Immanuel Kant war der erste, der dem Geschmacksurteil die Würde eines Urteils gab. Seine Kritik der ästhetischen Urteilskraft beschreibt das freie Spiel der Erkenntniskräfte, die das Schöne in uns auslöst. Es führt zu einem Zustand der ästhetischen Lust, der uns dann ein positives Geschmacksurteil fällen lässt. (…) Kants Ideen waren wichtig für ein immer stärker werdendes Bürgertum, das sich ohne Kirche und Staat selbst darauf einigen wollte, was schön, gut und geschmackvoll ist, und er betonte die Bedeutung eines öffentlichen Geschmacksurteils neben der bloßen Privatmeinung. (…)
„Auf den Geschmack kommen“, das heißt also immer auch, einen Gegenstand (ob einem Kunstwerk, einem Kleidungsstück, einem Lebensmittel oder einer Speise) etwas abzugewinnen, an ihm besondere Eigenschaften zu erkennen beziehungsweise zu entdecken. Und dies ist ohne den Umweg über die Sprache nicht möglich. Erst die Sprache und das Miteinander-Sprechen ermöglichen uns Kriterien zu formulieren, anhand derer wir ein auch für andere überprüfbares Urteil über besondere Eigenschaften (Qualitäten) eines Lebensmittels oder einer Speise festmachen können. Und erst wenn wir bewusst differenzieren, also vergleichen, abwägen, unterscheiden und darüber auch sprechen können, werden wir fähig, einen eigenen Geschmack zu entwickeln, der nicht bloß von einem Gruppengeschmack geprägt ist, sondern sich von diesem bis zu einem bestimmten Grad auch emanzipieren kann. (…)
Das Zusammenspiel aller Sinne – gekoppelt mit persönlichem Erinnerungsvermögen und einer im Austausch mit anderen immer wieder zu überprüfenden „kulinarischen Theorie“ – erlaubt es uns also erst, eine Speise zu bewerten. Denn Geschmack ist mehr als zwischen süß, salzig, bitter, sauer und umami unterscheiden zu können. Es sind nicht nur die Aromen, auch die Wahrnehmung der Texturen (hart, kross, schmelzend, weich etc.) und die Temperaturen sowie zeitlich sich im Mund unterschiedlich entfaltenden Empfindungen, die wir als Geschmack wahrnehmen. Und es ist immer auch das Wissen über die unterschiedlichen Eigenschaften von Produkten, etwa die Größe und Konsistenz einer Hühnerbrust von einem freilaufenden Rassehuhn (z.B. eines Sulmtalers) im Unterschied zu einem vom im Käfig herangewachsenen Hybridhuhn, das unsere Geschmacksbeurteilung beeinflusst.
aus:
Muss denn Essen Sünde sein? – Orientierung im Dschungel der Ernährungsideologien
© Christian Brandstätter Verlag GmbH & Co KG, Wien 2015, S. 118ff
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