Alle Ausgaben / 2010 Artikel von Petra Maria Tollkötter

Auf dich haben wir gewartet

Exerzitien auf der Straße machen

Von Petra Maria Tollkötter


Zum ersten Mal habe ich im Jahr 2001 teilgenommen. Zehn Tage bin ich auf die Straße gegangen, habe Ausschau gehalten nach Gott. Einmal saß ich zwei Stunden im Park zwischen zwei mir unbekannten alkoholisierten Männern, die mich begrüßt hatten mit: „Auf dich haben wir gewartet!“

Ich hatte an diesem Tag eine denkbar schlechte Stimmung, fühlte mich hohl und leer, ziellos und genervt. Ich hatte nichts zu bieten, ganz sicher nicht in irgendwelchen menschlichen Kontakten. Das Angebot der beiden nahm ich an, hockte mich müde zwischen sie, nuckelte an meiner Wasserflasche wie sie an ihrem Bier. Gelegentlich wechselten wir Ein- bis Dreiwortsätze. Meistens aber schwiegen wir. Sie hatten genauso wenig zu bieten wie ich und machten keinen Hehl daraus. Da entstand etwas zwischen uns – jenseits der Worte, gerade im Ausgelaugtsein, in der Erschöpfung, im müden Schweigen.

Als ich nach zwei Stunden weiter ging, war ich auf eigenartige Weise getröstet und belebt. Da, während dieser zwei Stunden, habe ich eine lebendig machende, sich Jahr für Jahr vertiefenden Gottesspur entdeckt: Ich darf sein – ohne (Vor-) Leistung, ohne intellektuelle Schminke, ohne emotionale Kontur, ohne Anspruch, ohne Wollen. Und dieses Da-Sein einfach zuzulassen – damit haben mich die beiden ganz elementar angesteckt und mir etwas von Gottes großem Ja zu mir vermittelt. Noch jetzt beim Schreiben steigt tiefe, warme Freude in mir auf in der Erinnerung an diese beiden Männer und an das, was sie mir als persönliche Gottesbotschaft offenbarten.

Eine kleine persönliche Erfahrung aus meinen Straßenexerzitien. Was habe ich da gemacht, in diesen zehn Tagen? Was machen Gruppen von bis zu zehn Personen, die sich auf solch einen Weg begeben, der sich „Straßenexerzitien“ nennt?


Sehnsucht nach dem Mehr

Viele Menschen sehnen sich nach einem Mehr an Leben. Das Alltägliche mit seinen Annehmlichkeiten, Festen und Freuden, mit seinen Mühen und nicht zu verstehenden Leidensphasen reicht ihnen nicht. Sie halten Ausschau nach etwas Größerem. Oder anders: Etwas in ihnen ist mit nichts zufrieden. Etwas in ihnen will mehr, will Größeres, Intensiveres, Dichteres, Tragenderes.

In Exerzitien  machen sich Menschen auf einen Weg nach innen. Der Wechsel an einen anderen Ort geht traditionell einher mit einer gewissen Abgeschiedenheit von der Welt, in der sie sonst leben. Meist sind es Orte des Schweigens, ein Kloster etwa oder eine Bildungsstätte. Man bezieht ein Einzelzimmer. Für Leib und Seele wird gut gesorgt, denn die Zeit der Exerzitien ist auch eine Zeit des Genießens und der äußeren Versorgung. Oft sind Exerzitien daher recht teuer. Durchgängig können die Teilnehmenden bei einem Exerzitienbegleiter oder einer Exerzitienbegleiterin ihre Fragen und Gedanken formulieren und in den Gesprächen zu mehr Klarheit und Tiefe finden.

Die ExerzitantInnen üben sich ein in eine Aufmerksamkeit für sich selbst. Sie achten auf ihre Resonanz, während sie sich auf etwas oder jemanden einlassen, und machen sich weit für neue Erfahrungen. Menschen in Exerzitien folgen einer inneren Sehnsucht nach Leben, die über das Sichtbare und Greifbare und Erfaßbare hinaus geht.

Angeboten werden verschiedene Formen von Exerzitien. Indem Menschen einen Bibeltext meditieren oder einem Vortrag lauschen, auf ihren Atem achten oder auf ein Wort einschwingen oder die Natur wahrnehmen, werden sie aufmerksam für den, den wir Gott nennen, der auf sie zukommt und sich ihnen zeigen will. Plötzlich erkennt ein Mensch einen Zusammenhang, erfährt plötzlich Trost und Ermutigung, versteht, erahnt einen tieferen Sinn, plötzlich zeigt sich eine Spur wie nie zuvor. Manchmal auch gar nicht plötzlich, sondern ganz langsam und behutsam entwickelt sich etwas Neues, für das die Zeit der Exerzitien eine Etappe ist.


Gott auf der Straße finden

Was aber sind Straßenexerzitien? Initiiert wurden sie im Jahr 2000 von der Gruppe Ordensleute gegen Ausgrenzung aus Berlin. Seitdem finden sie jährlich an verschiedenen Orten, auch über Deutschland hinaus, statt.

In den Straßenexerzitien wird den Begebenheiten auf der Straße eine besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Die TeilnehmerInnen nehmen die Straße als Ort der möglichen Gottesbegegnung mit sehr wachen und aufnahmebereiten Augen, Ohren und Herzen wahr und spüren ihrer inneren Resonanz nach.

Die zentrale Geschichte für Straßenexerzitien ist die Erzählung von Mose, der in der Wüste auf einen brennenden Dornbusch stößt, in dem Gott sich ihm offenbart als sein ganz persönlicher Gott (Ex 3). Für Mose ist es Alltag, wenn er die Schafe hütet, nichts Besonderes, dass ein trockener Dornbusch brennt. Erst, als ein Dornbusch nicht aufhört zu brennen, folgt Mose seiner Neugierde, die durch Wachsamkeit geweckt ist, und tritt näher. Der Dornbusch steht für das Harte, Unbeugsame, Knorrige, Verdorrte und Stachelige in meiner Alltagswelt – und auch in mir. Dies wahrzunehmen, anzunehmen und sich ein Mehr schenken zu lassen ist die Erfahrung des Mose, die uns ansteckt, uns unseren eigenen Dornbüschen zuzuwenden in Erwartung eines Mehr.

Um solche Prozesse zu erleichtern, beziehen die Teilnehmenden einfache Unterkünfte, in denen sie gemeinsam übernachten (Pfarrheim, Winterunterkunft für Obdachlose, kleine Wohnung) und sich selbst versorgen. Die Exerzitien sind kostenlos, da die BegleiterInnen (pro Fünfergruppe eine Frau und ein Mann) ihr Mitgehen ehrenamtlich anbieten. Die konfessionelle Ausrichtung ist kein Kriterium – an den Straßenexerzitien kann teilnehmen, wer möchte.

Auch der Ablauf der Exerzitien ist einfach strukturiert: Mit einem von der Gruppe gestalteten Tagesimpuls beginnen die Teilnehmenden ihren Tag und sind anschließend den Tag über in der Regel alleine unterwegs, denn die Exerzitien sind Einzelexerzitien in der Gruppe. Privilegierte Orte der Gottesbegegnung sind die zufälligen, nicht geplanten Begegnungen auf der Straße und auf Plätzen, wo sich ausgegrenzte Menschen aufhalten – zum Beispiel Drogenumschlagplatz, Agentur für Arbeit, Krankenhaus, AIDS-Beratung, Suppenküche. Am späten Nachmittag finden sich alle wieder in der Unterkunft ein. Um 17 Uhr wird dort ein Gottesdienst angeboten, es folgt das selbst bereitete Abendessen. Anschließend findet das Gruppengespräch statt, in dem die Teilnehmenden ihre Tageserfahrungen erzählen, während die gesamte Gruppe eingeladen ist, darauf zu reagieren. Verbindlich ist während der Exerzitien nur das Gruppengespräch.

Es gibt drei Impulse in diesen Tagen. Am Anfang steht die Frage nach der eigenen Sehnsucht und dem damit verbundenen persönlichen Gottesnamen. Nach einigen Tagen wird die Geschichte von Mose am Dornbusch als Wegbegleitung und Deutungshilfe für das Geschehen des Tages angeboten. Und gegen Ende steht die Emmauserzählung (Lk 24) im Vordergund. Die Exerzitien enden mit einem gemeinsamen Gottesdienst in einer Gemeinde oder einem anderen Kreis von Glaubenden.

Was Menschen in diesen Tagen erfahren, ist sehr unterschiedlich und sehr persönlich. Alle werden in diesen Tagen stiller, gesammelter, wacher. Viele erzählen von ihren Erlebnissen, denn unsere Gotteserfahrungen sind ja nicht unser Privateigentum, sondern sind oft bewegend und ansteckend für die Zuhörenden. Zudem werden sie vom Erzählenden oft noch einmal neu und anders erfahren. Da ist eine, die erlebt in der Auseinandersetzung mit ihrem Arbeitsplatz durch die Begegnung mit Menschen auf dem Friedhof eine deutliche Aufforderung, sich Sterbenden zuzuwenden und erfährt die Verstorbenen als Verbündete und wie Engel. Da ist ein anderer, der sich in die Trauer um ein verstorbenes Kind versetzt sieht und in der Begegnung mit einem gleichnamigen Kind und dessen Mutter Trost und Erlösung von seinem Schmerz erlebt. Wieder eine andere erinnert beim Überqueren einer weitgespannten Brücke, die ihr Angst macht, alte Ohnmachtserfahrungen und wird spontan von zwei Menschen über diese Brücke begleitet. Plötzlich verändert sich eine große Angst, und im Erleben von so konkreter Begleitung scheint Gott als treuer Begleiter auf.

In Duisburg bieten wir in diesem Jahr zum zweiten Mal einen Kurs von Frauen für Frauen an. In langjährigen Erfahrungen wurde deutlich, dass es immer wieder Frauen gibt, die ihre Schönheit und ihre Lebendigkeit zurückhalten, wenn Männer dabei sind. Manche mögen auch nicht über schmerzhafte Dinge reden, wenn Männer anwesend sind. Unser Ziel ist es, Frauen im Rahmen der Straßenexerzitien einzuladen, ihrer Wahrnehmung zu trauen und sich mehr auf diese Welt und ihr Sosein einzulassen.


Gott meiner Sehnsucht

Damit Sie ein wenig Geschmack an dieser Form der geerdeten Exerzitien finden, lade ich Sie zu einer kleinen Übung ein, die etwa vier Stunden dauert und die Sie in einer Ihnen vertrauten oder auch neuen Gruppe machen können.

Hintergrund dieser Übung sind folgende Überlegungen: Wir alle tragen Sehnsüchte in uns. Diese haben wir uns nicht ausgesucht, sie sind einfach da. Indem wir nach der Wut oder der Traurigkeit oder der Erstarrung in uns fragen, kommen wir unserer Sehnsucht sozusagen umgekehrt etwas näher.

In dieser Sehnsucht verbindet sich Gott mit uns, denn er hat sie in uns gelegt als einen ganz wesentlichen Teil von uns. Daher kann ich nach einem Namen für Gott suchen, wie er/sie gerade von mir angeredet werden möchte als mein Gott.

Ein Beispiel: Da ist eine Frau, die reagiert jedes Mal sehr ärgerlich, wenn ein Mensch in ihrer Umgebung übersehen wird. Sie erkennt dahinter ihre eigene elementare Sehnsucht, gesehen und wertgeschätzt zu werden von den Menschen, mit denen sie zu tun hat. In der Gruppe kristallisiert sich mehr und mehr eine Anrede Gottes heraus: „Gott, der/die du mich liebend anschaust!“ Im Mitgehenlassen dieses Satzes wächst ihre Selbstachtung.

Ein anderes Beispiel: Eine spürt regelmäßig eine große Wut, wenn ihr oder einer anderen Person Dinge unterstellt werden, die nicht stimmen oder sehr pauschal und reduzierend sind. In ihr ist eine Sehnsucht, nicht verurteilt zu werden, nicht als Verliererin da zu stehen. Die Gruppe erspürt mit ihr den Namen Gottes: „Du, der/die du lieber selbst den letzten Platz einnimmst als dass ich ihn bekomme!“ Dass der -letzte Platz durch Gott besetzt ist, befreit sie dazu, sich mit ihren Schwächen und Fehlern selbst annehmen zu können.


Übung in der Gruppe

– Treffen Sie sich als Gruppe zum Beginn dieser Einheit und stimmen Sie sich mit einem Lied ein, z.B.: Bewahre uns Gott (EG 171, 1+4).
– Nehmen Sie sich etwa 1-2 Stunden Zeit, gehen Sie – jede für sich allein – nach draußen. Lassen Sie die Frage mitgehen: Was macht mich regelmäßig wütend oder traurig? Was lässt mich erstarren?
– Wenn Sie fündig geworden sind, fragen Sie sich: Wie hätte ich es denn gerne? Welche Sehnsucht steckt in dem, was mich traurig oder wütend macht?
– Kommen Sie zu einem vorher festgelegten Zeitpunkt wieder mit Ihrer Gruppe zusammen und teilen Sie diese Erfahrungen mit Ihrer Gruppe. Nehmen Sie sich etwa 2 Stunden Zeit, damit jede zu Wort kommen kann.

Während eine erzählt, spüren die anderen bei sich nach, welche Wirkung ihre Worte, ihre Gesten, ihre Mimik auf sie hat und stellen ihr dies wertschätzend zur Verfügung.

Nachdem eine erzählt hat, schauen Sie gemeinsam hin: Welcher Name Gottes verbirgt sich hinter dieser Sehnsucht? Wie kann sie ihren Gott ansprechen als ihren ganz persönlichen Gott?

– Gehen Sie mit diesem gefundenen eigenen Namen Gottes durch die nächste Woche. Vielleicht ist es möglich, nach der Woche mit der einen oder anderen aus der Gruppe über das zu sprechen, was mit dem Namen Gottes in ihr geschehen ist.
– Für manche ist die Erzählung von Hanna, der Magd Saras hilfreich (Gen 16). In einer existentiell verunsichernden Situation erfährt Hanna ihren Gott als den, der nach ihr schaut. Die Geschichte können Sie vor oder nach Ihrer gemeinsamen Austauschzeit vorlesen oder erzählen.


Sr. Petra Maria Tollkötter, Jahrgang 1964, ist Dipl.-Sozialpädagogin. Sie lebt seit 25 Jahren in der Gemeinschaft der Schwestern Unserer Lieben Frau. Dieser katholische Frauenorden sieht seine besondere Aufgabe darin, die Not der Zeit zu sehen und darauf zu reagieren, häufig arbeiten die Schwestern daher in Schulen oder Kindergärten oder machen Sozialarbeit. Sr. Petra Maria lebt zusammen mit zwei Mitschwestern seit drei Jahren aktive Nachbarschaft in Marxloh, einem Stadtteil von Duisburg, der zu 70 Prozent von Menschen mit Migrationshintergrund bevölkert ist und wo sehr viele materiell arme Menschen sind. Straßenexerzitien begleitet sie seit 2003.

Die nächsten Straßenexerzitien für Frauen finden 23.7.-1.8.2010 in Duisburg statt; Information und Kontakt unter: www.con-spiration.de/Exerzitien/


Zum Weiterlesen

Christian Herwartz: Auf nackten Sohlen. Exerzitien auf der Straße, Echter Verlag

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