Der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung stellt fest: 13 Prozent der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger gelten als arm. Und die Reichen werden immer reicher. Was aber ist arm? Wer ist arm?
Armut wird unterschiedlich definiert. Manche sagen, mit 700 Euro im Monat staatlicher „Transferleistung“ könne eine vierköpfige Familie ganz gut leben. Ein Rentner erzählt, dass er es mit dem Tagessatz Hartz IV von 4,25 Euro gerade ausprobiert. Thilo Sarrazin, Finanzsenator in Berlin, hatte das kürzlich „empirisch belegt“, indem er eine Mitarbeiterin in einen Discounter geschickt und einen 3-Tages-Menüplan erstellen lassen hatte – mit dem Ergebnis, dass ein Mensch sich sogar für 3,76 Euro pro Tag ausgewogen und gesund ernähren könne. „Es geht, ich werde gerade satt“, sagt der Rentner, „aber mit leben hat das nichts zu tun.“
In Palästina zur Zeit des Lukas ist mehr als 90 Prozent der Bevölkerung entsetzlich arm. Hungersnöte, Seuchen und hohe Steuer lasten durch die römische Besatzung treiben die Menschen in Armut. Viele versuchen als Tagelöhner genug zu verdienen,
um wenigstens den Hunger für einen Tag zu stillen. Das zeigt unter anderem das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16). Oft genug müssen die Kleinbauernfamilien Schulden machen und geraten dann in Schuldsklaverei. Frauen müssen durch Erwerbsarbeit zum Überleben der Familien beitragen. Sie arbeiten in der Mühle (Mt 24,1), sind Prostituierte (Lk 7,36-50), Sklavinnen (Mt 14,66), Wasserträgerinnen (Joh 4,7), Färberinnen (Apg16,11-18), Zeltmacherinnen (Apg 18,3). Alle diese Arbeiten sind wenig geachtet. Außerdem erhalten Frauen nur ein Drittel oder höchstens die Hälfte eines Männerlohnes für dieselbe Arbeit. Der Lohn einer Weberin ist so gering, dass man vom „Hungerlohn“ spricht. Noch schlechter geht es den Witwen, die wirtschaftlich und rechtlich auf Hilfen von Verwandten angewiesen sind oder als Prostituierte arbeiten müssen.
„Den Armen wird das Evangelium gepredigt.“ So übersetzt Martin Luther Lk 7,22. Das ist der Trost für die wirklich Armen: Eines Tages werden sie erlöst sein von diesem entsetzlichen Kampf gegen Hunger, Krankheit und Ungerechtigkeit. „Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen!“ Kein Wunder, dass besonders die Armen Jesus ergriffen zuhören. Sie hören von einer Welt, in der Frieden und Gerechtigkeit das Leben der Menschen bestimmen. Von einer Welt, in die Gott eingreift, wie in der Jahreslosung: „Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.“ (Lk 18,27) „Wann wird das so sein?“, mögen sie fragen. Wäre das nicht eine Welt, die weit weg ist von ihrem Alltag? Müssen sie nicht einfach nur aushalten und auf Besseres warten? So haben bis heute viele gläubige Christinnen und Christen ihre Armut als gottgegeben hingenommen und in der Hoffnung auf himmlische Belohnung ohne Widerstand ertragen.
„Die Armen bringen frohe Botschaft.“ So übersetzt überraschend für uns die Bibel in gerechter Sprache. Überraschend deshalb, weil wir es gewohnt sind, dass die frohe Botschaft von Gott kommt und dass Gott für Gerechtigkeit in dieser Welt sorgt. Die Übersetzerin hat aber herausgefunden, dass die griechische Verbform „verkünden“ oder „frohe Botschaft bringen“ üblicherweise aktivisch verstanden wird. Lesen wir
die Verse im Lukasevangelium im Zusammenhang, so steht dort:
Blinde sehen, Gelähmte gehen umher, Leprakranke werden rein und taube Menschen können hören. Tote werden auferweckt, die Armen bringen frohe Botschaft.
Also werden kranke Menschen aktiv. Sie sehen, gehen, hören, werden lebendig und sprechen davon: „verkünden“. Sie werden aktiv in der Begegnung mit Jesus. Sie haben offenbar erkannt: Menschen müssen selbst wieder sehen und gehen wollen. Sie müssen selbst aufstehen und für Gerechtigkeit sorgen. Sie finden sich nicht ab mit Krankheit, Hunger und Abhängigkeit. Sie sagen, was Sache ist: Armut ist die Konsequenz ungerechter Strukturen. Die Voraussetzung, dies zu erkennen, ist ganz schlicht: sehen, hören, heil werden, sprechen. Wo Armut ohnmächtig und schwach macht, müssen Christinnen und Christen hilfreich zur Seite stehen und ungerechte Strukturen anprangern. Aber was geändert werden muss, sagen die Armen selbst. Nur sie selbst können sagen, welche Mittel zu einem gelingenden Leben nötig sind. Das sind nicht nur „Lebensmittel“. Das ist gerechter Lohn, Zugang zu Bildung und, nicht zuletzt, Zugang zu hilfreichen Hoffnungsbildern.
Die „frohe Botschaft“ ist zunächst einmal weniger froh, denn sie benennt die Ursachen der Armut. Die Diagnose stellt Gewohntes in Frage, macht Ärger und will bearbeitet werden. Und es ist enttäuschend, dass diese Botschaft zuallererst ein Arbeitsauftrag ist: ein Auftrag an die, die in Armut leben – und vor allem an diejenigen, die sich als Christinnen und Christen verpflichtet fühlen, Armut zu bekämpfen. In den Worten von Hanns Dieter Hüsch:
Das Licht der plötzlichen Erkenntnis so nenne ich es:
Dass kein Mensch ohne die anderen Menschen existieren kann,
dass wir nur überleben, wenn wir
miteinander
und füreinander leben,
dass wir abgeben, was uns nicht gehört,
dass wir aufgeben, was die Reichen reicher
und die Armen ärmer macht.
Mag sein, dass wir dabei mit materieller Armut leichter umgehen, weil sie sichtbar ist. Es gibt aber auch die seelische, geistige und gesundheitliche Armut, die Armut an Beziehung, Bildung und Sprachfähigkeit. Um dieser Armut auf die Spur zu kommen, bedarf es besonderer Fähigkeiten und Hilfen. Das bib lische „Steh auf!“ stellt uns auf einen langen und mühsamen Weg. Kraft zum Durchhalten finden wir in der Lebensweise der Jesusgruppe. Da haben einige ihren Besitz verlassen,
und „sie teilten alles, was sie hatten“. Das galt auch für die frühen christlichen Gemeinden, die sesshaft geblieben waren, nachzulesen in den Geschichten der Apostelinnen und Apostel. Sie teilten nicht nur Essen und Trinken, sie teilten ihre Hoffnungsbilder von einer gerechteren Welt. Sie teilten ihren Glauben und ihre Sehnsüchte.
Was beim Teilen hilft, hat Hilde Domin in einer Strophe des Gedichts „Mit leichtem Gepäck“ benannt:
Sag dem Schoßhund Gegenstand ab
Der dich anwedelt
Aus den Schaufenstern.
Er irrt. Du
Riechst nicht nach Bleiben.
Ein Löffel ist besser als zwei.
Häng ihn dir um den Hals …
Die Visionen der ersten Christinnen und Christen sind bis heute lebendig geblieben, und sie verbinden uns mit allen Christinnen und Christen in der Welt. Wir dürfen sie für uns übersetzen.
In der unserer globalisierten Welt heißt das: Wir reichen Länder liefern keine Waffen mehr an arme Länder. Die Kinder der Armen weben keine Teppiche mehr für die Reichen. Die Beschneidung der Mädchen in den armen Ländern hört auf. Die Spekulanten an der Börse verdienen kein Geld mehr mit dem Hunger anderer.
In unserer kleinen Welt heißt das: Männer und Frauen teilen sich gerecht ihre Arbeit. Frauen und Männer bekommen den gleichen Lohn für gleiche Arbeitsleistung. Frauen können in allen christlichen Kirchen ordiniert werden. Der Lohn für Kranken- und Altenpflege wird angemessen erhöht. Kinderarmut gibt es in unserem Land nicht mehr.
Die Seelsorge an Menschen, die alle Lebendigkeit verloren haben, könnte an aktiven Hoffnungsbildern arbeiten. Ist es nicht wunderbar, dass Gott uns das zumutet? Ist es nicht wunderbar, dass Gott uns zutraut, selbst aktiv zu werden, wo Armut uns vom Leben abschneidet? So können wir die Jahreslosung als frohe Botschaft verstehen: „Gott traut uns mehr zu, als wir für möglich halten.“ In vielen biblischen Geschichten wird uns davon erzählt, wir dürfen für möglich halten, dass es geschieht. Am eindrücklichsten berichtet es uns die Botschaft vom Ostermorgen. Die Frauen am Grab wenden sich ab von den Todesstrukturen, hin zum Leben. Diese Zuwendung zum Leben, diese Hingabe und Verwandlung müssen wir selbst tun.
Lied: Du sammelst meine Tränen
(in: Singen von deiner Gerechtigkeit,S. 80) oder z.B.: Brich mit den Hungrigen dein Brot (EG 420)
Heidi Rosenstock, geb. 1932, ist Organisationsberaterin und ehemaliges Mitglied der Kirchenleitung der EKHN. Während der Entstehungsphase des Projekts der Bibel in gerechter Sprache war sie Geschäftsführerin des Beirats.
Verwendete Literatur:
Claudia Janssen, Die Autorität der Armen,
in: Zeitzeichen, 2006, 7. Jg., Heft 9, 32-34
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