Ausgabe 2 / 2005 Material von Judith Jannberg

Aufbruch

Von Judith Jannberg


Der Mann, der zurückgekommen war, war der alte.
Wolfgang hat seine Geschenkpakete unter den Weih nachtsbaum gestellt und mit einer Zeitschrift im bequemsten Wohnzimmersessel Platz genommen. Er hat zugesehen, wie seine Frau sich mit Festvorbereitungen abhetzte.
Da sich seine Mutter und seine Tante zum Fest angemeldet hatten und ich mich deswegen zwei ganze Tage lang als Putzteufel betätigt hatte, war ich schon vor dem  Mittagessen erschöpft.
Mit Rücksicht auf die beiden älteren Damen habe ich das ganze Weihnachtsgetue mitgemacht. Ich habe bedient.
Ich habe bedient: Ich habe darauf geachtet, dass die  Nussteller voll und die Aschenbecher leer waren. Ich habe einen exzellenten Braten serviert und mich aufmerksam nach den besonderen Wünschen meiner Gäste erkundigt. Während der Pudding – keiner aus der Packung – gegessen wurde, habe ich schnell die Suppen- und Fleischteller in der Küche gespült. Ich habe meine Schürze abgestreift, mich halbtot unter den Tannenbaum gestellt, mit freundlicher Miene frohe Weihnachten gewünscht und „Süßer die Glocken nie klingen“ vorgesungen.
Nachdem alle ihre Geschenke ausgepackt hatten, habe ich mich niedergekniet, um das Papier ordentlich zusammenzufalten und die Bindfäden aufzurollen. Zum Schluss habe ich Wolfgangs Geschenk für mich geöffnet: Curlers – elektrische Lockenwickler…
Mag sein, dass er nur gedankenlos irgend etwas gekauft oder seine Sekretärin damit beauftragt hat, etwas zu besorgen, was „eine Frau immer brauchen kann“. Aber für mich hatte dieses Geschenk damals eine symbolische Bedeutung: Er will mich wieder so haben wie in unserer „glücklichen Phase“ meiner Betäubung. Ich soll wieder Gattin spielen, gepflegtes Anhängsel. Er ist der alte geblieben, und er scheint gar nicht bemerkt zu haben, dass ich eine andere geworden bin.
„Mit einem Buch über ein Thema, das mich gerade beschäftigt, oder mit einer guten Opernplatte hättest du mir eine Freude gemacht“, habe ich zu ihm gesagt.
Wir waren uns beide bewusst, dass ich mit dieser Bemerkung eine Kriegserklärung ausgesprochen hatte: Entweder du respektierst mich, oder ich verlasse dich. 

aus: Ich bin ich © 1980, 1996 Kindler GmbH, München

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