Alle Ausgaben / 2015 Material von David Safier

…außer Hannah drücken

Von David Safier

Warschau 1943. Die sechzehnjährige Mira schmuggelt Le­bens­mittel, um im Warschauer Ghetto zu überleben. Als sie erfährt, dass die gesamte Ghettobevölkerung umgebracht werden soll, schließt sich Mira dem Widerstand an. Der kann der übermächtigen SS länger trotzen als vermutet. Viel länger. Ganze 28 Tage.

Natürlich wusste ich, dass Daniel seinen „Vater“ Korczak und die Kinder nie verlassen würde. Trotz seines Schwures, mich nach Amerika zu begleiten. Auch Korczak blieb bei den Kleinen, was auch immer geschah. Reiche Juden aus dem Ausland hatten Geld gesammelt, um ihn aus dem Ghetto zu schmuggeln, aber er hatte sich geweigert zu gehen. Die Kinder des Waisenhauses waren seine Kinder. Und wer verließ schon seine Kinder?

Mein Vater.

Im letzten Sommer hatte er sich aus dem Fenster gestürzt. Als Arzt hatte er nicht mehr arbeiten können, weil er die furchtbaren Zustände im jüdischen Ghettokrankenhaus nicht mehr ertragen konnte. Seine Nerven waren zerrüttet. All unsere Ersparnisse waren aufgebraucht, das letzte Geld hatte Papa für Schmiergeld ausgegeben, damit ­Simon in die jüdische Polizei aufgenommen wurde.

Als er dann erkannte, dass sein Sohn sich einen Scheißdreck für seine Familie und noch einen größeren Scheißdreck für seinen schwachen Vater interessierte, der doch alles für ihn getan hatte, war Papas Seele endgültig zerstört.

Am Tag seines Selbstmordes ging ich noch zur Schule. Mama arbeitete in einer der deutschen Fabriken. So kam ich früher nach Hause als sie und fand ihn auf dem Hof. Er lag in seinem eigenen Blut. Sein Schädel war von dem Aufprall zerplatzt. Wie in Trance holte ich Hilfe, damit man ihn abtransportierte, bevor Hannah ihn so sehen konnte. Nachdem die Totengräber ihn abgeholt hatten, wartete ich auf Mama. Sie bekam bei der Nachricht von Papas Tod den Heulkrampf, zu dem ich nicht fähig war. Ich konnte sie nicht trösten. Ich konnte kaum noch was.

Außer Hannah drücken, als sie nach Hause kam. Die Kleine weinte und weinte, bis sie in meinen Armen einschlief. Ich trug sie zu ihrer Matratze, legte sie ab, ließ Mama mit ihrem Schmerz allein und verließ das Haus. Ich fand, Simon solle erfahren, dass sein Vater gestorben war. So machte ich mich auf den Weg durch das Ghetto-Gewühl zum Gebäude der Judenpolizei. Doch auf halbem Wege wollte ich nicht mehr. Ich wollte nicht in dieses schreckliche Haus zu diesen widerlichen Menschen, bei denen Simon Karriere machte.

Ich wollte gar nichts mehr.

Ich setzte mich auf den Bordstein. Die Menschen gingen an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Alle. Bis auf Daniel. Ich wusste nicht, ob ich erst Minuten vor mich hingestarrt hatte oder bereits seit Stunden, aber auf einmal saß er neben mir. Als Waise hatte er wohl gespürt, dass da jemand in Not war.

Bis dahin hatte ich immer noch nicht weinen können, aber nun, wo ich nicht mehr allein war und nicht mehr stark sein musste, lief eine Träne langsam über meine Wange. Daniel nahm mich in den Arm, ohne ein Wort zu sagen, und küsste mir die Träne weg.

aus: 28 Tage lang
S. 57ff
© 2014 by Rowohlt Verlag GmbH
Reinbek bei Hamburg

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