Ausgabe 1 / 2017 Artikel von Ute Gause

Christliche Freiheit lässt keine Wahl

Überlegungen im Anschluss an Martin Luthers Freiheitstraktat von 1520

Von Ute Gause

 
Luthers Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ zählt zu den sog. reformatorischen Hauptschriften des Jahres 1520, denen infolgedessen stets eine besondere Bedeutung eingeräumt wurde. Ge­schrieben wurde es in bedrängter Situation: Luther hatte bereits Kenntnis von der am 21. September in Meißen durch seinen Gegner Eck publizierten Bannandrohungsbulle „Exsurge domine“, datierte aber sein Anschreiben an Papst Leo X. zurück, um zu vermeiden, dass seine Schrift als Reaktion darauf gesehen und gelesen würde.

Das hatte diplomatische Gründe: Die Schuld an der entstandenen Situation sollte damit Eck gegeben werden – vielleicht verband sich für Luther mit dem Anschreiben, in dem er von Leo X. als dem „allerheiligsten Vater“ sprach, die Hoffnung, das gegen ihn eingeleitete Verfahren doch noch stoppen zu können. Im Anschreiben machte Luther gleichfalls eindeutig klar, dass er den Papst wohl als „Knecht“ Christi, keinesfalls jedoch als dessen „Statthalter“ akzeptiere. Ebenso hob er hervor, dass er weder zu einem Widerruf bereit sei noch eine Einschränkung des Wortes Gottes gelten lassen würde – da dieses die Freiheit zum Inhalt habe. Seine Freiheitsschrift charakterisierte er schließlich selber als „eine kurzgefasste Summe christlichen Lebens“ und damit als eine Anweisung zum evangeliumsgemäßen Leben. Damit ist klar, dass Luther­ bei aller politischen Diplomatie, die er gegenüber Leo X. walten ließ, inhaltlich an seiner seit 1517/18 durch die Lektüre des Römerbriefes angeregten Rechtfertigungslehre uneingeschränkt festhielt. Mit diesem Festhalten verband sich durch die Bulle nunmehr persönliche Lebensgefahr.

Wie ist nun jedoch diese „Freiheit des Christenmenschen“ gedacht? Der Text mag zunächst für sich sprechen:

Von der Freiheit eines Christenmenschen1
„Zum Ersten. Damit wir gründlich erkennen, was ein Christenmensch ist, und wie es mit der Freiheit steht, die ihm Christus erworben und gegeben hat, wovon Paulus viel schreibt, will ich diese zwei Sätze aufstellen:

Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.

[…] Zum Zweiten. Um diese beiden widersprüchlichen Redeweisen von der Freiheit und der Dienstbarkeit zu verstehen, müssen wir daran denken, dass jeder Christenmensch von zweierlei Natur ist, von geistlicher und leiblicher. Nach der Seele wird er ein geistlicher, neuer, innerer Mensch genannt; nach Fleisch und Blut wird er ein leiblicher, alter und äußerer Mensch genannt. […]

Zum Dritten. Zuerst nehmen wir uns nun den inwendigen, geistlichen Menschen vor, um zu sehen, was dazu gehört, dass er ein rechter, freier Christenmensch sei und heiße. Hier ist es offensichtlich, dass kein äußerliches Ding ihn frei und rechtschaffen2 machen kann, welches man auch immer vorbringen könnte. Denn seine Rechtschaffenheit und Freiheit so wie umgekehrt auch seine Bosheit und seine Gebundenheit sind weder leiblich noch äußerlich. Was hilft es der Seele, dass der Leib ungebunden, frisch und gesund ist, isst trinkt, lebt, wie er will? Umgekehrt, was schadet es der Seele, dass der Leib gebunden, krank und matt ist, hungert, dürstet und leidet, wie er nicht gerne will? Nichts davon reicht an die Seele heran, um sie zu befreien oder zu binden, rechtschaffen oder schlecht zu machen.

Zum Vierten. Dementsprechend hilft es der Seele nicht, wenn der Leib heilige Kleider anlegt, wie es die Priester und Geist­lichen tun, auch nicht, wenn er sich in Kirchen und an heiligen Orten aufhält – ebenso wenig, wenn er mit heiligen Dingen umgeht. Und es hilft auch nicht, wenn er bloß mit Worten betet, fastet, pilgert und alle guten Werke tut, die durch den Leib und in ihm überhaupt nur geschehen könnten. Es muss noch etwas ganz anderes sein, das der Seele Rechtschaffenheit und Freiheit bringt und gibt. […]

Zum Fünften. Es hat die Seele nichts anderes, weder im Himmel noch auf Erden, worin sie leben kann, rechtschaffen, frei und eine Christin sei, als das heilige Evangelium, das Wort Gottes von Christus­ gepredigt. Wie er selbst Joh 11 sagt: Ich bin das Leben und die Auferstehung. Wer an mich glaubt, der lebt ewiglich. Ebenso Joh 14: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Ebenso Mt 4: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von allen Worten, die aus dem Mund Gottes gehen. Daher müssen wir nun gewiss sein, dass die Seele alle Dinge entbehren kann, bis auf das Wort Gottes, und ohne Gottes Wort ist ihr durch gar nichts geholfen. Wenn sie aber das Wort hat, so braucht sie sonst nichts mehr, sondern sie hat an dem Wort Genüge, hat Speise, Freude, Frieden, Licht, Erkenntnis, Gerechtigkeit, Wahrheit, Weisheit, Freiheit und alles Gute im Überschwang. […] Darum soll von Rechts wegen das einzige Werk und die einzige Übung aller Christen sein, dass sie sich das Wort und Christus recht einprägen, solchen Glauben stetig üben und stärken.

[…] Wohlan, mein Gott hat mir un­wür­digem, verdammten Menschen ohne alles Verdienst, rein umsonst und aus bloßer Barmherzigkeit durch und in Christus vollen Reichtum der Gerechtigkeit und Seligkeit gegeben, so dass ich weiterhin nicht mehr brauche als zu glauben, es sei so. Nun, so will ich einem solchen Vater, der mich mit seinen eigenen, über­schweng­lichen Gütern so überschüttet hat, umgekehrt frei, fröhlich und umsonst tun, was ihm wohlgefällt, und meinem Nächsten auch ein Christ(us) werden, wie Christus mir geworden ist, und nichts anderes tun, als nur das, was ich sehe, dass es ihm nötig, nützlich und förderlich sei, weil ich ja durch meinen Glauben aller Dinge in Christus genug habe. Sieh, so fließen aus dem Glauben die ­Liebe und Lust zu Gott, und aus der Liebe ein freies, bereitwilliges, fröhliches Leben, um dem Nächsten umsonst zu dienen. Denn ebenso wie unser Nächster Not leidet und unseres Über­flusses bedarf, so haben wir vor Gott Not gelitten und seiner Gnade bedurft. Wie uns Gott durch Christus umsonst geholfen hat, ebenso sollen wir durch unseren Leib und seine Werke nichts anderes tun, als dem Nächsten zu helfen. Da sehen wir, um was für ein hohes edles Leben es sich beim christlichen Leben handelt, das leider derzeit in aller Welt nicht nur darniederliegt, sondern auch nicht mehr bekannt ist oder gepredigt wird.“

Für Luther steht in Aufnahme der pau­linischen Anthropologie die innerliche Freiheit des Christenmenschen im Zen­trum. Es handelt sich um die durch Christus geschenkte Freiheit von den äußerlichen Bedingtheiten des menschlichen Lebens, insofern als sie das Gottesverhältnis nicht beeinflussen können. Anders formuliert bedeutet das, dass auch äußere Unfreiheit, die Zwänge und Lasten, die Kümmernisse und Einschränkungen, denen die Christenmenschen jederzeit ausgesetzt sind, das Gottesverhältnis nicht zerstören können. Aus der Freiheit des Bei-Gott-Angenommenseins resultiert dann das Handeln des Christenmenschen, der verpflichtet ist, „dienstbarer Knecht“ zu sein, d.h. aus dem von Gott geschenkten neuen Sein resultiert kein Libertinismus, sondern die Bezähmung des Leibes wie die Liebe zum Nächsten. In Luthers Augen hat der Mensch keine Wahl: Als von Gott Angenommener, als von Christus durch die Gnade Beschenkter steht er in einem Abhängigkeitsverhältnis und einer Beziehung, die durch das Hören des Wortes, des Evangeliums, und die Sakramente ständig erneuert und intensiviert werden muss. Seine Aufgabe in diesem Leben ist das freiwillige Hervorbringen der „Früchte des Glaubens“ und die Annahme des und der Nächsten, das „ihm oder ihr zum Christus werden“.

„Jesus
ich stelle mir vor
du hast maria Magdalena
die schön war und
nach blüten duftete
geliebt

als du sie umarmtest
war ihre hingabe
so groß
wie deine göttliche liebe

ich stelle mir vor
diese nacht
außerhalb der geschichte
die alle moral überwand
erlöse uns
Jesus
von den christlichen sünden
mache uns frei“
3

Ich vermute, dass Luthers Text heute kaum mehr verstanden und seine nichtautonome, theozentrische Anthropologie eher negativ gesehen wird. Die geradezu mystische Christusliebe, die Luthers­ Grundlage war, sein inniges Meditieren der Bibel und seine Gebetspraxis zeichnen die heutige Lebenswirklichkeit selbst praktizierender Christinnen und Christen meist nicht mehr aus. Damit fehlt bereits eine praktische Grundlage (nämlich die befreiende Christusnähe als Erfahrung fühlen zu können), die die Übertragbarkeit schwierig macht.

Reichtum und Zielpunkt der Schrift liegen jedoch genau in dieser Christusliebe, durch die der Mensch sich angenommen fühlt, um dann seine Lebensentscheidungen zu fällen. Das heißt auch, dass nicht eine vordergründige christliche Moral befolgt werden muss, sondern dass aus einem lebendigen Gottesverhältnis die Kraft und der Mut zu eigenen Entscheidungen wachsen, die auch entgegen dem Mainstream ihre Berechtigung haben dürfen. Und schließlich: Da, wo mir keine Wahl gelassen wird, bleibt das Vertrauen, das äußere Zwänge meine Integrität und mein Menschsein, mein „von Gott geliebt Werden“, nicht beschädigen können.

Methodische Impulse für eine Gruppenarbeit:

– Gemeinsame Lektüre und Besprechung des Textausschnittes
– Versuch der Übertragung in heutige Zusammenhänge, durch den Satzanfang:
„Christliche Freiheit bedeutet für mich, …“ – als Handout oder Poster, sodass die Aussage entweder allein oder in Gruppenarbeit fortgeführt werden kann, danach gemeinsame Besprechung
– Einsatz eines literarischen Textes, der die heutige Bedeutung näherbringt (siehe Beispiel oben)

Dr. theol. Ute Gause, geb. 1962, seit 2007 Professorin für Reformation und Neuere Kirchen­geschichte an der Ev.-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, Schwerpunkte der Forschung: Frauen-/Gendergeschichte, Diakonie­geschichte

Anmerkungen
1) Martin Luther, Deutsch-deutsche Studienausgabe, hrsg. von Dietrich Korsch, Bd. 1, Leipzig 2012, Auszüge aus den Seiten 281-311.
2) Im gedruckten Text steht hier „recht“, im Lutherdeutsch heißt es „fromm“. Ich habe darum „recht“ in „rechtschaffen“ geändert. U.G.
3) Gedicht von Ernst Eggimann, entnommen aus: Biblische Texte verfremdet, Bd. 6: Frauen, hrsg. von Sigrid und Horst Klaus Berg, München/Stuttgart 1987, 25.

Literatur
Ute Gause, Kirchengeschichte und Gender­forschung, Tübingen 2006

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