. In vielen Regionen entstehen Kompendien zur Haushaltsführung. Ziel der Autorinnen – es sind fast ausschließlich Frauen – ist es, das vorhandene private Wissen allgemein zugänglich zu machen. Außerdem beobachten die Autorinnen, dass, z.B. durch den Wechsel vor allem junger Leute vom Land in die Städte, Wissen und Erfahrungen im Kochen auf der Strecke bleiben.
– (Aus-) Bildungslehrgänge werden entwickelt und in vielen Regionen Frauenfachschulen eingerichtet.
– In der Fürsorgearbeit für arme Familien werden Kochkurse angeboten, damit Familien mit dem wenigen Geld, das ihnen zur Verfügung steht, besser auskommen.


Aufstellung der Lebensmittelmenge für eine 4-köpfige Familie (Mann, Frau, ein Kind unter zwei Jahren und ein schulpflichtiges Kind) für eine Woche:
22 Pfund Brot
22 Pfund Kartoffeln
1 Pfund  Speck
300 gr. Schmalz
2,5 Pfund  Margarine
2 Pfund  Fleisch
  Fisch
  Obst und Gemüse
1,5 Pfund  Wurst
1,5  Pfund  Mehl
  Zutaten
5 Liter Milch
1 Pfund  Malzkaffee

Und dazu der Speiseplan – Auszug:
1. Frühstück: 12 Schnitten Brot, Aufstrich, Kaffee, Milch, Zucker
2. Frühstück: 4 Schnitten Brot, Aufstrich, Milch, 1 Brötchen

Montag
Mittagessen: Graupen mit Kartoffeln, Fett, Zutaten
Abendessen: Apfelpfannkuchen

Dienstag
Mittagessen: weiße Bohnen mit Speck oder Fett, Kartoffeln
Abendessen: Kartoffelreibekuchen, Fett, Schwarzbrot


Zweiter Blick

Die 20er Jahre sind eine Zeit voller Widersprüche. Einerseits scheint fast alles möglich – Technik und Wissenschaft zeigen neue Dimensionen auf, Musik, Malerei und Mode gehen neue Wege. Gleichzeitig herrscht Arbeitslosigkeit, Weltwirtschaftskrise und Währungsreform nahen.

Im Bereich der Hauswirtschaft finden wir für die Küche intensives fachliches Forschen und Untermauern: Fragen der Ernährung, z.B. zum Bedarf an Nährstoffen, finden ebenso Interesse wie Fragen der Arbeitsorganisation. Nach Erforschung von Arbeitsabläufen in den Küchen wird die erste Einbauküche entwickelt. Zeitgleich entsteht das „Einküchenhaus“ als Wohnkonzeption für Arbeiterfamilien: Die Versorgung in einem Wohnblock soll über eine zentrale gemeinsame Küche stattfinden. In der Praxis schaffen Familien sich allerdings ihre Orte, um für die eigene Familie im privaten Rahmen zu kochen.


Dritter Blick

In der Zeit des Nationalsozialismus sind Themen der Haushaltsführung Teil der Politik. Die Versorgung der Bevölkerung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die mit einer Fülle von Regelungen und mit höchsten Differenzierungen durchgeführt wird. Mit zahllosen Kochbüchern, Materialien und immer wieder neuen Aktionen versucht das Regime, die gesamte Bevölkerung hauswirtschaftlich zu schulen – damit das Volk von dem leben kann, was im eigenen Land produziert wird. Für die Schulungen und Beratungen gibt es eigene staatliche Organisationen, die Frauenverbände (später der Reichsfrauenbund) sind in diesen Prozess eingebunden.


Vierter Blick

In den ersten Jahren nach dem Krieg (1) mit ihrem extremen Mangel an Lebensmitteln und den sehr kalten Wintern ist sparsamstes Wirtschaften ein großes Thema. Und so entstehen Rezepte, nach denen mit hohem Fachverstand „aus dem Nichts“ gekocht werden kann.

Preiswert einkaufen, besser essen, gesund leben: Kennzeichnend für diese Zeit sind die Hefte bei Bäckern und Metzgern, die Hausfrauen mit wertvollen Tipps versorgen. Beratungsangebote der Energieversorgungsunternehmen runden das Programm ab. Die Hauswirtschaft hat in den 50er Jahren Hochkonjunktur. Im Westen Deutschlands gibt es nahezu flächendeckend Angebote von hauswirtschaftlichen Schulen. Für viele Frauen gehört es zum Standard, zumindest für ein Jahr eine hauswirtschaftliche Schule zu besuchen, wo auf hohem Niveau Techniken und Fertigkeiten des Kochens und der Nahrungszubereitung vermittelt werden.


Fünfter Blick

In den 60/70er Jahren, der Zeit der Technisierung und des Wirtschaftswachstums, scheint alles möglich. Neue Haushaltsgeräte sollen der Hausfrau die Arbeit erleichtern, Fertigprodukte Zeit und Arbeitskraft einsparen helfen. Andere Gerichte werden einfacher in der Herstellung – Puddings etwa, die nicht mehr gekocht werden müssen, und Soßen, die einfach als Pulver in Wasser eingerührt werden können.

In dieser Zeit entstehen allerdings erste Gegenbewegungen. Ökologie und Vollwert-Ernährung werden in Teilen der Bevölkerung zu wichtigen Themen.


Sechster Blick

Die Jahrtausendwende bringt wieder eine Koch- und Küchenwende mit sich. Das öffentliche Interesse an hauswirtschaftlicher Kompetenz steigt. Neue, pfiffig gemachte Kochzeitschriften kommen heraus und erobern den Markt. Die Fülle der Koch- und Ratgebersendungen rund um VerbraucherInnenthemen spricht eine eigene Sprache. Das Bundesernährungs- und Verbraucherministerium startet verschiedene Ernährungskampagnen. Kurz: Themen der Haushaltsführung, insbesondere des Kochens und der Mahlzeitenzubereitung, haben Konjunktur.

Weiteren Schub bekommt das Thema durch die steigende Zahl von Familien, die von Armut betroffen oder bedroht sind. Gefördert vom Familienministerium wurden in den vergangenen Jahren Konzepte und Maßnahmen der Hauswirtschaft zur Armutsprävention erfolgreich erprobt. Hauswirtschaftliche Verbände haben Konzepte entwickelt, um Menschen und Familien in prekären Lebenslagen durch die Vermittlung von Haushaltsführungskompetenzen, besonders Kenntnissen zu Lebensmitteln und zum Kochen, zu unterstützen.

Nicht zuletzt wird Haushaltsführung neu wichtig angesichts der steigenden Zahl älterer Menschen. Denn je enger der Lebensradius wird, umso stärker gewinnt der ummittelbare Wohnraum an Bedeutung. In der Altenhilfe entwickeln sich aktuell die so genannten Haus- und Wohngemeinschaften. In den Wohnungen, die sich zehn bis zwölf BewohnerInnen teilen, ist die Küche – und dort die Zubereitung der gemeinsamen Mahlzeiten – ein wichtiger Ort. Hier erfahren Menschen einen Alltag, der sie in ihrer Orientierung unterstützt. Die Geräusche und Gerüche des Kochens regen die Sinne an. Und sich an den Aufgaben und Abläufen in der Küche zu beteiligen oder auch sie nur zu beobachten bietet vielfältige Möglichkeiten der Orientierung und Beschäftigung.

Der kleine Abriss macht deutlich, dass es „die“ Lösung für den Arbeitsplatz Küche nicht gibt. Wie alle anderen vor uns stehen auch wir heute vor der Aufgabe, in unserem privaten Haushalt für das Kochen und damit für die Versorgung der Familien- und Haushaltsmitglieder einen Weg zu finden, der zu uns und zu unserem Leben passt.


Für die Arbeit in der Gruppe

Die Arbeit in der Küche hat sich im Laufe der letzten 100 Jahre sehr verändert. Im Überblick wird deutlich, dass die Küche und das Kochen in einer Familie auch ein Ausdruck der jeweiligen Zeit und Gesellschaft sind. Zwei Möglichkeiten für eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem Thema:

Küchen früher – Küche heute
Frauen aus verschiedenen Generationen stellen ihre Küchen und ihre Art des Kochens vor; evtl. können die Frauen gemeinsam ein großes Plakat mit den Spalten „Zeit“ (Anfang 20. Jh. …), „Küchenarbeiten“, „Geräte“, „Rezepte“ erarbeiten.

Küche und Kochen im Film
Filme wie „Babettes Fest“, „Zimt und Koriander“ oder „Bella Martha“ können ebenfalls eine Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem Thema sein.



Martina Feulner ist Diplom-Oecotrophologin. Sie arbeitet als Referentin in der Zentrale des Deutschen Caritasverbandes und freiberuflich als Fortbildnerin; ihre fachlichen Schwerpunkte sind hauswirtschaftliche Dienstleistungen in sozialen Einrichtungen und alltagsorientierte Hilfen in familienunterstützenden Diensten. Sie ist Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Hauswirtschaft e.V.


Anmerkungen
1 Für die Nachkriegszeit und die 60/70er Jahre wird der Blick an dieser Stelle nur auf die westdeutsche Situation gerichtet.

Literatur
Ulrike Eberle, Doris Hayn, Regine Rehaag, Ulla Simshäuser (Hrsg.): Ernährungswende. Eine Herausforderung für Politik, Unternehmen und Gesellschaft, München 2006
Renate Harter-Meyer: Der Kochlöffel ist unsere Waffe. Hausfrauen und hauswirtschaftliche Bildung im Nationalsozialismus, Baltmannsweiler (Burgbücherei Schneider) 1999
Corinna Wodarz: Mutters ganzer Stolz. Unser Haushalt in den 50er und 60er Jahren, Gudensberg-Gleichen (Wartberg Verlag) 2006

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