Alle Ausgaben / 2013 Andacht von Irene Sonnabend

Bin ich nicht auch ein Gott, der fern ist?

Andacht zu Jeremia 23,23

Von Irene Sonnabend

„,Bin ich nur ein Gott, der nahe ist?', spricht der Ewige, ‚bin ich nicht auch ein Gott, der fern ist?'“ Eine offenkundig rhetorische Frage, die uns da im 23. Kapitel des Buches Jeremia entgegen kommt – und im Zusammenhang mit dem Glück der Gottesnähe, von dem die Jahreslosung spricht, irgendwie irritiert.

„Da war mir Gott ganz nahe!“ Manche erzählen so von ihren Erfahrungen auf einer Bergwanderung, wenn da oben alles ganz still und weit und groß wird, in der umgebenden Natur und in einer oder einem selber auch.

Immer mehr Menschen erleben diese Nähe Gottes in Klöstern. „Hier ist mir der göttliche Urgrund wieder ganz nahe gekommen“, schreibt eine Teilnehmerin an Schweigetagen im Kloster. Wieder andere verbinden ein solches Erlebnis mit der Geburt eines Kindes. „Als ich meine Tochter zum ersten Mal im Arm hielt, da war auf einmal alles verändert. Seitdem weiß ich, dass es Gott wirklich geben muss“, sagt ein junger Vater.

Die Jahreslosung für 2014 scheint alle diese Erfahrungen in ein Wort zu fassen: „Gott nahe zu sein, ist mein Glück.“ (Psalm 73, 28)

Vielleicht haben auch Sie solche Erfahrungen gemacht? Es ist nicht leicht, darüber zu sprechen. Aber vielleicht nehmen wir uns einen Moment der Stille, um die Gedanken kommen zu lassen: Wann war mir Gott ganz nahe? Wann habe ich ihn mir nahe gefühlt?

2-3 Minuten Stille; möglichst mit kleiner Klangschale o.ä. beginnen und beenden

Wer mag, ist herzlich eingeladen, die Gedanken und Erinnerungen auch kurz mit den anderen / mit ihrer Nachbarin / in kleinen Gruppen zu dritt zu teilen.

Ob zum Austausch eingeladen wird, sollte nach Größe der Gruppe, zur Verfügung stehender Zeit und auch dem bestehenden Vertrauensverhältnis in der Gruppe entschieden werden. Wichtig ist: Diese Erfahrungen sind kostbar; sie zu teilen ist ein Geschenk. Es darf gehört, aber nicht diskutiert oder gar bewertet werden. Darauf sollte mit der Einladung zum Austausch freundlich, aber bestimmt hingewiesen werden.

Es gibt auch die andere Seite.

„Der liebe Gott hat mich vergessen“, sagt die alte Frau, die nun schon drei Jahre an ihr Pflegebett gebunden ist und sich zwischen Leben und Sterben festgehalten fühlt.

„Wenn es Gott gibt, dann jedenfalls nicht für mich.“ Auch das steht im Gästebuch einer Klosterkirche.

Gott ist fern, der Himmel ist leer und das Herz auch.

Ich fühle mich ganz fern von Gott, ausgesperrt aus seiner Nähe. Was soll mir dann so ein Satz wie „Gott nahe zu sein ist mein Glück“? Bleibt nur ein „Pech gehabt“ für mich übrig?

Wenn wir mutig sind, nehmen wir uns auch dafür eine kleine Zeit des Schweigens, um diesen Gedanken nachzugehen: Wann war mir Gott ganz fern? Wann konnte oder kann ich nur noch zweifeln?

2-3 Minuten Stille, wieder eingeleitet und beendet mit kleiner Klangschale

Und auch hier soll, wenn Sie mögen, nun Zeit sein, die eigenen Erfahrungen auszusprechen. Wichtig dabei ist wieder: sie miteinander zu teilen, ist ein Geschenk. Es geht nicht darum, die Erfahrungen der anderen zu diskutieren oder gar zu bewerten.

Auch hier sollte entschieden werden, ob der Austausch für die Gruppe richtig ist. Unter Umständen kommen hier schwere Erfahrungen und Geschichten zu Tage, mit denen angemessen umzugehen ist.

Auch das gehört zu unserer Erfahrung. Gott ist eben nicht immer zu spüren.
Es gibt scheinbar vergebliches Warten. Wie eine notwendige Erwiderung auf die Jahreslosung klingt darum ein Vers aus dem Buch des Propheten Jeremia:

„‚Bin ich nur ein Gott, der nahe ist?', spricht der Ewige, ‚bin ich nicht auch ein Gott, der fern ist?'“

Gott sei Dank: Leben mit Gott war zu keiner Zeit ungebrochene Harmonie, zweifelsfreier Glaube. Erfahrungen von Gottes Nähe und von Gottes Ferne gehörten immer dazu, gehören nach Gottes eigenem Wort dazu!

Die Schriftstellerin Esther Maria Magnis hat in ihrem ersten Buch „Gott braucht dich nicht. Eine Bekehrung“ auf ungewöhnliche und tief bewegende Weise beschrieben, wie nah und wie fern ihr Gott auf ihrem Weg sein konnte. Geboren 1980 und aufwachsend in einer evangelisch-katholischen Familie in Schwaben, erlebt sie einen ganz normalen kirchlichen Werdegang mit Kindergebeten, Erstkommunion und langweiligen Predigten, mit politisch engagierten Pfarrern und Liedern zum Mitklatschen. Aber Gott, mit Gott war da noch etwas anderes. Als Kind schon erlebt sie am Meer einen Moment großer Gottesnähe. Sie schreibt:

„Ich mochte Gott. In der Kirche war er mir oft langweilig, aber ich fand ihn grundsätzlich sehr interessant. Er schien etwas Wahnsinniges zu haben und etwas sehr Zartes. (…) Es gab einen Moment, ich war noch sehr klein, fünf oder sechs Jahre alt, als ich mir auf einmal sicher war, dass er da war. Ich glaube, dass meine Dankbarkeit über die Schönheit dieses Moments mich lange an ihn band.“1

Und dann bricht die Krebserkrankung des Vaters in diese ganz normale Jugend ein wie ein wildes Tier. Und Esther betet. Sie betet mit ihrem ganzen Sein um das Überleben des Vaters.

„Dieses Gebet, oder wie man es nennen will (…), unterschied sich von allen anderen Hinwendungen, die ich bis dahin zu Gott getan hatte. Ich war das Gebet. Ich wollte mit allem, was ich war, dass mein Vater überlebt.“2

Esther betet, und irgendwann beten die Geschwister miteinander, in der Verborgenheit des Dachbodens, um das Überleben des Vaters. Sie erleben dabei eine Gegenwart, eine sie umhüllende Zuneigung und Kraft, einen Frieden. Und
sie glauben. Sie glauben, dass „so wie wir da als Familie bittend vor Gott
sitzen, ein Wunder geschehen kann.“
Aber der Vater stirbt.

Esther Magnis beschreibt, wie dieser Tod sie verstummen lässt. Wie alles an ihr ausgelöscht wird vom Schmerz. Das junge Mädchen erlebt den erlittenen Verlust mit einer Unmittelbarkeit, die die Frage nach Gott radikal werden lässt.

„Das geschieht jeden Tag in dieser Welt. In allen Ländern. Jeden Tag, immer wieder neu, bricht die Welt zusammen, ohne dass wir es hören. Gott lässt das zu. Und viele, die nie an ihn geglaubt haben, nehmen es als Bestätigung und können sagen: Siehst Du?
Da ist niemand. Da war nie jemand.
So konnte ich nicht denken.“3

Aber die Versuche zu trösten, sei es von Menschen mit oder ohne christlichen Hintergrund, bleiben für sie hohl.

„Er lebt weiter, sagten die Christen. Und ich dachte: Jau, so wünsche ich mir das auch. Und eine Hüpfburg aus Zuckerwatte und bitte sehr nur die Menschen im Himmel, die ich mag. (…) Wir tragen ihn im Herzen weiter, sagten Atheisten und auch Priester (…) und das sollte wohl ein Trost sein, und offenbar wussten sie nicht, wie beschissen schwer ein anderer Mensch im Herzen wiegt. (…) Wer einen anderen Menschen liebt, der hat doch Not. Der will doch wissen, wo der andere bleibt, wenn er stirbt. Und zwar wirklich.“4

Der tiefe, existentielle Schmerz macht Esther klarsichtig. Sie will für sich zu Ende denken, was das heißt: Gott hat nicht geholfen. Der Tod hat das letzte Wort. Esther Magnis schreibt:

„Es musste möglich sein, den Tod als Ende des Lebens zu begreifen und damit umzugehen. Würdevoll. (…) Aber dann sah ich das peinliche Gehampel einer ungläubigen Erwachsenengeneration und ich verstand, dass sie den Tod selber auch nicht akzeptieren konnten. Dass sie nur so taten.“5

Was bleibt, was für sie wirklich bleibt, ist die Leerstelle, die Gott hinterlassen hat. Gottes Abwesenheit zu fühlen und ungetröstet zu bleiben, ist besser, als die religiösen und weltanschaulichen Platzhalter für sein Fehlen zu übernehmen. Rückblickend auf diese Zeit der Gottesferne schreibt sie:

„Vielleicht hielt Gott damals die Luft an. Vielleicht hatte er seine Brust tief eingezogen und mir davor einen neuen Platz eingeräumt, an dem ich mich frei bewegen konnte – frei von ihm, insofern man das als Mensch überhaupt kann.“6

Und genau in diesem Freiraum, in dieser „Stille vor Gott, in seiner Ferne,
die uns atmen lässt und keinen Zwang kennt“, bereitet sich etwas Neues vor:

„Ich habe damals langsam wieder zu sprechen begonnen. Ich weiß nicht viel. Ich weiß aber, dass das, was wir sagen, nicht in der Luft verweht. Es wird erwartet.“7

Auf eine stille, ganz freie Weise beginnt ein neuer Gesprächsfaden zwischen der jungen Frau und Gott. Alles, was sie erlebt hat, hat darin Raum. Aus der Ferne wird eine neue Art der Nähe, die Platz hat für neue Gedanken, Fragen und Begegnungen.
Es lässt einer, einem den Atem stocken, wenn sie in den letzten Kapiteln schildert, wie auch ihr Bruder an Krebs erkrankt. Aber sie erlebt mit ihm und durch ihn, wie es nicht nur einen Kampf gegen den Tod, sondern auch ein Sterben in Gott geben kann.

Dieses letzte Kapitel des Buches kann hier nur angedeutet werden. Es würde die Möglichkeiten einer Andacht sprengen. Ich kann nur empfehlen, es zu lesen!

„‚Bin ich nur ein Gott, der nahe ist?' spricht der Lebendige, ‚bin ich nicht auch ein Gott, der fern ist?'“

Ich glaube, dass es wenig über Gottes tatsächliche Nähe aussagt, ob wir ihn als nah oder fern empfinden. Wenig später heißt es bei Jeremia: „Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?“ Wie könnte Gott also fern sein?

Ich vermute, dass Gott der verzweifelt Leidenden, die nichts von seiner Nähe spürt, näher ist als einer, die sich mit spirituellen Übungen in eine Welt ungetrübter Harmonien begibt. Ich nehme an, dass er dem Mädchen, das auf einer Müllkippe irgendwo in Afrika 14 Stunden für das Überleben ihrer Familie arbeitet, sehr nahe steht. Auch, wenn weder Zeit noch Kraft für religiöse Fragen da ist und das Wort „Glück“ ein Wort aus einer anderen Welt zu sein scheint.

Ich glaube, dass Gottes Nähe oder Ferne von uns nicht wirklich zu ermessen ist. Von Mutter Theresa wissen wir heute, dass sie nach intensiven Erlebnissen im Gebet bis zu ihrem Tod lange Jahre spiritueller Leere und Erschöpfung durchlitten hat. Sie ist auf dem Weg geblieben, ohne dass sie Jesus oder Gott noch jemals spüren konnte. Sollte Gott ihr wirklich fern gewesen sein?

Gottes Nähe, wenn wir sie in erfüllten Augenblicken spüren, lässt uns aufleuchten, gibt uns Einsicht in das tiefe Wesen aller Dinge und kann uns für Jahre stärken.

Die Zeiten, in denen Gott fern scheint, fordern uns heraus, nach dem eigenen Weg zu fragen, eigene Gedanken zu entwickeln und die Verantwortung für diese Welt anzunehmen.

Gottes Nähe und Gottes Ferne gehören zusammen.

Es braucht Mut, die gefühlte Ferne von Gott zuzulassen. Denn dann müssen wir uns vielleicht von lieben, aber zu eng gewordenen Glaubensbildern trennen.

Doch wie in jeder Beziehung braucht es auch in der Beziehung zu Gott manchmal Abstand. Erst der Abstand macht frei, einander neu zu begegnen. Und vielleicht wird diese Begegnung dann noch tiefer und dem jetzigen Lebensabschnitt angemessener sein.

Gottes Weg mit uns, über Fernen und Nähen hinweg, endet nie.

Gesang

Gebet
Gott, Du unsichtbare Hüterin all unserer Wege!
Nahe bist Du unserer Seele, näher, als wir uns selbst oft sind.
Und fern bist Du, Ort unserer ungelösten Fragen, Geheimnis hinter dieser Welt.
Gib uns die Fragen und Zweifel, die uns weiterführen.
Hilf uns zu wachsen im Vertrauen und in der Liebe, hin zu Dir.
Dein sind wir, im Licht und im Dunkel unserer Welt.
Amen.

Segen
Der Friede Gottes,
der größer ist als unsere Gedanken und schwankenden Gefühle,
der erfülle uns mehr und mehr
und leite uns auf unseren Wegen.
So segne und behüte uns
die lebendige Kraft Gottes.
Amen.

Irene Sonnabend, geb. 1965, ist Pfarrerin für Spiritualität und Einkehrarbeit in der Landeskirche Braunschweig mit Dienstort im Haus der Stille Kloster Drübeck. – Mehr unter: www.kloster-druebeck.de (Haus der Stille)

Anmerkungen
1) Esther Maria Magnis: Gott braucht Dich nicht –
Eine Bekehrung, Reinbek (Rowohlt) 2012, S. 18f
2) Ebd., S. 41
3) Ebd., S. 80f
4) Ebd., S. 127f
5) Ebd., S. 126
6) Ebd., S. 151
7) Ebd., S. 200

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