Ausgabe 2 / 2003 Bibelarbeit von Beatrice Onyele

Bring uns, Gott, zu Dir zurück

Von Beatrice Onyele

 

Nach dem Fall Jerusalems 587 vor Christus beklagt das Volk Israel die Zustände in Jerusalem und Judäa. Judäa wurde erobert und die Oberschicht der Israeliten nach Babylonien deportiert. Das Volk ist seiner führenden Persönlichkeiten beraubt, Anarchie greift um sich. Die Zurückgebliebenen beklagen ihre Not und hadern mit ihrem Leid.

Das Klagelied ist ein natürlicher Ausdruck leidender Menschen, die ihre Not vor Gott bringen. Das Volk schildert seine Notlage konkret und detailliert, so als wolle es sich das Erlebte wieder vor Augen führen – eine normale Reaktion leidender Menschen, die ihre Bedrängnis in Buße und Reue kundtun, mit der Hoffnung auf Vergebung und Gottes Gnade.

 

Israels Klage über Erniedrigung und Leiden

 

Unser Erbe ist den Fremden zuteil geworden und unsere Häuser den Ausländern (Klgl 5,2). Hinter der Klage steht eine ernste Glaubensnot der Gemeinde. Das Land galt durch die Verheißung als Erbbesitz Gottes und Unterpfand seiner Erwählung. Dass es nun Fremden gehört, ist eine Katastrophe des Glaubens  nicht nur Verlust von Besitz. Der Feind verfügt über die Ressourcen des Landes, Wasserquellen und Bäume (V 4). Die Befriedigung der einfachsten Lebensbedürfnisse ist erschwert, Trinkwasser und Brennholz müssen bezahlt werden. Zwangsarbeit und Verfolgung (V 5) sind an der Tagesordnung, die mühsam erworbenen Erträge müssen abgegeben, Nahrung unter Lebensgefahr beschafft werden (V 9) – eine Hungersnot ist die Folge.

Die Leiden unter der Besatzungsmacht sind vielfältig. Die Männer müssen bis zur Erschöpfung Frondienste leisten (V 5). Israel ist den neuen Herrschern schutzlos ausgeliefert (V 8). Frauen und Mädchen werden vergewaltigt (V 11), die Adligen hingerichtet, die Ältesten entehrt (V 12) und die Jugend wird durch Zwangsarbeit erniedrigt (V 13).

Noch schlimmer und schmerzhafter ist jedoch, dass der Tempel, die Stätte der göttlichen Gegenwart in Trümmern liegt (VV 17.18). Die Gemeinde fühlt sich ihres Begegnungsortes mit Jahwe und damit ihrer letzten Hoffnung und ihres tiefsten Halts beraubt. Witwen und Waisen haben keine Männer, keine Väter mehr, die für ihre Rechte eintreten könnten. Durch die Fremdherrschaft ist das gesamte Volk Israel auf einen ähnlichen Status herabgesunken. Die Männer der Gemeinde brechen unter dem Joch der Knechtschaft zusammen und werden von den Unterdrückern getötet, können ihre Frauen, Schwestern und Kinder nicht schützen. Gott hat sein Volk den Feinden ausgeliefert, sorgt nicht mehr für dessen Wohlergehen. Das Volk findet sich in Schutz- und Rechtlosigkeit wieder.

 

Klage über heutiges Unrecht und Leid

 

Um Machtverhältnisse geht es auch in unserer Zeit. Eine Hackordnung regiert die Welt. Die Stärkeren bauen ihre Machtposition aus und unterdrücken Schwächere – und zwar nicht nur individuell, sondern bis hin zu globalen Systemen. Unterdrückung ist schmerzhaft. Die/der Unterdrückte weiß sich nicht zu wehren, kann die eigene Unversehrtheit nicht verteidigen. Die Gewalt des Stärkeren kann sehr unterschiedlich aussehen. Sie begegnet in dem Ehemann, der seine Familie einschüchtert, dominiert und alles an sich reißt; im Landesvater/in der Landesmutter, der/die in die eigene Tasche wirtschaftet und die Bevölkerung des Landes rücksichtslos in Armut stürzt; in der Besatzungsmacht, die Land und Menschen ausbeutet; in reichen Ländern, die auf Kosten anderer Länder und deren Menschen ihre Reichtümer maximieren; in erzwungenen Monokulturen in manchen Ländern der so genannten Dritten Welt, mit all den bekannten Folgen wie unfruchtbare Böden, Landenteignung, Arbeitslosigkeit, Armut und Epidemien, Hungersnot, Kriminalität, Landflucht und Ver-Slumung in den städtischen Zentren, Flucht aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen…

Solche Zustände verlangen nach Veränderung, nach Auflösung. Als das Volk Israel sich in einer solchen Situation befand, wandte es sich an Ägypten und Assur, um Hilfe zum Überleben zu bekommen und die bloße Existenz zu retten (V 6).

 

Wir können uns in unserem Leben, für unseren Alltag etwas vornehmen, um die Spirale von Gewalt und Unterdrückung im Großen wie im Kleinen zu durchbrechen:

Widersetze dich jeder Form von Gewalt.

Achte auf die kleinen Verletzungen bei dir selbst und bei anderen. Sie sind meist der Anfang einer Kette von Misstrauen und Aggressionen.

Habe den Mut, erste Schritte zu tun und warte nicht, bis andere auf dich zukommen.

 

Fremdsein

 

Vielleicht kennen Sie den Spruch von Karl Valentin: „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“. In seiner verblüffenden Paradoxie eröffnet er uns neue Sichtweisen. Wo jemand „fremd“ ist, muss es in der Wahrnehmung und Einordnung eine einheimische, „ein-geborene“, eine „nicht-fremde“ Person geben. Die/der Fremde hat ihre/seine gewohnte Umgebung verlassen und ist zu einem neuen Ort gezogen. Das ist seit Beginn der Menschheit ein ganz normales Phänomen, belegt durch die Bibel (Abraham, Isaak und Jakob) wie durch wissenschaftliche Forschung zur Evolution. Mit einem Ortswechsel sind immer auch Veränderungen in der Identität verbunden. Sie können sich in einem Verlust von Status, Menschen, Klima, Umwelt und Nahrung und vielem mehr niederschlagen. Jede dieser Veränderungen ist eine Herausforderung und mag als schwierig empfunden werden. Der gravierendste Statuswechsel aber ist die Reduzierung des „Mensch-Seins“ auf ein bloßes „Fremd-Sein“.

Mögen die Gründe des Ortwechsels angenehm oder unangenehm sein, sie dienen der Entwicklung des Menschen. „Reisen bildet.“ Der häufigste Grund in diesem Land ist wohl der Urlaub. „Ich brauch' Tapetenwechsel…“ – andere Menschen und Länder, Gerüche und Geschmäcker, andere Perspektiven und Denkweisen, Austausch und Begegnung können viel zur Horizonterweiterung beitragen, könnten Grundlage dafür sein, Misstrauen, Missverständnisse, Vorurteile abzubauen. Häufig aber ist Urlaub nur eine ohnmächtige Flucht aus einem Alltag, der unerträglich scheint.

Drei K's stehen für die Prinzipien der internationalisierten Politik: KOMMUNIKATION, KOOPERATION und KOORDINATION. Damit wird eine Weltordnung gebaut, die auf Ortswechsel basiert: von  Menschen, zunehmend aber auch von Gütern und Produktions-stätten. Globalisierung ist ohne Ortswechsel undenkbar. In diesen Zusammenhängen ist Ortswechsel häufig nicht freiwillig, nicht selten erzwungen, meistens aber nicht auf Bedürfnisse von Menschen abgestimmt.

 

Fremdsein im eigenen Land

 

Ortsansässige meinen oft, sie müssten ihren Status verteidigen gegenüber denen, die neu zuziehen. So wird der fremde Mensch, wir alle kennen dies aus Erfahrungen in diesem Land, über endlos lange Zeiten als nicht dazugehörig ausgegrenzt. Der/die Fremde trägt nichts zu diesem Geschehen bei. Im Gegenteil, die neu hinzugekommene Person wird von den „Ein-Geborenen“ als fremd definiert und als anders abgestempelt. So werden ANDERES Aussehen, ANDERE Sprache, ANDERE Mentalität, ANDERE Kultur, ANDERE Essgewohnheit zu Stigmata.

Diese vielen „ANDERS-heiten“ verunsichern, wecken Misstrauen und Ängste. Unter Angst verlieren Menschen die Kontrolle über sich, über ihr Urteilsvermögen. Gefangen in ihren Ängsten überreagieren sie in dem Glauben, sie müssten sich vor Überfremdung schützen. Dabei entfremden sie sich von sich selbst in den von ihnen so sorgfältig aufgebauten Systemen.

In Judäa wurde den Israeliten durch die fremde Besatzungsmacht Gewalt angetan. Dies scheint eine andere Situation zu sein: Die Fremden grenzen die Ortsansässigen, die „Ein-Geborenen“ aus. Allerdings aus denselben Beweggründen, nämlich Unsicherheit, Misstrauen und Angst. Gegenüber den Israeliten war die fremde Besatzungsmacht in Unterzahl. Sie fürchtete Unterlegenheit und suchte mit Gewalt ihre Überlegenheit zu manifestieren. Also wurden Unterdrückungsmechanismen in Gang gesetzt mit dem Ziel, die Israeliten in ihrem eigenen Land auszugrenzen oder sogar auszuschalten. Damit hoffte die Besatzungsmacht, auf fremdem Boden einen „Schutzraum“ für sich selbst zu schaffen.

Uns ist die Schilderung solcher Leiden nicht fremd. Bilder aus Biafra und Ruanda, aus Südafrika, Tschetschenien, kurdischen Gebieten in der Türkei und im Irak, aus Afghanistan, Palästina oder Ost-Timor – immer wieder gibt es Orte in dieser Welt, wo eine Bevölkerung zutiefst erniedrigt wird. Überall geht es dann ähnlich zu. Menschenrechtsverletzungen aller Art gehören zur Tagesordnung. Versagende Regierungen drücken beide Augen zu und liefern ihre „Schützlinge“ schamlos Gewalt und Elend aus. Die Auswirkungen sind heute dieselben wie damals vor über 2000 Jahren in Jerusalem. Es sind nicht immer nur die „Kleinen“, die die Zeche zahlen, manches Mal erwischt es auch die „Großen“.

 

Fremdsein in der Fremde

 

An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten… „Singet uns ein Lied von Zion!“ Wie könnten wir des Herren Lied singen in fremdem Lande. (Ps 137,1.4)

Israel in Babylon erlitt Fremdsein – in der Fremde – in der übelsten Form: Frondienst, Enteignung, Vergewaltigung, Hass und Rassismus, Entrechtung, Entmenschlichung, Mord, bis hin zur Hinrichtung seines Königs und seiner Fürsten. Und dann verlangen ihre Peiniger von ihnen auch noch ein Lied! Machen sie sich lustig über sie? Nutzen sie ihre Rechtlosigkeit und Unterlegenheit aus, da das Gesetz der Machthaber gewiss nicht auf der Seite der unterdrückten, stimm- und lobbylosen, gefangenen Ausländer ist? Auch hier sind Unsicherheit, Misstrauen und Angst der in diesem Fall ortsansässigen Machthaber am Werk.

Israel, das sich selbst bis dahin durchaus als Herrenvolk verstand und Siege über andere gefeiert hatte, muss nun Leiden ertragen und sich beugen. Dieser Herausforderung durch Erniedrigung fühlt es sich nicht gewachsen. Ist es ein Wunder, dass es in seiner Ohn-Macht seine Peiniger verwünscht, dass es von Gott gewalttätige Vergeltung erfleht? Tochter Babel, du Verwüsterin, wohl dem, der dir vergilt, was du uns angetan hast! Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert. (Ps 137,8.9) Aus diesen Versen spricht Wut und Rachsucht, entstanden aus der tiefen Enttäuschung darüber, dass Gott sein „auserwähltes“ Volk vergessen und verlassen hat.

 

Die Gesellschaft macht sich bestimmte Vorstellungen über Fremde. Viele glauben, Fremden sei nicht zu trauen, Fremde bedrohten das eigene Hab und Gut. Fremde, Andere verunsichern die eigenen Normen und Grenzziehungen. Fremde werden darum mit Etiketten belegt. Etiketten schreiben vor, wie viel, wie oft, wo und wie lange etwas/jemand benutzt werden darf, sein darf. Etiketten sind anschaulich. Etiketten versprechen Schutz. Etiketten können entfernt werden. Vielleicht ist die Zeit gekommen, die Etiketten von Fremden zu entfernen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass Fremde selbst die Etiketten von sich entfernen. Vielleicht ist es an der Zeit, zu erkennen, dass nicht nur der/die andere „fremd“ ist, sondern dass jede/jeder von uns immer wieder in Situationen kommt, in denen sie/er fremd ist und sich neu orientieren und definieren muss. Vielleicht können wir uns eingestehen, dass auch wir dabei froh sind über jedes Entgegen-kommen, über jedes Zeichen persönlicher Anteilnahme, und dass Ablehnung, Ausgrenzung uns behindert und verkümmern lässt.

 

Wir wollen beten:

Selig die, die andere Menschen nicht aus den Augen verlieren, auch wenn sie in Eile sind, sie werden keine Zeit bereuen.

Selig die, die ihre Vorurteile ansehen ohne sie zu kultivieren, sie werden einiges über sich selbst lernen.

Selig die, die hinsehen statt wegsehen und fernsehen, sie werden viel Neues im Leben entdecken.

Selig die, die nicht aufhören auf die Liebe zu achten, sie werden immer jung bleiben.

Selig auch wir, wenn wir auf Gott sehen und in seinem Namen zu lieben, zu glauben und zu hoffen versuchen. Amen.

(Armin Beuscher)

 

Heimkehr zu Gott

 

Unsere Väter haben gesündigt und leben nicht mehr, wir aber müssen ihre Schuld tragen (Klgl 5,7). Israel ist am Scheideweg, es muss sich für Gott entscheiden. Es muss sich, bewusst, für Veränderung entscheiden. Der Glaube gibt ihm die Kraft, sich Gott zuzuwenden, trotz des katastrophalen Augenscheins, trotz der Ruinen des Gotteshauses und trotz der Gräuel, denen es ausgesetzt war. Es bekennt sich zu seinem Anteil an der Misere. Es schaut nach innen. Es schiebt die Schuld nicht auf die Väter oder auf Gott, sondern sucht die Gründe zunächst bei sich selbst. Es macht den ersten Schritt in Richtung Buße und Versöhnung. Vielleicht erinnert es sich sogar an seine Gräueltaten gegenüber anderen, die auch nicht wenige waren.

Bringe uns, Herr, zu dir zurück, dass wir wieder heimkommen; erneuere unsere Tage wie vor alters! (Klgl 5,21). Aus der Tiefe der letzten Klage erhebt sich die hymnische Bitte. Mag auch der Tempel mit der heiligen Lade ein Raub der Flamme geworden sein – Gott selbst ist nicht in Mitleidenschaft gezogen. Sein Thron steht unberührt über dem wechselnden Gang der geschichtlichen Ereignisse. Der Glaube an die über Raum und Zeit erhabene Königsherrschaft Gottes, den sich die Gemeinde in ihrem hymnischen Anruf vergegenwärtigt, gibt die Kraft, sich aus ganzem Herzen Gott zuzuwenden.

Oft vergeuden wir Zeit, Energie und Freude, weil wir einen Irrtum nicht eingestehen. Wir wissen, dass Bleistifte Radiergummis haben und Computer uns erlauben, zu kürzen, zu streichen und umzustellen. Doch es fällt uns unheimlich schwer, uns und anderen einzugestehen, dass wir einen Fehler gemacht haben. Vielleicht haben wir so viel über menschliche Irrtümer gehört, die große Tragödien, Not oder Kummer auslösten, dass wir Angst haben zu sagen: „Ich habe einen Fehler gemacht.“

Ein Fehler ist aber eine großartige Gelegenheit zum Lernen und Heilen. Ein Fehler erinnert uns daran, dass wir – egal, wie alt oder klug oder erfolgreich – immer noch Menschen sind. Ein Fehler ist eine Lektion in Bescheidenheit. Wenn wir bescheidener werden bis zu dem Punkt,  wo wir unsere Fehler eingestehen, akzeptieren und zugeben können, dann werden wir mitfühlender uns selbst und anderen gegenüber. Dann lernen wir, unsere Urteile aufzugeben und loszulassen.

 

Wir beten:

Ich bin bereit mich zu ändern.

Ich bin bereit meine Meinung zu ändern.

Ich bin bereit meine Gedanken zu ändern.

Ich bin bereit meine Wahrnehmung über mich selbst

und die Welt um mich zu ändern.

Ich bin bereit mein Tun

und meine Handlungsweisen zu ändern.

Ich bin bereit Veränderungen zu erkennen

und verändert zu sein,

um das Wunder einer Veränderung

wahrnehmen zu können.

Ich weiß, dass ich selbst nichts ausrichten kann.

Ich bin deshalb bereit,

Heilung und vollkommene Veränderung durch

den Heiligen Geist zu erfahren,

damit ich das sein kann,

wofür Gott mich geschaffen hat.

Ich bin bereit für eine Umwandlung,

um mein wahres ICH zu erlangen,

und meine Seele nach Gottes vollkommenem Plan

zu erneuern.

So soll es sein!

Amen.

 

Beatrice Onyele, Jahrgang 1939, ist Mutter von vier Kindern und Pflegedienstleiterin i.R.; seit 1990 ist sie Kirchenvorsteherin in ihrer lokalen Kirche in Frankfurt und gestaltet dort Kindergottesdienste und Bibelkreise mit.

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