Ausgabe 1 / 2011 Artikel von Karin Flothmann

Beileibe keine Quacksalberei

Erfolgsrezept Integrative Medizin

Von Karin Flothmann


„Drei, zwei, eins!“ Auf eins setzten rund zwei Dutzend Freiwillige im vergangenen Januar ein Fläschchen homöopathischer Globuli an den Mund und schluckten. Nicht nur ein oder zwei der Zuckerkügelchen, wie es in der Homöopathie üblich wäre. Nein, das ganze Fläschchen wurde geleert. Keiner vergiftete sich bei der „Aktion Überdosis“, die in verschiedenen Städten Großbritanniens stattfand. Auf diese Weise wollten die britischen Aktivisten beweisen, dass Homöopathie wirkungslos sei – pure Quacksalberei.

Das Nachrichtenmagazin Spiegel nahm die Aktion dankbar auf. „Homöopathie – Die große Illusion“ titelte es im vergangenen Sommer und ließ Kritiker der hochpotenzierten Globuli ausführlich zu Wort kommen. So meinte etwa Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen: „Die Homöopathie ist ein spekulatives, widerlegtes Konzept.“ Bis heute sei nicht bewiesen, dass die Globuli irgendeinen medizinischen Nutzen hätten. Und Edzard Ernst, Lehrstuhl-Inhaber im britischen Exeter, glaubt: „Wenn wir glauben, dass das Schütteln von Hochpotenzen uns heilt, wenn wir an mystische Kräfte glauben und die Menschen beginnen, wissenschaftliches Denken abzulehnen, dann sind wir auf dem Weg zurück ins Mittelalter.“

Der Spiegel setzte bewusst auf die alte Feindschaft zwischen Alternativmedizinern und Schulmedizin. Ein Konflikt verspricht eben höhere Verkaufszahlen. Doch die Zeit der polemischen Grenzziehungen ist längst vorbei. An der Berliner Charité wird zurzeit eine große Studie zur Wirksamkeit von Homöopathie bei Depressionen durchgeführt. Diverse andere Studien belegen die Erfolge von Naturheilmitteln, Akupunktur oder Chiropraktik. Und selbst der Präsident der Bundesärztekammer, Professor Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, ist davon überzeugt: „Medizin ist mehr als nur eine reine Naturwissenschaft.“ Viele Krankheitsverläufe seien mit purer Naturwissenschaft gar nicht erklärbar. Umso wichtiger sei es, alle seriösen Therapieformen der alternativen Medizin zum Nutzen der PatientInnen einzusetzen. Die neue Richtung heißt daher: Integrative Medizin. Sie will das Beste aus beiden medizinischen Welten vereinen.


Chemo und warme Wickel

„Integrative Medizin wird seit Jahren von niedergelassenen Ärzten praktiziert, ohne dass sie so genannt wird“, sagt Michael Teut, ärztlicher Leiter der Charité-Ambulanz für Präventive und Integrative Medizin in Berlin. „Vor allem in Hausarztpraxen greifen viele Ärzte auf Naturheilmittel zurück, haben Zusatzausbildungen in der Homöopathie oder Akupunktur.“ Die Zahlen geben Teut recht: 40.000 ÄrztInnen bieten in Deutschland inzwischen alternativmedizinische Methoden an, das ist fast jede/r zehnte. Und die Patientinnen und Patienten nehmen das Angebot an. 1970 griff gerade mal ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland auf unkonventionelle Behandlungsweisen und alternative Medizinprodukte zurück, inzwischen sind es mehr als 60 Prozent.

Viele dieser Menschen sehen nicht ein, warum sie wegen eines grippalen Infekts ohne größere Erklärungen sofort Antibiotika nehmen sollten. Dabei stören sie nicht so sehr die Nebenwirkungen des Arzneimittels. Sie sind einfach unzufrieden mit den schulmedizinischen Methoden. Denn da geht es selten darum, die körpereigenen Abwehrkräfte und Ressourcen zu stärken. „Die Schulmedizin hat historisch bedingt einen pathogenetischen Blick auf Krankheit“, meint Friedemann Schad, Internist und Onkologe am anthroposophischen Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin. „Haben Sie einen Infekt, gebe ich Ihnen Antibiotika, um die Bakterien zu töten. Haben Sie Bluthochdruck, gebe ich Ihnen Betablocker, um den Druck zu blockieren und wenn Sie Krebs haben, gebe ich Ihnen eine Chemotherapie, um den Tumor zu zerstören“, erläutert Schad. „Wir haben völlig aus dem Blick verloren, was unseren Körper gesund macht.“

In seinem Krankenhaus geht der Onkologe anders vor: „Wenn Sie die Diagnose bekommen, dass Sie Krebs haben, dann ist das erst einmal ein dramatischer Schock“, erklärt er. In der Havelhöhe wird dann nicht auf die Chemotherapie verzichtet, wenn sie nötig ist. Doch hinzu kommen weitere Methoden. Etwa psychotherapeutische Gespräche. „Es geht uns darum, unseren Patienten die Angst zu nehmen“ sagt Schad, „denn mit der Angst setzt sich der Krebs in der Seele fest und die Seele erstarrt.“ Also gibt es in der Havelhöhe warme Wickel, Massagen und Bewegungstherapien, um das Urvertrauen zu stärken. Maltherapien öffnen den Patientinnen und Patienten den Zugang zu ihren Gefühlen. Und außerdem zählt zur anthroposophischen Medizin noch die Misteltherapie. „Damit verringern wir die Nebenwirkungen der Chemo“, erklärt Schad, „die Patienten können besser schlafen, haben weniger Angst und das sogenannte Müdigkeitssyndrom bessert sich. Außerdem haben sie keine Angstträume mehr.“


Mehr als acht Minuten reden

Im Mittelpunkt der integrativen Medizin stehen Körper, Geist und Seele. Für die ÄrztInnen an der Charité-Ambulanz ist der Körper keine zergliederbare Maschine, die aus einzelnen Organen und Knochen besteht, sondern eine unteilbare psychosomatische Einheit. Krank werden Menschen, wenn die hochkomplexe Balance zwischen Körper, Geist und Seele aus den Fugen gerät. Krankheit ist für Allgemeinmediziner wie Michael Teut deshalb niemals nur die Erkrankung eines einzelnen Organs, sondern immer auch Ausdruck dafür, dass der Organismus versucht Störungen zu regulieren. „Und diese Selbstheilungskräfte versuchen wir in unserer Ambulanz zu aktivieren“, sagt Teut.

Das geht nur, wenn er auch das soziale Umfeld seiner Patientinnen und Patienten im Blick hat. Denn Gesundheit ist stark von der kulturellen und schichtspezifischen Zugehörigkeit eines Menschen abhängig. Und sie ist von historischen Variablen geprägt, zum Beispiel durch Veränderungen im Bereich der Familie, der Sexualität oder der Versorgung alter Menschen. Hinzu kommt: Derselbe Störfaktor kann die unterschiedlichsten Krankheiten auslösen. Denn jeder Organismus reagiert anders. Eine Nahrungsmittelallergie zeigt sich bei dem einen Menschen in einem Asthma-Anfall, beim zweiten in Hautausschlägen und beim dritten führt sie zu Verdauungsbeschwerden.

Um darüber hinaus auch der Individualität der Erkrankten gerecht zu werden, braucht Teut Zeit, um die PatientInnen, ihre Erkrankung und Lebensumstände zu verstehen und gemeinsam mit ihnen ein Therapiekonzept zu entwickeln. Und diese Zeit nimmt er sich. „Wir suchen immer den Dialog zum Patienten“, erzählt er. Und dieser Dialog braucht mehr als die üblichen acht Minuten, die ÄrztInnen in Deutschland durchschnittlich mit ihren PatientInnen sprechen. Ein erstes Gespräch in der Charité-Ambulanz dauert in der Regel eine Stunde und auch schon mal länger. „Arzt und Patient sollten immer auf Augenhöhe miteinander sprechen“, lautet Teuts Credo.

Die Charité-Ambulanz für Prävention und Integrative Medizin wurde im Frühjahr 2007 vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Charité als Forschungsambulanz gegründet. Seit neustem befindet sich hier nun auch die Hochschulambulanz für Naturheilkunde des Berliner Immanuel Krankenhauses. Hier werden Brücken zwischen Wissenschaft und Praxis, zwischen Schul- und Alternativmedizin gebaut. Die Ambulanz ist für alle offen und bietet neben ärztlicher Beratung körperliche und laborchemische Gesundheits-Checks, Physiotherapie, Qi Gong, klassische Naturheilverfahren, Phytotherapie, Akupunktur, Homöopathie, Ernährungsberatung, Stressbewältigung, Präventionsangebote wie Yogakurse und individuell ausgearbeitete Gesundheitscoachings an. Pro Tag kommen rund 40 bis 50 PatientInnen. Zwei Drittel von ihnen sind Frauen, denn Frauen, so Teut, „haben eine größere Affinität zur Prävention und zu traditionellen Therapieverfahren der europäischen oder asiatischen Medizin.“


Musik auf der Intensivstation

Die Kosten übernimmt immer häufiger die gesetzliche Krankenversicherung. Doch einzelne Heilverfahren, wie etwa die Akupunktur und die Homöopathie müssen aus der eigenen Tasche bezahlt werden. Trotzdem kommen auch viele Menschen mit geringem Einkommen oder Menschen mit Migrationshintergrund zur Ambulanz der Charité. „Oft werden die Patienten von ihrer Krankenkasse zu uns geschickt“, sagt Teut, „zum Beispiel, um eine Ernährungsberatung zu machen.“ Auch in den Krankenhäusern, die Integrative Medizin praktizieren, übernimmt die gesetzliche Krankenversicherung alle Regelleistungen. „Zu uns kommen alle, vom Professor bis hin zur Putzfrau“, erklärt Friedemann Schad vom Krankenhaus Havelhöhe. „Die integrative Medizin ist nicht die FDP der Medizin“, ist er überzeugt. „Sie ist nicht nur etwas für Besserverdienende! Und das ist auch der Anspruch unseres Hauses.“

Auch Akutkrankenhäuser wie die anthroposophische Klinik Witten-Herdecke arbeiten mit dem Ansatz der Integrativen Medizin. „Auf unserer Intensivstation sieht erst einmal alles so aus, wie auf jeder Intensivstation“, erklärt Peter Zimmermann, Psychologe und Vorstandsmitglied in Witten-Herdecke. „Aber wir machen uns von vornherein Gedanken über die Regenerationsfähigkeit unserer Patienten.“ Und das heißt, die ÄrztInnen überlegen sehr genau, wann das Beatmungsgerät abgeschaltet werden kann. Und sie setzen Musiktherapie innerhalb der Intensivstation ein, um die Seele zu beruhigen.

„Unser Blick auf den Patienten ist ressourcenorientiert“, sagt auch Friedemann Schad von der Havelhöhe. „Wir fragen immer: Was kannst du noch, und nicht: Was geht nicht mehr?“ Vor allem chronisch kranke Menschen finden den Weg zur Integrativen Medizin. Denn sie haben oft ausreichende Erfahrungen mit der reinen Schulmedizin hinter sich. „Wenn ein Mensch chronisch krank wird, sind die Behandlungsmöglichkeiten in der Schulmedizin limitiert“, meint Zimmermann. Aber ein Bündel von verschiedenen Maßnahmen der Integrativen Medizin kann oft helfen.

Gisela Mahler(1) konnte diese Erfahrung machen. Die Sekretärin kam in die Charité-Ambulanz mit chronischen Rückenschmerzen. Seit Monaten war sie krankgeschrieben. Ihr Hausarzt hatte sie aufgegeben. Die Frühverrentung stand im Raum. Irgendwann hörte Gisela Mahler dann von der Ambulanz der Charité. Nach Gesprächen mit Michael Teut und Untersuchung erhielt sie mehrere Behandlungen mit Schröpfgläsern, die ihr auf den Rücken gesetzt wurden. „Die saugen sich auf der Haut fest, verursachen manchmal kleinere Blutergüsse, aber der Effekt ist häufig verblüffend gut“, erklärt Teut, „mit ihrer Hilfe wird die Muskulatur effektiv gelockert und Schmerzen werden gelindert.“ Außerdem nahm Gisela Mahler an einem individuell auf sie abgestimmten Yogatraining teil, um langfristig neuen Beschwerden vorzubeugen.
Dieses Training besucht sie noch heute. Die Schmerztabletten hat sie inzwischen abgesetzt. Ihr Rücken ist weitestgehend schmerzfrei. Und Gisela Mahler arbeitet wieder. Der Schlüssel dieses Erfolgs, so Teut, lasse sich in knappen Worten zusammenfassen: „So wenig Medikamente wie nötig, so viele Selbsthilfestrategien wie möglich.“

Für viele Patientinnen und Patienten bedeutet das, sie sollten ihr Leben umstellen, wenn sie gesund werden wollen. Sport, eine andere Ernährung, mehr Entspannung oder der Verzicht auf die Zigaretten gehören zu den wirkungsvollsten Mitteln, um chronischen Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Herz- Kreislauferkrankungen oder chronischen Schmerzen vorzubeugen oder sie zu therapieren. „Für viele unserer chronisch kranken Patienten ist ihre Krankheit der Auslöser, ihren Lebensstil in Frage zu stellen“, weiß auch Peter Zimmermann vom Krankenhaus Witten-Herdecke. Ob sie dann tatsächlich ihre Ernährung umstellen oder sich mehr bewegen, hänge von vielen Faktoren ab. „Zum Beispiel davon, ob sie zu Hause und von Freunden unterstützt werden“, sagt Zimmermann. „Und natürlich geht es immer darum, den inneren Schweinehund zu überwinden.“

Friedemann Schad vom Krankenhaus Havelhöhe hat die Erfahrung gemacht, dass viele PatienInnen über die Veränderung ihres Lebens eine neue Einstellung zu ihrer Krankheit bekommen. „Manche sagen dann tatsächlich: Ich bin dankbar, dass mir das passiert ist.“ Denn die Veränderung des eigenen Lebens geht nicht nur mit der Veränderung der eigenen Ernährungsgewohnheiten einher. Bei vielen Menschen geht es auch darum, etwas Neues zu beginnen. „Bei manchen heißt das, dann endlich die nötige Scheidung in die Gänge zu bringen“, erklärt Schad. „Und andere trauen sich endlich eine verbindliche Partnerschaft einzugehen.“


Karin Flothmann ist gelernte Germanistin und Journalistin. Sie arbeitet für Tageszeitungen und Magazine, bietet aber auch Workshops zur Verbesserung der eigenen Pressearbeit an.
Mehr unter: www.textundwort.de


Anmerkungen
1 Name von der Redaktion geändert

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