Ausgabe 2 / 2009 Material von Annette Rösel

Begegnende Hilfe

Von Annette Rösel


Am 20-jährigen Jubiläum des Wohn- und Pflegeheims Linerhaus für MS-Erkrankte in Celle im August 2008 hat sich eine Gruppe Bewohner/innen mit einer Jubiläumszeitschrift beteiligt. Das Besondere dabei ist, dass die Teilnehmer/innen dieser Schreibgruppe durch jahrelange Erkrankung an Multipler Sklerose größtenteils schwerstbehindert sind. Alle Teilnehmer/innen sitzen im Rollstuhl. Nur wenige können ihre Arme und Hände gezielt einsetzen und sind somit intensiv auf Hilfe angewiesen.
Die Jubiläumszeitschrift MS Lina entstand in Gesprächen. Die Autor/innen haben sich über die zu schreibenden Artikel für die Zeitschrift unterhalten. Die Leiterin, Annette Rösel, hat ihre Worte notiert und anschließend in eine Form gebracht. In über einem Jahr Arbeit ist dabei die Zeitschrift „MS Lina“ entstanden. Sie enthält Berichte über die Krankheit MS und das Leben damit, erzählt vom Leben im Heim und Ausflügen aus dem Alltag. Der folgende Text ist ein überarbeiteter Auszug aus dem gleichnamigen Artikel. Die Jubiläumszeitschrift kann kostenfrei angefordert werden unter:
Stiftung Linerhaus, Alte Dorfstr. 1, 29227 Celle

Es ging um Erlebnisse rund ums Thema Hilfe annehmen, Hilfe geben sowie Momente, in denen sich die Rollen der Beteiligten verkehren. Wer weiß besser über dieses Thema Bescheid als die schwerbehinderten Teilnehmer/innen der Schreibgruppe des MS-Heims Linerhaus?

„Es ist eine Gnade, dass wir Menschen haben, die uns so viel geben“, überlegt Helmut. „Im Grunde ist jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin auf eigene Art und Weise wichtig“, sagt Arne.
Hans ist anderer Meinung: „Ich erlebe es als unterschiedlich. Ich denke: Ja, auf den freu ich mich, und bei anderen: Ach nein, nicht der.“
Allgemeine Zustimmung.
„Ich spüre, dass sich die Haltung des Gegenübers bei mir körperlich auswirkt. Die ersten Worte, die gesprochen sind, beeinflussen alles Weitere“, weiß Beate. „Für mich ist es ganz wichtig, wer kommt“, erzählt Jana. „Die ersten Worte, wenn einer zur Tür hereinkommt, sind entscheidend, ob ich mich wohl fühle oder verkrampfe und eine Spastik bekomme.“ Diese Erfahrung teilen alle im Raum. Der Körper nimmt auch Unterschwelliges ganz sensibel wahr und reagiert unmittelbar darauf.
„Es ist ein großer Unterschied, wenn ich klingele und jemand sagt: Kann ich dir helfen? Oder: Äh, was willst denn du?“, sagt Hans.
Jana fügt hinzu: „Es ist eine Tatsache, dass man die Hilfe braucht. Es ist traurig, dass man so viel Hilfe braucht. Aber richtig traurig ist es, wenn ich Hilfe bekomme und eigentlich das Gefühl habe, ich störe.“

Auch wenn die Autor/innen sehr stark auf die Hilfe der Mitarbeiter/innen angewiesen sind, verschwimmen die Rollen zwischen Hilfe annehmen und geben immer wieder. Jana fällt auf, dass Helmut ihr hilft, wenn sie am Tisch sitzen, und dass Arne Beate immer wieder den Becher zum Trinken reicht. Hans, Beate und Helmut erzählen, wie wichtig es früher für sie war, schwerer Betroffene zu unterstützen. Und Arne strahlt, als er erzählt, wie er anderen helfen kann: „Ich bin zwar krank, aber das ist für mich nicht so schlimm. Ich kann noch vieles machen, und ich möchte anderen helfen, sei es beim Essen und Trinken oder beim Postholen. Auch als Heimbeirat bin ich für andere da. Weil die anderen das ja nicht können. Wenn ich Leute sehe, die bettlägerig sind und sich nicht äußern können: Die brauchen halt Hilfe. Für mich ist es normal zu helfen. Ein Dankeschön, das reicht mir schon, das ist sehr viel wert.“

Der Heilpädagoge des Hauses hat der Gruppe in einem Interview gesagt, er nähme jeden Tag viel von der Arbeit mit nach Hause. Wie ist es möglich, dass jemand etwas mitnimmt, obwohl ihm nichts Sichtbares gegeben wurde?


Annette Rösel

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