Ausgabe 2 / 2007 Material von Thomas Kirn

Bezahlte Geliebte im Wirtschaftswunderland

Von Thomas Kirn

In einen Grabstein auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof ist ein Predigerwort aus dem Alten Testament gemeißelt: „Nichts Besseres darin ist denn fröhlich sein im Leben.“ Hier ruht Rosemarie Nitribitt, die berühmteste Prostituierte Deutschlands, eine dunkle Ikone der jungen Bundesrepublik, bezahlte Geliebte der Leistungselite im Wirtschaftswunderland, kostenfreier Liebling der Zeitkritik, Objekt ungezählter Berichte, Leitartikel, Essays und Kabarettcouplets, Hauptfigur in mindestens drei Spielfilmen und einem Musical.

Die ersten Agenturmeldungen … kennzeichnen bereits den verdrucksten Zeitgeist der fünfziger Jahre. Der Tagesredakteur mag seinen Lesern keine Meldung über den gewaltsamen Tod einer Prostituierten zumuten, er wählt als Berufsbezeichnung „Mannequin“. In den Tagen und Wochen ununterbrochener Berichterstattung über einen Kriminalfall, den man heute einen „Aufreger“ nennen würde, fallen dann zwar die Mauern und Mäuerchen vorgetäuschten Anstands, doch verrückterweise bürgert sich schließlich ein, von dem „Mädchen Rosemarie“ zu reden und zu schreiben. Die Publizistik aller Schattierungen verknüpfte den Mord mit Zustandsbeschreibungen der noch nicht zehn Jahre alten Bundesrepublik. Indem sie die Scheinheiligkeit der Zeit angeblich geißelten, offenbarten manche Autoren kaum mehr als Schadenfreude: Was war das für ein Wirtschaftssystem, in dem eine „Lebedame“ es zu einer ansehnlichen Summe Geldes bringen konnte?

Um die Aufzeichnungen über Freier wird es wohl erst im Jahr 2027 Ruhe geben. Nach siebzig Jahren sind Dokumente wie diese zugänglich. Der seinerzeit im Mordfall ermittelnde Frankfurter Kriminaldirektor Albert Kalk, der das Material kennt, hat freilich stets, wenn jemand fragte, behauptet, es stehe niemand von sonderlicher Prominenz drin. Von einer Verwicklung der Nitribitt in internationale Politik, Treffen mit Nato-Geheimnisträgern und Ermordung durch irgendeinen Geheimdienst könne schon gar keine Rede sein. So spricht ein professioneller Kriminalist und, sagen wir es ruhig, Spielverderber. Der einzige ernsthafte Tatverdächtige, den die Polizei ermitteln konnte, war der Handelsvertreter Heinz P., der 1960 vom Frankfurter Landgericht freigesprochen wurde.

gekürzt aus: F.A.Z. / 29.07.2006
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