Alle Ausgaben / 2013 Material von Anton Rotzetter

Bruder Wolf und Schwester Schwalbe

Von Anton Rotzetter


Im Sonnengesang ist dem Bruder immer eine Schwester beigegeben: der Sonne der Mond, dem Wind das Wasser, dem Feuer die Erde, der Liebe der Tod. Wenn wir diese Geschwisterpaare im einzelnen auf ihre philosophischen Zuordnungen befragen würden, könnten wir feststellen, wie fruchtbar die paarweise Vernetzung ist: Licht als Beziehung macht hell; erst der Wind macht das Wasser lebendig; nur wenn die Erde durch das Feuer geht, hat sie Halt und Dauer; die Liebe ist der Tod des Todes. Das Geheimnis der Schöpfung ist die Verwiesenheit der Geschöpfe auf das jeweils andere, die paarweise Verknüpfung, die geschwisterliche Vernetzung von allem.
Es ist wahrscheinlich notwendig, einmal darauf hinzuweisen, dass die Bibel nirgendwo dem Individualismus huldigt. Das Subjekt ethischen Handelns in der Bibel ist immer ein Wir, eine Gemeinsamkeit, gemeinsam sollen wir leben und handeln. Franziskus hat es begriffen: Bruder, Schwester von allem! Die vielen Anekdoten, die von Franziskus erzählt werden könnten, lassen nur einen gemeinsamen Nenner zu: Für Franziskus ist jedes Geschöpf eine Schwester oder ein Bruder, da gibt es nichts, was bloß sächlich wäre. Der Stein ist keine Sache, die Pflanze ist kein Gegenstand, das Tier nicht ein seelenloses Objekt, sondern ein einzelnes Wesen, dem Ehrfurcht gebührt; ein Individuum, das sich jeder Manipulation und Ausbeutung entzieht, quasi personal, emporgehoben und angesehen, als Schwester oder Bruder vor Gott gewürdigt.
Wir werden in der Entwicklung der Gesellschaft, in der unserer Politik und in der angeblich freien Marktwirtschaft nur dann weiterkommen, wenn wir diese universale Vernetzung und Verwiesenheit erkennen und uns entsprechend verhalten. Wir dürfen nicht mehr Mensch gegen Tier und Tier gegen Mensch ausspielen, nicht mehr Arbeitsplätze gegen ökologisches Verhalten. Die Konsequenzen, die daraus gezogen werden müssen, werden sich hart anfühlen. Aber eine humanere Welt wird erst dann entstehen können, wenn wir
die Schöpfung insgesamt als einen vielfältigen Liebesbund begreifen.

aus:
Streicheln, mästen, töten
Warum wir mit Tieren anders umgehen müssen
© Verlag Herder GmbH
Freiburg i. Br. 2012

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