Ausgabe 1 / 2020 Material von Ulrike Kress

Cineastisches

Von Ulrike Kress


Eine junge Frau, die erkennt, dass ihr heutiges Leben beeinflusst ist vom Leben eines Großvaters, den sie nie kennengelernt hat. Eine Teenagerin, der es gelingt, eine extrem schwierige Situation in einer für sie völlig fremden Kultur und Umgebung zu bewältigen. Fünf Frauen, die schreckliche und schmerzhafte Erfahrungen gemacht haben, und trotzdem oder gerade deswegen für Frauenrechte aufstehen. Oasen der Stille in unserer lärmenden Welt. Manch Erstaunliches, dem wir mit Filmen auf die Spur kommen können. Schauen Sie selbst!

Bekenntnis eines deutschen Soldaten

Dokumentarfilm von Tony Wilson

Großbritannien 2008; Laufzeit: 78 Minuten

Anhand von hinterlassenen Briefen, die sie vom Vater überreicht bekam, recherchiert die junge Lena Karsten den Werdegang ihres Großvaters Dietrich Karsten im Zweiten Weltkrieg. Zu Beginn weiß sie lediglich, dass er 1942 in Russland „gefallen“ ist. Lena möchte das Grab des Großvaters finden und rollt seine Geschichte gemeinsam mit einem Historiker auf. Der Film wechselt zwischen historischen Dokumentaraufnahmen, Auszügen aus den Briefen Dietrich Karstens und den Recherche-Gesprächen mit dem Historiker Gabriel Fawcett.


Warum aber sind die 300 handgeschriebenen Briefe des Großvaters an seine Frau so interessant für Lena? Großvater Dietrich war Pfarrer. In der Zeit des Nationalsozialismus ging er in den Widerstand und starb 1942, mit 30 Jahren, als überzeugter Soldat an der Ostfront. Lena ist fasziniert und zugleich irritiert von dem Gedanken, dass er evangelischer Pfarrer war und gleichzeitig in der Wehrmacht für Hitler gekämpft hat.

Das Besondere an diesem Film ist, dass Lena Karsten die Geschichte ihres Großvaters nicht nur für sich, sondern für ihre ganze Generation recherchiert und für sich Erkenntnisse daraus zieht. Lena Karsten stammt aus der Generation der Kriegsenkel*innen, der Kinder der Kriegskinder. Viele von ihnen machen sich heute auf Spurensuche. Sie wollen erfahren, was damals geschah und inwiefern die eigene Familie in das nationalsozialistische Verbrechen involviert war. Der Blick in die Vergangenheit ist oft schmerzhaft, weil Zusammenhänge kriegsbedingter Nachwirkungen auf die Kriegskinder- und Kriegsenkelgeneration sichtbar werden. Der Rückblick ist aber auch heilsam, da er es möglich macht, Zusammenhänge zu erkennen.


Für die Arbeit in der Gruppe


Zeit / circa 120 min

Der Film eignet sich gut für ein Gespräch in der Gruppe – insbesondere mit Blick

auf den 75. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1945.


– Nach dem gemeinsamen Anschauen des Films können die Teilnehmer*innen in einer kurzen Runde mitteilen, welche Gefühle der Film in ihnen ausgelöst hat.
– Bei Bedarf sollten anschließend Verständnisfragen geklärt werden.
– „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“ Das Zitat von Helmut Kohl wird auf ein großes Plakat geschrieben und in die Mitte gelegt oder für alle sichtbar aufgehängt.
– Die Teilnehmer*innen tauschen sich aus zu der Frage: Inwiefern trifft das Zitat von Helmut Kohl auf den Film bzw. auf das Leben von Lena Karsten zu?
– Wenn ausreichend Zeit zur Verfügung steht, können die Teilnehmer*innen sich – je nach Gruppengröße ggf. in Kleingruppen – darüber austauschen, wann und wie sie etwas aus der eigenen Familiengeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus und des 2. Weltkriegs erfahren haben.

Hinweis für Leiter*innen: Weisen Sie einleitend deutlich darauf hin, dass es hier nicht um einen Austausch darüber geht, was in den Familiengeschichten erzählt wurde (oder auch nicht). Das könnte für viele Menschen, die diese Zeit als Kinder erlebt haben oder nach 1945 geboren sind, ausgesprochen spannend und in manchen Fällen hilfreich sein. Aber es braucht einen eigenen, methodisch gut vorbereiteten Rahmen.

Arlette – Mut ist ein Muskel

Dokumentarfilm von Florian Hoffmann

Schweiz 2015; Laufzeit: 53 Minuten

„Mut ist ein Muskel“ sagt die fünfzehnjährige Arlette, die aus der Zentralafrikanischen Republik stammt. Arlette macht sich auf die Reise nach Berlin, um dort operiert zu werden. Sie leidet an den Folgen einer schweren Schussverletzung am Knie, die seit ihrem fünften Lebensjahr nicht richtig ausgeheilt ist. Getrennt von den Eltern, wird der Aufenthalt im winterlichen Berlin für Arlette zu einer großen Herausforderung. Da ist niemand, der ihre Sprache spricht, die moderne Apparate-Medizin wirkt befremdlich auf sie.

Arlette gelingt es, sich mit der Situation zu arrangieren, auch wenn sie zwischen-

durch kleine Rückschläge erfährt, etwa, wenn kein Telefonkontakt zur Familie in der Heimat möglich ist. Als Arlette nach erfolgreicher Operation und anschließender Rehabilitation nach Hause zurückkehren kann, brechen in ihrer Heimat erneut kriegerische Auseinandersetzungen aus. Obwohl vieles dagegen spricht, entscheidet das Mädchen sich mutig für die Heimreise.

#Female Pleasure

Dokumentarfilm von Barbara Miller

Schweiz/ Deutschland 2018; Laufzeit: 97 Minuten

Barbara Miller stellt fünf Lebensgeschichten von Frauen unterschiedlicher Kulturen und Weltreligionen vor. Sie interessiert sich für den weltweiten Umgang mit weiblicher Sexualität und will Hintergründe für Diskriminierung und Unterdrückung weiblicher Sexualität untersuchen. Die fünf Frauen, die im Film vorgestellt werden, haben schreckliche Erfahrungen gemacht.

Die 34-jährige Deborah Feldman wuchs in einer ultraorthodoxen jüdischen Familie auf. Sexuell nicht aufgeklärt, wurde sie mit 17 Jahren mit einem älteren Mann zwangsverheiratet. Mit 19 bekam sie ihr erstes Kind. Sie fühlte sich als Frau in der chassidischen Gemeinschaft völlig unterdrückt, verließ ihren Mann und schrieb „Unorthodox“ und „Überbitten“ – Bücher über ihre Erfahrungen, die weltweite Bestseller wurden.

Die 40-jährige Inderin Vithika Yadav wuchs in einer Hindu-Familie auf. Sie musste sich gegen  massive sexuelle Übergriffe von Männern wehren. Als Menschenrechtsaktivistin engagiert sie sich heute für eine sexuelle Aufklärung in Indien, u.a. über eine preisgekrönte Sexualaufklärungsplattform im Internet.

In einer streng gläubigen muslimischen Familie aufgewachsen, wurde die heute 40-jährige Somalierin Leyla Hussein als siebenjähriges Mädchen genital verstümmelt. Als erwachsene Frau und Mutter einer Tochter setzt sie sich für das Recht von Mädchen und Frauen auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung ein. Als Psychotherapeutin und Aktivistin gründete sie eine Organisation in Großbritannien, die gefährdeten Mädchen Beratung per Telefon-Hotline anbietet. Hussein trat vor der UNO und dem englischen Parlament auf, um die Situation gefährdeter Mädchen, auch in Europa, zu verändern.


Die 48-jährige japanische Bildhauerin und Manga-Zeichnerin Megumi Igarashi arbeitet unter dem Pseudonym „Rokudenashiko“. Mit ihrer Kunst – wie 3-D-Abdrücke ihrer Vulva oder ein Kajak in Form einer Vulva – will sie erreichen, dass weibliche Sexualität und Lust nicht mehr verteufelt werden. Igarashi kritisiert, dass in Japan männliche Genitaldarstellungen erlaubt sind und die Pornoindustrie boomt, während die Darstellung weiblicher Genitalien verboten ist.


Die heute 37-jährige Deutsche Doris Wagner wuchs in einer streng protestantischen Familie auf. Mit 15 Jahren konvertierte sie zur katholischen Kirche, mit 19 trat sie in die umstrittene katholische Ordensgemeinschaft „Das Werk“ ein. Nach  Vergewaltigungen durch einen Priester des Ordens verließ sie die Gemeinschaft, studierte und gründete eine Familie. In dem Buch „Nicht mehr ich – Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau“ verarbeitete sie ihre schmerzhaften Erfahrungen und prangert die Doppelmoral der Kirche im Umgang mit sexualisierter Gewalt an.


#Female pleasure ist geschickt in Szene gesetzt. Barbara Miller lässt die Protagonistinnen ohne jeden Kommentar zu Wort kommen. In unterschiedlichen Filmkapiteln erfahren die Zuschauer*innen deren packende und berührende Lebensgeschichten. Die Frauen werden zunächst vorgestellt, reflektieren dann ihre Rollen hinsichtlich der Religion und schildern ihre Kämpfe gegen sexuelle Unterdrückung und Gewalt. Der Film endet hoffnungsvoll mit der Vorstellung der Arbeit der Protagonistinnen in Aufklärungs- und Öffentlichkeitskampagnen und Aktionen für sexuelle Selbstbestimmung. Barbara Miller ruft dazu auf, „sich zu verbünden und gemeinsam mit Männern etwas zu verändern, sodass beide, Männer und Frauen, eine erfüllte und respektvolle Sexualität erleben können.“


Für die Arbeit in der Gruppe


Zeit/ circa 120 min

Der Film eignet sich insbesondere für ein Gespräch in der Gruppe im Hinblick auf die #MeToo-Debatte.

– Nach dem Schauen des Films ist Raum für offene Fragen und Betroffenheit der Teilnehmer*innen.
– Fragen zur Anregung eines Gesprächs: Welche Wirkung hat der Film auf Sie? Welche Botschaft hat #Female Pleasure für Sie? Sehen Sie Parallelen zwischen der #Metoo-Debatte und dem Film?
– Impuls zum vertieften Austausch:
Wie beurteilen Sie das Frauenbild in Ihrer eigenen Religion?


Zeit für Stille

Dokumentarfilm von Patrick Shen

USA 2016; Laufzeit: 81 Minuten

Es ist still. Zu Beginn des Films könnte man/frau denken, dass die Lautstärkeregelung am Vorführgerät nicht funktioniert. Doch genau darum geht es: In unserer Gesellschaft sind Momente der Stille rar. Der Film macht eine Reise um die Welt und macht dabei den Gegensatz von Stille und Lärm, etwa in einer Megastadt wie Mumbai, erfahrbar. Befragte Expert*innen warnen vor Reizüberflutung und ermutigen dazu, sich der Stille auszusetzen. Ein Wanderer in den USA legt ein Schweigegelübde zur Selbstfindung ab. Die Zuschauer*innen erleben eine Atmosphäre der Ruhe bei einer traditionellen Teezeremonie in Japan und werden an die stumme Komposition 4’33“ des amerikanischen Komponisten John Cage erinnert. Patrick Shen führt vor Augen (und Ohren), welchen Einfluss Ruhe und Lärm auf unser Leben haben und fordert uns als Zuschauer*innen auf, selbst darüber nachzudenken.


Beim Vorführen sind unbedingt die entsprechenden Vorführrechte (oder besondere Klauseln, z.B. Lizenz nur für nichtgewerbliche öffentliche Filmvorführungen) zu beachten.

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