Die Psalmen sind alte Gebete des Volkes Israel. Viele von ihnen entstanden als Antwort auf ein konkretes historisches Ereignis, in dem die Israeliten Gottes heilvolles Handeln in Zeiten der Not erfahren haben.
In den Psalmen erzählen sie von diesen Gottes- und Glaubenserfahrungen. Sie berichten von ihren Zweifeln, vom Gefühl der Gottverlassenheit, klagen laut ihre Not – und schildern dann, wie Gott ihnen in solchen Momenten nah kam, sie wieder Vertrauen fassten und sich neue Zukunft eröffnete.
Die Psalmen sind damit Texte aus einer anderen Zeit. Sie spielen auf gesellschaftliche und politische Ereignisse an, mit denen sich das Volk Israel vor rund 3000 Jahren auseinandersetzen musste. Zugleich aber sind die Psalmen zeitlos. Denn sie bringen angesichts des konkreten Geschehens immer auch menschliche Grunderfahrungen zur Sprache: Angst, Hilflosigkeit und Wut ebenso wie Dank und Freude. Die Menschen brachten all das vor Gott, weil sie, trotz aller Zweifel, in ihrer Not von Gott Hilfe erwarteten. Auch wir sind eingeladen, das zu tun, und dazu nicht nur unsere Worte zu suchen, sondern auch die alten Worte immer und immer wieder nachzusprechen. Sie verbinden uns über Raum und Zeit hinweg mit Menschen, die uns im Glauben vorausgegangen sind. Sie geben uns Worte, wenn uns die Worte fehlen. Sie erzählen uns davon, dass Menschen zu allen Zeiten mit Gott rangen und ihn gerade in diesem Ringen, in Zeiten von Leid und Zweifel, entdeckten. Die Psalmen wollen uns Mut machen, das Leben mit Gott zu wagen.
Weil diese Texte so alt sind, gebrauchen sie manchmal Bilder oder Begriffe, die uns heute fremd sind, die wir nur verstehen, wenn wir nachfragen, wie die Menschen damals lebten und was sie zu diesem Gebet bewegt hat. Das bedarf manchmal einiger Mühe, aber es kann helfen, dahinter die Spuren Gottes in der eigenen Gegenwart zu entdecken. Dorothee Sölle hat deshalb davon gesprochen, dass man die Psalmen „essen muss“, wie ein Lebensmittel. Man muss darauf herumkauen, hat sie gesagt. Man muss sie essen und trinken, manchmal ausspucken, manchmal wiederkäuen. Sie sind Brot Gottes, jeder und jedem geschenkt, um geistlich satt zu werden.1
Lassen sie es uns einmal versuchen:
Vertiefen wir uns mit Leib und Sinnen in den 126. Psalm. Fragen wir nach den Ereignissen, die zu seiner Entstehung führten. Spüren wird den Glaubenserfahrungen nach, die die Menschen damals machten – und entdecken wir dabei, wie Gott uns heute stärkt und begleitet.
Um den Psalm wirklich „durchzukauen“, gibt es im Folgenden Vorschläge, wie er zwischen den Informationen und Denkanstößen immer wieder anders gelesen werden kann. Auch szenische Darstellungen, Bewegungsübungen oder musikalische Gestaltung, zum Beispiel mit Orffschen Instrumenten, sind möglich – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Psalm 126
nach der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache
Eine Person liest den Psalm am Stück.
1Ein Wallfahrtslied.
Als der Ewige Zions Geschick wendete,
war es, als träumten wir:
2Da füllte Lachen unseren Mund
und Jubel unsere Zunge.
Da sagten sie unter den Nationen:
Großes hat der Ewige an ihnen getan.
3Großes hat der Ewige an uns getan,
wir sind es, die sich freuen!
4Wende, Ewiger, unser Geschick,
wie du Flüsse im Negeb wiederbringst.
5Die mit Tränen säen – mit Jubel werden sie ernten.
6Da gehen sie, sie gehen und weinen
und tragen den Beutel zum Säen.
Da kommen sie, sie kommen mit Jubel
und tragen ihre Garben.
Es fällt auf, dass der Psalm zwei Teile hat. Die ersten drei Verse, in denen eine Rückschau stattfindet, erinnern es an eine große Tat Gottes. Die letzten drei Verse richten den Blick dagegen nach vorn: Gott wird gebeten, auch in Zukunft so zu handeln, wie er es damals getan hat.
Vergangenheit und Zukunft – machen wir uns beidem auf die Spur: was war und was wird ersehnt?
Nun werden die beiden Teile des Psalms gemeinsam gelesen: eine erste Gruppe liest VV1-3; eine zweite Gruppe VV4-6. Eine andere Möglichkeit: Wechsel der Blickrichtung beim Lesen von VV1-3 (nach hinten schauen) und VV4-6 (nach vorne schauen). – Daran schließt sich eine Betrachtung des Psalms an.
Der Blick zurück – was war geschehen?
Als der Ewige Zions Geschick wendete, war es, als träumten wir:
2Da füllte Lachen unseren Mund
und Jubel unsere Zunge.
Wir schreiben das Jahr 587 v.Chr. – für jüdische Menschen ein traumatisches Jahr: Der babylonische König Nebukadnezar II. erobert Jerusalem. Er zerstört den Tempel, das zentrale Heiligtum Israels. Viele Menschen werden ins Exil nach Babylon gebracht. Es sind überwiegend Menschen der Oberschicht, die er aus dem Land haben will – er hofft wohl, damit eine mögliche Widerstandsbewegung im Keim zu ersticken. Sie werden in Babylon angesiedelt, leben dort nicht als Gefangene, aber eben im Exil: entwurzelt, fern der Heimat, fern vom Haus Gottes, dem Zeichen für Gottes Nähe, das in Trümmern liegt. Wie sollen sie beten? Wird Gott hören? Sie fühlen sich wie gelähmt – viele verstummen.
Ein anderer Psalm aus dieser Zeit, Psalm 137, gibt davon beeindruckend Zeugnis:
1An den Strömen Babels – dort saßen wir und weinten, wenn wir uns an Zion erinnerten.
2An die Pappeln mitten darin hängten wir unsere Leiern.
3Ja, dort forderten die, die uns gefangen weggeführt hatten, von uns Liedverse,
und die uns zum Weinen brachten, Freude:
Singt uns eins der Zionslieder!
4Ach! – Wie könnten wir ein Lied des Lebendigen auf fremder Erde singen?
So klagten sie. Aber wo das Wort Gottes nicht gelesen, Gottes Lieder nicht gesungen werden, da droht die Weisung der Thora verloren zu gehen. Glücklicherweise hielten Propheten – wie Jeremia – die Hoffnung aufrecht, dass Gott das Geschick wenden würde …
Um das Jahr 539 v.Chr. ist es soweit: der Perserkönig Kyros II. erobert Babylonien, und die jüdischen Menschen können in ihre Heimat zurückkehren.
Als der Ewige Zions Geschick wendete, war es, als träumten wir:
2Da füllte Lachen unseren Mund und Jubel unsere Zunge.
Zuerst erscheint es ihnen wie ein Traum – und dann brechen Jubel und Lachen sich Bahn. Überschäumende Freude wird laut: es wendet sich alles zum Guten! Gott hat sie nicht vergessen! Sie können heimkehren, der Glaube kann wieder erblühen – und mit ihm das Leben, das Gott für sie vorgesehen hat. Was ist das für ein Leben?
Auch darüber finden wir Auskunft in einem der Psalmen, in Psalm 85:
9Ich will hören, was Gott sagt – … Frieden,
zu seinem Volk und zu denen, die Gott lieben, dass sie sich nicht zur Mutlosigkeit wenden.
10Ja! Nahe ist sein Befreien denen, die Gott ergeben sind, dass glanzvolle Würde in unserem Land wohne.
11Freundlichkeit und Verlässlichkeit treffen aufeinander. Gerechtigkeit und Frieden küssen sich.
12Verlässlichkeit wird aus der Erde sprießen, Gerechtigkeit vom Himmel herabschauen.
13Auch gibt Gott das Gute. Unser Land gibt seinen Ertrag.
14Gerechtigkeit geht vor dem Antlitz Gottes her und setzt zu einem Weg ihre Schritte.
Frieden, Freundlichkeit, Gerechtigkeit, Verlässlichkeit – im Angesicht Gottes: das ist leben nach der Thora, nach Gottes Gebot. Groß ist die Freude, und sie sind gewiss, dass die, die vorher auf sie herabgeschaut haben und fragten: Wo ist denn euer Gott?, nun seine Größe erkennen.
Da sagten sie unter den Nationen:
Großes hat der Ewige an ihnen getan.
3Großes hat der Ewige an uns getan, wir sind es, die sich freuen!
Voll Lachen und Jubel kehren sie heim, um das Leben in der Heimat neu zu beginnen. Die nun folgenden Verse aber lassen ahnen, dass das Leben nach der Rückkehr nicht immer so einfach war, wie sie geglaubt hatten:
4Wende, Ewiger, unser Geschick, wie du Flüsse im Negeb wiederbringst.
Jubel und Lachen sind umgeschlagen in die erneute Bitte um Hilfe in Not. Der Aufbau der Stadt und des Tempels geht nur schleppend voran. Angesichts von Kleinarbeit und Mühsal weicht die Euphorie bald großer Ernüchterung. Die Kräfte der ersten Zeit beginnen zu schwinden wie eine Quelle, die versiegt. Aber diesmal verstummen sie nicht. „Wir werden unsere Leiern nicht in die Pappeln hängen“, wir werden weitermachen, für Gottes Sache eintreten und darauf vertrauen, dass er alles vollendet.
5Die mit Tränen säen – mit Jubel werden sie ernten.
6Da gehen sie, sie gehen und weinen und tragen den Beutel zum Säen.
Da kommen sie, sie kommen mit Jubel und tragen ihre Garben.
Das klingt anders als damals im Exil. Kein Verstummen, sondern Hoffnung. Sie sind gewiss: weil Gott damals geholfen hat, wird er es wieder tun. Wir dürfen sein Wort, seine Liebe aussäen, auch unter Tränen – vielleicht gerade da, wo geweint und getrauert wird, wo das Leid groß ist, weil Menschen immer wieder fern von Gott leben. Sie werden ernten – aber sie erkennen auch: es braucht Geduld und seine Zeit, bis aus dem Saatkorn die Ähre wächst.
Die Erinnerung an die Befreiung, die Erinnerung an das Lachen, das hielt die Menschen in Jerusalem damals aufrecht. Und sie ließen auch in schwerer Zeit nicht nach, im Vertrauen auf Gottes Wort die Welt in seinem Sinn zu gestalten.
Wo (be-) treffen mich die alten Worte heute?
Bis heute ist uns das aufgegeben. Denn immer wieder, immer noch sind Menschen gefangen in Unrecht, in sich selber. Menschen sehnen sich nach Freiheit und Gerechtigkeit. Menschen wenden sich an Gott und bitten, dass er sie und ihr Leben wieder heil mache. Menschen erleben die Wende zum Guten und erkennen darin Gottes Geist, der sie und die Welt erfüllt:
Ich sehe die Bilder vom 9. November 1989, als sich die Mauer in Berlin öffnete und Menschen aus den beiden deutschen Staaten sich jubelnd in die Arme fielen.
Ich erinnere mich daran, wie nach Wochen, die angefüllt waren von der Trauer über den Tod einer guten Freundin, plötzlich ein Regenbogen am Himmel stand und die Welt wieder mit Licht und Farbe erfüllte. Und als ich dann die Kinder dieser Freundin in den Pfützen des vorangegangenen Gewitters spielen sah, konnte ich wieder lachen.
Da war ein Abendmahl am Bett einer Sterbenden – und der kleine Enkel, der genau spürte, dass das geteilte Brot auch über die Grenze des Todes hinweg stärkt.
Gott hat Großes an uns getan.
Die Anwesenden werden eingeladen, dem für einen Moment nachzusinnen und eigene Erinnerungen an eine „Wende zum Guten“ kurz zu benennen.
Aber ich musste auch erkennen, dass der Weg zur Einheit Deutschlands ein steiniger war und ist – voll von Verletzungen und geplatzten Träumen.
Als der Sohn meiner Freundin jetzt, sieben Jahre nach ihrem Tod konfirmiert wurde, brach die Trauer mit Macht wieder auf.
Und der Tod ist mit Ostern nicht aus der Welt. Immer wieder ist das Leben bedroht. Wir gedenken in diesem Jahr des Ausbruchs des 1. Weltkriegs vor 100 Jahren. Nie wieder, so bitten wir, soll solch ein sinnloses Morden sein. Aber Angst vor neuem Krieg breitet sich aus, wenn wir nach Syrien und in die Ukraine schauen.
Gott – komm doch und bring uns deinen Frieden, lass deine Liebe unter uns blühen.
Psalm 126 erneut lesen: jede/r liest den Teil (VV1-3 oder VV4-6), der ihr/ihm gerade mehr aus dem Herzen spricht – und zwar so: Alle lesen den Psalm mit leiser Stimme und nur die Worte laut, die persönlich besonders wichtig sind.
Es kann sich ein Gespräch darüber anschließen, wieso sich die Einzelnen für bestimmte Verse oder Worte entschieden haben.
Immer wieder erleben wir, dass unsere Welt nicht so ist, wie Gott sie uns wünscht. Nicht Gottes Geist regiert in dem, was wir tun und erfahren, sondern Korruption, Egoismus, Dummheit. Menschen gehen verantwortungslos miteinander und mit der Schöpfung um. Schnell sind wir in Versuchung zu resignieren. Hoffnung und Mut verlassen uns.
Dann laden uns die alten Worte von Psalm 126 ein, uns zu erinnern an Zeiten, in denen wir glücklich und froh waren, weil unser Leben erfüllt war mit Wahrhaftigkeit und Freude; weil wir spürten, wie Gottes Wirklichkeit sich Bahn brach und das Leben die todbringenden Mächte besiegte. „Das gab es, das muss es geben!“, so hat es Erich Fried einmal gesagt.
Deshalb: Verstummen wir nicht, lassen wir uns nicht lähmen. Singen wir Gottes Lied, vertrauen wir seinem Wort, das die Welt erschaffen hat und immer wieder neu gut machen kann. Säen wir Gottes Liebe unter die Menschen – unermüdlich, unerschütterlich. Und lachen, jubeln und danken wir jeden Tag, laut oder leise, über das Schöne und Gute – damit wir mit jeder Faser spüren:
Gott ist auf unserer Seite.
Ps 126,1-3 noch einmal lesen. – Dann können gemeinsam Bitten und Dank für ein Gebet gesammelt werden, wobei der Dank und die Freude einen besonderen Akzent haben sollten.
Lied: Brot, das die Welt umkreist
(W. Willms/P. Janssens) oder: Es mag sein, dass alles fällt (EG 378, 1+5)
Cathrin Szameit, geb. 1964, ist ev. Theologin und Pfarrerin in den Gemeinden Breitenbach und Martinhagen (Schauenburg).
Anmerkung
1) Vgl. D.Sölle, Die Wahrheit macht euch frei, Gesammelte Werke Band 4, Freiburg (Kreuz Verlag) 2006, S. 212f
Die letzte Ausgabe der leicht&SINN zum
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