Ausgabe 2 / 2017 Artikel von Dorothea Röger

Brücken bauen

Aus der Arbeit der Forster Brücke

Von Dorothea Röger

„Als ich nach Forst kam, hatte ich Angst. Alle hatten gesagt: Das ist eine schlechte Stadt.“

Diese Worte aus dem Mund einer jungen Afghanin sind mir sehr nachgegangen. Sie sagte es unlängst am Rande unseres kleinen Sprachkurses, zögernd und mit der Unterstützung eines 14-jährigen Mädchens, das schon gut Deutsch spricht. Ist Forst eine schlechte Stadt? Wir haben dann darüber gesprochen, wo die einzelnen Kursteilnehmer*innen gerne leben würden, und natürlich fielen Namen wie Berlin, Potsdam, Hannover … Was ich ihnen denn raten würde, wollten sie wissen. Bleibt doch hier, hätte ich beinahe spontan gesagt, wir brauchen euch in Forst. Wir brauchen eure Lebenserfahrungen, eure Energie, wir brauchen eure Kinder, wir brauchen Leben und Vielfalt in einer von der Leere bedrohten Stadt.

Als ich selbst nach Forst gekommen bin, vor ziemlich genau 23 Jahren, war ich voller Optimismus, diesen Ort zum Lebensmittelpunkt unserer Familie werden zu lassen. Diese Stadt am Rande Deutschlands, bis heute zernarbt durch den Krieg, den Verfall aus DDR- und dann wieder aus Postwendezeiten. Zwei zerbrochene, abgebrochene Brücken über die Neiße zeugen bis heute von ­einer Geschichte des Verlusts und der nicht vollständig geheilten Beziehungen zum polnischen Nachbarland. Leicht war es nicht. Wir waren zwar keine Geflüchteten, aber offenkundig aus dem Westen. Wie viele Verhaltensregeln kannten wir nicht, wie oft sind wir ins Fettnäpfchen getreten. Aber es gab warmherzige freundliche Menschen, die uns einfach so genommen haben wie wir waren, die uns Anteil an ihrem Leben gegeben haben, uns in Freundschaften, Projekte, Feste mit hinein­genommen haben. Heute, wo unsere Kinder längst erwachsen und über alle Berge sind, ist Forst tatsächlich mein Zuhause. Und ich träume davon, dass diese Stadt auch zum Zuhause für die vielen afghanischen und tschetschenischen, syrischen und albanischen Menschen werden könnte, die der Zufall hierher gespült hat, genau wie uns damals vor 23 Jahren.

Die meisten Geflüchteten allerdings ver­lassen Forst recht schnell wieder. Nachdem sie dem hiesigen Asylbewerberheim zugewiesen wurden, warten sie auf Papiere, auf eine Wohnung, auf Sprach- und Integrationskurse, auf die Anerkennung ihrer Ehen, ihrer Berufe, ihrer Ausbildung. In dieser Übergangszeit versuchen die Menschen von der Forster Brücke, ihnen zur Seite zu stehen, ihnen das Ankommen und dann das Weitergehen zu erleichtern. Solche Initiativen wie die Forster Brücke gibt es wahrscheinlich inzwischen in nahezu jedem Ort, dem in den letzten zwei Jahren Geflüchtete zugewiesen wurden. Dennoch bin ich stolz auf unsere Gruppe und fand es durchaus angemessen, dass ich im November 2015 für das Enga­gement der Forster Brücke die Paul-Gerhard-Medaille der Ev. Kirche Berlin- Brandenburg-schlesische Oberlausitz entgegen nehmen durfte. Schon 2013 hatte sich eine kleine Gruppe von Frauen im Nachgang zum Weltgebetstag entschlossen, konkrete Schritte zu tun, um die über 150 geflüchteten Menschen, die schon damals im hiesigen Asylbewerberheim lebten, nicht einfach so am Rand stehen zu lassen. „Ich war fremd, ihr habt mich aufgenommen“, so hatte das Motto des WGT aus Frankreich damals gelautet. Uns war das Ermutigung genug, einfach in dieses Heim zu gehen und wöchentlich ein Café dort anzubieten. Jeden Mittwoch zog also ein schüchternes Trüppchen durch die kalten öden Flure in den leicht modrigen Clubraum im Keller des Gebäudes, das als Schandfleck des Stadtbildes allseits Ärger erregte. An Zimmertüren klopfen, Leute einladen? Wir kamen uns manchmal vor wie eine aufdringliche Sekte. Fremde Namen lernen, ohne Sprache kommunizieren? Wir machten jede Menge Fehler, probierten aus, versuchten es immer wieder. Vor drei Jahren gab es noch keine Schulungen für Ehrenamtliche, keine Supervisionsangebote für Helfende, in jenem Heim noch nicht mal einen Sozialarbeiter.

Du liebe Güte: Ausländerbehörde, So­zialamt, Wohnungsbaugenossenschaft, Job-Center, Gesundheitsamt – kaum jemand von uns hatte diese Institutionen je von innen gesehen, geschweige denn dort Papiere ausgefüllt, um Gehör gebeten, Widerspruch eingelegt. Die ersten zwei Jahre waren gewiss die intensivsten für uns alle. Damals sind echte Freundschaften zwischen Eingesessenen und Geflüchteten entstanden, Patenschaften, achtsame und herzliche Verbindungen, die noch hielten, als die Menschen Forst längst wieder verlassen hatten. Und wie schön ist es, zum Jahreswechsel von weither Botschaften über WhatsApp zu bekommen oder zu hören, wie es dieser oder jenem inzwischen geht. Wie berührend ist es auch, wenn, wie ich es dieser Tage erlebt habe, eine strenggläubig muslimische afghanische Familie auf dem Forster Friedhof einer christlichen Beerdigung beiwohnt und am offenen Grab leise auf Arabisch ein Gebet spricht. Das Ehepaar, das an diesem unwirtlichen Wintertag die Mutter beziehungsweise Schwiegermutter zu beerdigen hatte, bietet jede Woche einen Sprachkurs an, repariert Fahrräder, organisiert Umzüge, öffnet immer die Gartenpforte, wenn jemand mit einem Anliegen davor steht. Und wie tröstlich: die afgha­nische Familie war mit Baby im Kinderwagen da. Ja, sagte der Trauernde am Ende, so wohnen Tod und Leben nebeneinander, danke, dass ihr da wart.
Inzwischen ist unsere Gruppe weiter gewachsen – ein kleines Wunder in einer Stadt, die, was die einheimische ­Bevölkerung anbelangt, langsam aber sicher vergreist und ausstirbt. Auch von Menschen außerhalb unserer Kirchengemeinde wurde die Forster Brücke zu einem guten Anknüpfungspunkt, um sich selbständig zu engagieren, aber immer im Kontakt mit Gleichgesinnten zu bleiben. In den monatlichen Treffen nehmen wir uns Zeit, einander zuzuhören, Erlebnisse zu verarbeiten, Informationen auszutauschen. Wir teilen Sorgen und auch Niedergeschlagenheit und schauen, was als nächstes dran ist. Ein Workshop für andere Kirchengemeinden im Kirchenkreis? Eine Weiterbildung in interkultureller Kompetenz vor Ort in unseren Räumen? Ein Nähkreis für Geflüchtete im örtlichen Textilmuseum, ein kleiner ehrenamtlich durch­geführter Sprachkurs, eine Frauengruppe, ein Antrag an die Härtefallkommis­sion, ein Kirchenasyl? Natürlich, es ist uferlos – so viel Unterstützung täte not, so viel Stillstand herrscht, so viel Ratlosigkeit unter Geflüchteten und Unterstützenden. Immer wieder wird deutlich, dass es an Gelegenheiten fehlt, bei denen Geflüchtete und Eingesessene sich begegnen können, etwas miteinander anfangen, voneinander lernen. Immer wieder wird deutlich, mit was für existenziellen Problemen viele der Menschen mit Fluchterfahrung zu kämpfen haben. Was für uns als Helfende ein kleiner Aspekt unseres Lebens ist, ist dort drängendste und pausenlose Alltagswirklichkeit. Die Schulprobleme der Kinder, die Sorge um zurückgelassene Familienmitglieder, die nicht bewillligte psychologische Hilfe, der fehlende ärztliche Behandlungsschein, die Aussichtslosigkeit, hier je eine angemessene ­Arbeit zu finden. Und über allem: das Gefühl fremd, ja unerwünscht zu sein. „Ich spüre, dass wir nicht willkommen sind“, hat schon vor Jahren eine syrische Frau offen ausgesprochen. Ohnmächtig stehen wir oft als Augen- und Ohrenzeuginnen vor diesen Nöten. Reicht es, dass wir unser Lächeln austeilen auf der Straße, im Supermarkt, dass wir Kurse anbieten, einzelne Familien besuchen? Dass wir um Verständnis werben, wo pauschal auf Fremde geschimpft wird? Dass wir da sind bis zur zwangsweisen Abschiebung, dass wir Petitionen verfassen, Geld sammeln, Unterschriftenlisten auslegen? Vielen von uns ist oft schwer ums Herz. Manchmal fühlen wir uns auch ausgenutzt, überstrapaziert. Oft und immer öfter sind wir wütend. Dann ist es gut, wenn wir uns treffen und selbst einmal schimpfen dürfen, Frust abladen und uns gegenseitig Mut machen, unsere eigenen Grenzen zu akzeptieren.

Gerade in letzter Zeit lastet vieles schwer. Wir sehen ja, dass die „Willkommensklasse“ der hiesigen Oberschule den oft lernbegierigen Kindern in keiner Weise gerecht wird. Wir erleben, wie sehr Leben in die Warteschleife gerät, weil alles Behördliche endlos dauert, wie gering die Chancen für Geflüchtete hier sind, einfach nur in ihrem Beruf oder überhaupt zu arbeiten. Wir machen uns Sorgen, weil wir merken, dass halbwüchsige syrische Mädchen, die offen und fröhlich unterwegs waren, plötzlich durch die Familien zurückgepfiffen werden, eingekreist durch alle möglichen Verbote. Wir müssen akzeptieren, dass manche Menschen nie die deutsche Sprache wirklich erlernen können. Wir sind fassungslos, wenn einer tschetschenischen Familie, die wir seit drei Jahren kennen und deren vier Kinder endlich in Schule und Sportverein gut integriert sind, die Rückführung nach Tschetschenien angekündigt wird, möglichst noch in diesem Winter. Wie viel Beschädigung, wie viel Leid können wir nicht lindern. Das Leid teilen – manchmal ist das alles, was wir tun können. Und immer wieder müssen wir uns, das wissen wir, aufraffen und kämpfen. Denn einen Funken Hoffnung gibt es immer.

Etliche von uns widmen einen großen Teil ihrer freien Zeit dem Engagement bei der Forster Brücke. Warum, frage ich mich, warum immer noch? Wenn ich in mich selbst hineinhorche, so finde ich eine einfache Antwort: weil es extrem sinnvoll ist. „Findet der Mensch einen Sinn, dann (aber auch nur dann) ist er glücklich – einerseits, denn andererseits ist er dann auch leidensfähig.“ Dieser Satz von Viktor Frankl trifft, wie ich glaube, genau den Kern unseres beharrlichen Tuns.

Ja, bleibt hier, werde ich nächste Woche der afghanischen Familie sagen. Lebt mit uns zusammen, lasst hier und genau hier etwas Neues und Sinnvolles entstehen im Miteinander, an dem wir uns versuchen wollen. Meinetwegen nennen wir es Integration.

Dorothea Röger, geb. 1956 in Düsseldorf, Literaturwissenschaftlerin (MA), Hausfrau, lebt seit 1992 mit ihrer Familie in Forst (Lausitz). Sie ist seit 2012 als Vertreterin der EKBO Mitglied im Redaktionsbeirat der ahzw.

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