Alle Ausgaben / 1998 Frauen in Bewegung von Ingeborg Rothe

Cicely Saunders

Begründerin der modernen Hospizbewegung

Von Ingeborg Rothe

Im Jahre 1976 sah ich sie zum ersten Mal, im Film „Noch 16 Tage“. Unvorbereitet trafen mich damals die Bilder vom „Sterbehaus“ in England, wo Menschen auf ihren Tod warteten. Ich war tief berührt und sehr beeindruckt von dem, was ich in diesem Film sah. Das Wissen um den nahen Tod schien dem Leben neue Möglichkeiten zu eröffnen. Menschen lachten und weinten miteinander, hielten sich in den Armen, redeten oder saßen schweigend beieinander. Besonders beeindruckte mich, daß eine Frau in ihrem Bett durch eine große Flügeltür des Hauses in den Garten geschoben wurde und wie selbstverständlich eine Spazierfahrt durch den wunderschönen Garten erleben konnte.

Das Sterben begleiten, oder das Leben ermöglichen? Was war das Geheimnis, das die Menschen hier in St.Christopher´s verband? „Es ist ein Haus, wo man in Frieden sterben kann“, so sagte es Cicely Saunders im Film.
Inzwischen sind Jahre vergangen und der Hospizgedanke ist vielen Menschen nicht mehr fremd. Doch untrennbar verbunden ist und bleibt er mit dieser Frau, deren Lebensinhalt die Verwirklichung der Hospizidee war und ist: Dr. Cicely Saunders , die in diesem Jahr auf 80 Jahre eines ausgefüllten Lebens zurückblicken kann.

1918 wurde Cicely Saunders in England als erstes Kind eines wohlhabenden Grundstücksmaklers und seiner Frau geboren. Die Ehe der Eltern war sehr konfliktreich und so verbrachte Cicely keine glückliche Kindheit. Trost und inneren Halt fand sie in der Auseineinandersetzung mit Fragen des Lebens und des christlichen Glaubens. In ihr reifte der Entschluß, ihr Leben ganz in den Dienst leidender Menschen zu stellen.
Während des Krieges ließ sich Cicely Saunders zur Krankenschwester ausbilden. Danach studierte sie Sozialwissenschaften und bekam unglaublich schnell einen Kriegsabschluß. Mit dieser Doppelqualifikation arbeitete sie in verschiedenen Krankenhäusern in London.
Kurz nach dem 2. Weltkrieg, Cicely Saunders war Ende Zwanzig, begegnete sie bei ihrer Arbeit im Krankenhaus David Tasma, einem Mann Anfang Vierzig. Sein Schicksal berührte sie tief. David war polnischer Jude und mit knapper Not dem Holocaust des Warschauer Ghettos entkommen. Nun lag er auf ihrer Station, unheilbar an Krebs erkrankt. Die beiden Menschen kamen sich näher und teilten miteinander ihre Träume. Sie wollten einen besseren Ort für Sterbende, nicht diese laute Krankenhausatmosphäre. Sie wünschten sich einen Platz, an dem für Menschen wie David noch Leben möglich war, ohne (allzugroße) Schmerzen und in würdiger Umgebung, bis zum Tode.
Als David Tasma starb, hinterließ er Cicely Saunders 500 englische Pfund, sein ganzes bescheidenes Vermögen. Er gab es ihr mit den Worten: „Lassen Sie mich ein Fenster sein in Ihrem Haus.“ Cicely war erschüttert vom Tode des Mannes, den sie so liebgewonnen hatte, und sie begann, an der Verwirklichung seines Wunsches zu arbeiten.
In medizinischen Kreisen teilte sie ihre Gedanken von einem neuartigen Krankenhaus mit, in dem auch eine Änderung der Schmerztherapie vorgesehen war. Doch ihr wurde bedeutet, daß ihre anerkennungswerten Ideen nie Unterstützung finden würden, es sei denn, sie würde sie als Ärztin vertreten! Cicely Saunders wurde klar: sie mußte nochmals von vorne anfangen. Mit fast 40 Jahren begann sie das Medizinstudium und erwarb in der kürzestmöglichen Zeit ihren Doktor.
Während des Studiums lernte sie eine Patientin kennen, die die letzten sieben Jahre ihres Lebens gelähmt und fast völlig blind im Krankenhaus verbrachte. Cicely gewann diese Frau lieb und  war viele Stunden bei ihr. Die Heiterkeit, Gelassenheit und geistige Präsenz der sterbenden Frau hinterließen einen großen Eindruck bei der angehenden Ärztin. Nach dem Tod dieser Patientin schreibt Cicely Saunders: „Ich glaube, in gewissem Sinne helfen wir als Begleitende das Leben derer, die wir lieben, zu vollenden.“
Während Cicely Saunders schon als Ärztin im St. Joseph`s Hospital arbeitete, ereignete sich eine seltsame Wiederholung des Erlebnisses mit David Tasma. Zum zweiten Mal war es ein polnischer Patient, mit dem sie während der letzten Wochen seines Lebens eine tiefe geistige und emotionale Beziehung verband. Antoni Michniewicz wurde ihr zu einem wichtigen Gesprächspartner. Gemeinsam entwickelten sie weiterführende Ideen für „Ihr Haus“ und Dr. Saunders Initiative zur Verwirklichung wuchs.
Zwei Aufsätze entstanden in dieser Zeit.In den Arbeiten „Die Notwendigkeit“ (The Need) und „Der Plan“ (The Scheme)setzt sie sich mit den Grundlagen der Organisationsstruktur und mit bis heute geltenden wesentlichen Zielen der ihr so wichtigen Hospizarbeit auseinander.
An einem Winterabend des Jahres 1963 entdeckte Cicely Saunders in einer Kunstgalerie ein ganz besonderes Bild. Es war von dem polnischen Maler Marian Bohusz und stellte eine Kreuzigung dar. Cicely Saunders kaufte dieses Bild für „ihr Hospiz“ und schrieb noch am gleichen Abend Marian Bohusz und teilte ihm mit, was dieses Bild für sie bedeutete. Sie bekam Antwort auf ihren Brief und der Kontakt führte wenige Jahre später zur Heirat.

Im Jahre 1967, 20 Jahre nachdem die Idee des „Hospizes“ im Sterbezimmer David Tasmas geboren war, fand sie ihre Verwirklichung. In Sydenham, einem ruhigen Londoner Vorort, konnte Dr. Cicely Saunders ein Haus eröffnen, das sterbenden Menschen und ihren Angehörigen einen Platz in dieser Welt geben sollte. Bei der Namensgebung „St. Christopher's Hospice“ hatte Dr. Saunders ewußt versucht, jede Assoziation an ein Krankenhaus zu vermeiden. Sie hatte vielmehr an die mittelalterliche Tradition der Hospize angeknüpft, die den Pilgern auf ihrer Reise Unterkunft, Rast, Pflege und Stärkung anboten.
„St. Christopher`s Hospice“ sollte als Hospiz des 20.Jahrhunderts ein Ort sein, der Menschen am Ende ihrer irdischen Pilgerreise Stärkung und Begleitung geben wollte. Inzwischen ist Dr. Cicely Saunders offiziell in den Ruhestand getreten. Sie lebt im St.Christopher`s Hospice, ist aber nach wie vor die tragende und liebende Seele des Hauses.

Pastor Martin Ostertag, Beauftragter für Hospizdienst und Palliativmedizin der Landeskirche Hannovers, begegnete Dr. Cicely Saunders 1997 auf einem Kongress zum ersten Mal. Er schreibt: „Fast 80 Jahre war sie alt. Immer noch so lebhaft wie im Film erzählte sie vom Hospiz. (…) Was ist das Geheimnis dieses Erfolges? Es ist ganz schlicht. Dame Cicelys Grund-Satz für Begegnungen mit Menschen lautet: „Sie sind wichtig, weil Sie eben Sie sind.“ Das gilt besonders den Sterbenden, aber ich weiß, sie wendet es auf alle Menschen an. Denn als ich sie dieses Jahr (1998) bei einer anderen Tagung wiedertraf, sagte sie: „Ich glaube, wir sind uns schon begegnet.“
Vielleicht ist es die ungeteilte Aufmerksamkeit, die sie im Augenblick einer Begegnung ihrem Gegnüber schenkt. Sie gibt ihm das Gefühl, als Mensch einzigartig und wichtig zu sein. Sie handelt nach ihren Worten: „Sie sind wichtig, weil Sie eben Sie sind. Und deshalb werden wir alles tun, damit Sie nicht nur in Frieden sterben, sondern bis dahin auch in Würde leben können.“

Verwendete Literatur:
1. Sandel Stoddard, Leben bis zuletzt, TB Serie Piper, 89
2. Anne Fried, Wo man in Frieden sterben kann, ABC team Brockhaus TB
3. Johann Christoph Student, Das Hospiz-Buch, Lambertus-Verlag 89

Ingeborg Rothe, Hannover

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