Alle Ausgaben / 2014 Frauen in Bewegung von Doris Strahm

Damit alle dazugehören

Der Interreligiöse Think-Tank Schweiz

Von Doris Strahm


Der „Interreligiöse Think-Tank“ ist ein Zusammenschluss von jüdischen, muslimischen und christlichen Exponentinnen des interreligiösen Dialogs in der Schweiz. Gegründet wurde er im November 2008 von der muslimischen Islamwissenschaftlerin Amira Hafner-Al Jabaji, der jüdischen feministischen Theologin Gabrielle Girau Pieck und mir, einer christlichen feministischen Theologin.

Wir kannten einander aus der gemeinsamen interreligiösen Arbeit, speziell mit Frauen. Zusammen mit anderen jüdischen, muslimischen und christlichen Frauen organisierten und leiteten wir seit einigen Jahren interreligiöse Theologiekurse für Jüdinnen, Christinnen und Musliminnen, traten gemeinsam an Veranstaltungen auf und hielten Vorträge zum Thema. Die Praxis des Dialogs war uns dabei immer ein zentrales Anliegen.

Nachdem wir realisiert hatten, dass die Dialogerfahrungen und -kompetenzen und das fachliche Know-how von Frauen in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen werden, beschlossen wir, mehr Einfluss auf die öffentlichen Religionsdebatten zu nehmen. Als Sprecher des interreligiösen Dialogs treten nämlich vornehmlich männliche Repräsentanten der Religionsgemeinschaften auf – etwa im Schweizerischen Rat der Religionen, der sich bei seiner Gründung im Jahr 2006 allein aus männlichen Würdenträgern und offiziellen Repräsentanten der Religionsgemeinschaften zusammensetzte. Als Think-Tank wollten wir andere Wege gehen: Wir verstehen uns nicht als offizielle Repräsentantinnen unserer Religionsgemeinschaften, sondern als institutionell unabhängiger Zusammenschluss von interreligiös engagierten Frauen. Und wir wollen die Stimmen von Frauen in die interreligiösen Debatten einbringen und der Genderperspektive mehr Gewicht verleihen.


Institutionell unabhängig

Wir alle sind institutionell unabhängig und wollen auch den institutionskritischen Stimmen in der Öffentlichkeit mehr Gehör verschaffen. Denn die offiziel­len interreligiösen Gremien ignorieren häufig, dass sich heute ein Großteil der Menschen in den drei monotheistischen Religionen, die sich als religiös verstehen, immer weniger mit den religiösen Institutionen und ihren Vertretern identifiziert. Und wir wollen die spezifischen Interessen von Frauen vertreten und die Genderperspektive in die reli­gionspolitischen Debatten einbringen, die dort meist ausgeblendet werden – ohne uns in die „Frauen­ecke“ abdrängen zu lassen. Unser Anspruch ist umfassend: Wir mischen uns in alle aktuellen interreligiösen und gesellschaftlichen Debatten ein und richten uns an alle gesellschaftlichen Kreise. Unsere erste öffent­liche Aktion war denn auch eine Stellungnahme gegen die islamfeindliche Minarett-Verbotsinitiative, die von rechts­bürgerlichen Kreisen in der Schweiz 2009 lanciert wurde. Mit unserem Argumentarium 16 Gründe für ein Nein gaben wir den StimmbürgerInnen in der emotionalisierten und polemischen Debatte Argumente für ein Nein zur Initiative an die Hand.


Vertrauen und Respekt

Seit gut fünf Jahren mischen wir uns nun in die interreligiösen und religionspolitischen Debatten ein und versuchen mit Statements, Analysen, Studien und Veranstaltungen Gegensteuer zu geben zur wachsenden fremden- und islamfeind­lichen Stimmung in einer breiten schweizerischen Öffentlichkeit. Unsere Zusammenarbeit ist trotz unterschiedlicher Glaubensvorstellungen sehr produktiv und weitgehend konfliktfrei. Dies hat damit zu tun, dass wir uns als Gleichgesinnte zusammengeschlossen haben und die gleichen gesellschaftspolitischen Ziele vertreten. Bei unseren gemeinsamen Projekten rücken unterschiedliche religiöse Anschauungen zugunsten des gemeinsamen Ziels in den Hintergrund. Das gemeinsame Engagement hat die persönlichen Beziehungen noch vertieft und das Vertrauen zwischen uns wachsen lassen. Vertrauen, Respekt und Differenzverträglichkeit bilden das Fundament unserer konstruktiven Arbeit im Interreligiösen Think-Tank.


Aktivitäten und Projekte

Stellungnahmen und Studien, in denen wir die politischen Entwicklungen in unserem Land analysieren, veröffentlichen wir auf unserer Website. Zudem publizieren wir Veranstaltungshinweise sowie Artikel und Vorträge, damit interessierte Kreise wie LehrerInnen, PolitikerInnen, Migrationsfachleute, Behörden usw. von unseren Erfahrungen und Reflexionen Gebrauch machen können.

Aufgrund der islamfeindlichen Stimmung in der Schweiz und der politischen Vorstöße zum Islam haben wir uns besonders in die Islamdebatten eingemischt, um gegen Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie Stellung zu nehmen. Als 2010 die rechtspopulistischen Kreise, beflügelt vom Erfolg der Anti-Minarett-Initiative, ein Verbot der Burka lancierten, nahmen wir dazu Stellung unter dem Motto: Verschleierte Politik. Wir machten auf die Instrumentalisierung der Frauen- und Geschlechterfrage für eine fremdenfeindliche Kampagne aufmerksam und wiesen auf die unheilige Allianz hin zwischen rechten Politikern – die plötzlich zu Feministen mutierten, wenn es um den Islam ging – und einigen feministischen Exponentinnen, die sich im Namen von Frauenrechten ebenfalls für ein Verbot der Burka in der Öffentlichkeit stark machten.

2011 publizierten wir ein Manifest Weibliche Freiheit und Religion sind vereinbar, in dem wir unsere kritische Auseinandersetzung mit einer bestimmten Strömung des Feminismus vertieften und für eine differenziertere Debatte um Religion und Frauenrechte plädieren. Viele Feministinnen vertreten in ihrer Beurteilung der Situation von muslimischen Frauen nicht nur ein eurozentrisches Feminismuskonzept; sie haben meist auch eine negative Haltung gegenüber Religion im Allgemeinen und dem Islam im Besonderen. Wir postulieren die Vereinbarkeit von Religion und Frauenrechten und fordern ein differenzierteres Verständnis von Religion wie auch des Feminismus.

Ebenfalls 2011 veröffentlichten wir eine Studie zu Leitungsfunktionen von Frauen in Judentum, Christentum und Islam, in der wir den Stereotypen und Vorurteilen bezüglich der Stellung von Frauen in den drei monotheistischen Religionen Fakten gegenüberstellen. Der Fokus der Studie liegt zum einen auf einer geschichtlichen und theologischen Verortung der Fragestellung und dem weltweiten Horizont und zum anderen auf der aktuellen Situation in der Schweiz.

Alle Projekte finanzieren wir durch Fundraising bei Stiftungen, sodass wir unsere Unabhängigkeit bewahren können.


Interreligiös verfasster Leitfaden

Unser jüngstes und bis anhin erfolgreichstes Produkt ist ein Leitfaden für den interreligiösen Dialog, der nach seinem Erscheinen im November 2013 heute bereits in der dritten Auflage vorliegt. Anlass war die Erfahrung vieler im interreligiösen Dialog Engagierter, dass interreligiöse Verständigung trotz bester Absichten oft misslingt. Wir haben deshalb unsere eigenen Dialog-Erfahrungen reflektiert, um die negativen Muster zu analysieren und konstruktive Alternativen zu entwickeln – kurzum: ein Arbeitsinstrument zu schaffen, das Dialogwilligen hilft, Stolpersteine im interreligiösen Dialog zu erkennen und möglichst zu vermeiden.

Damit war die Idee eines Leitfadens für den interreligiösen Dialog geboren, in den wir die Lernergebnisse unserer langjährigen Dialogarbeit einfließen lassen wollten. Nach einem ersten Teil mit grund­legenden Gedanken zum inter­religiösen Dialog und seinem aktuellen gesellschaftlichen Kontext werden im Hauptteil anhand von konkreten Beispielen aus unserer eigenen Dialogpraxis häufige „Fettnäpfchen“ im interreligiösen Dialog benannt und gezeigt, wie wir diesen aus dem Weg gehen können. Eine Checkliste im Anhang will helfen, bereits bei der Planung von Dialogveranstaltungen die relevanten Aspekte zu beachten.

Speziell ist, dass wir den Text von Beginn weg wirklich interreligiös konzipiert und gemeinsam erarbeitet haben, sodass unser Leitfaden gleichermaßen Erfahrungen von Angehörigen der Mehr­heits- wie auch der Minderheitenreli­gionen wiedergibt. Was wir als Ziel definieren – ein interreligiöser Dialog auf Augenhöhe – haben wir beim Verfassen des Leitfadens selber praktiziert. Über eineinhalb Jahre haben wir in einem intensiven und komplexen Arbeitsprozess einen Text erarbeitet, hinter dem jede von uns stehen kann. Jede steuerte den einen oder anderen ausformulierten Gedanken bei, beschrieb Beispiele. Die Texte gingen hin und her, wurden gegenseitig kommentiert und auch verändert. Jede brachte ihre Perspektiven und Erfahrungen ein, trug zu Inhalt und Struktur des Leitfadens bei. So wuchs das Ganze langsam, gärte, ging auf, wurde nochmals durchgeknetet und wuchs weiter, wuchs zusammen.

Das große Interesse am Leitfaden – kirchliche, aber auch politische Kreise wie Integrationsfachstellen und Behörden bestellen ihn – nährt die Hoffnung, dass wir mit unserer Arbeit einen Beitrag zur interreligiösen Verständigung leisten können.


Ein neues „Wir“

Interreligiöser Dialog meint für uns aber mehr als eine wechselseitige Verständigung auf Augenhöhe. Er ist ein gesellschaftliches Projekt, das die radikale Anerkennung der Anderen, religiöse Vielfalt und ein gerechtes Zusammenleben fördern will. Interreligiöser Dialog soll einen Beitrag leisten zu einer offenen Gesellschaft, in der alle Religionen gleich­berechtigt sind, Frauen und Männer ­respektvoll miteinander umgehen und alle dazugehören, die in unserem Land leben.
Die aktuellen Entwicklungen in der Schweiz weisen in eine andere Richtung. Sie zeigen ein Land, das um seinen Wohlstand fürchtet, sich abschottet und sich in eine idealisierte Vergangenheit flüchtet. Wir haben deshalb im Hinblick auf den Nationalfeiertag vom 1. August einen Text verfasst, in dem wir das visionäre Bild einer anderen Schweiz entwerfen: einer zukunftsgerichteten und weltoffenen Schweiz inmitten einer globalisierten und pluralistischen Welt. Mit Visionen für ein neues, kulturell und religiös vielfältiges „Wir“. Dieses neue „Wir“, das auf Zugehörigkeit und Partizipation aller EinwohnerInnen basiert, verfolgt eine solidarische, ökologische und werteorientierte Politik und setzt auf Verantwortung, sozialen Ausgleich und Nachhaltigkeit. Der Beitrag, den Religionen zu diesem neuen „Wir“ leisten können, bedingt ein Verständnis von Religion, das nicht allein von Kultus und Tradition lebt, sondern sich vielmehr an den großen, gemeinsamen ethischen Werten wie Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit und Sorge für die Schwachen orientiert. Auf diese Schweiz wollen wir hinarbeiten.


Dr. Doris Strahm, geb. 1953, lebt in Basel. Sie hat Psychologie, Pädagogik und Evangelische sowie Katholische Theologie studiert und zum Thema „Christologien von Frauen in Asien, Afrika und Lateinamerika“ promoviert. Neben Lehraufträgen an verschiedenen Universitäten ist sie freiberuflich als feministische Theologin und Publizistin tätig. Strahm war Mitgründerin und bis 2006 Redaktorin der feministisch-theologischen Zeitschrift FAMA. 2008 war sie Mitgründerin des Interreligiösen Think-Tank und ist dessen Vizepräsidentin. Ihr zusammen mit Manuela Kalsky 2006 herausgegebenes Buch „Damit es anders wird zwischen uns. Interreligiöser Dialog aus der Sicht von Frauen“ ist über die Internetseite www.dorisstrahm.ch als PDF zugänglich. – mehr zum Thema unter www.interrelthinktank.ch

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