Zur Vorbereitung: Die Mitte wird gestaltet mit einer großen Schale Wasser, einigen Steinen mit Grün darin (Efeu o.ä.), einer Kerze. Beim Schlussgebet werden in die Schale einige Blüten gelegt.
Liedvorschläge: Aus der Tiefe rufe ich zu dir (EG 655); Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn (EG 675); Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht (EG 667, 1, 4 + 5); Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt (EG 673, Vers 3 als Schlussvers)
Wir halten Andacht im Namen Gottes. Gott schenkt uns Leben in seiner ganzen Fülle;
im Namen Jesu Christi, seine Barmherzigkeit und Liebe tragen uns;
im Namen heiligen Geistes, Kraft, die uns im Glauben trägt und zum Handeln treibt. Amen.
Gott!
In deinem Wutschnauben richte mich nicht.
In deiner Zornesglut strafe mich nicht.
Neige dich mir zu, Gott! Ich verdorre.
Heile mich, Gott! Starr vor Schreck sind meine Knochen,
meine Kehle unsagbar starr vor Schreck.
Du aber, du, Gott, wie lange – ?
Kehre um, Gott! Entschnüre meine Kehle.
Schaffe mir Raum um deiner verlässlichen Zuneigung willen.
Denn im Tod – kein Deingedenken.
Im Schattenreich – wer lobsingt dir dort?
Erschöpft bin ich von meinem Seufzen.
Ich überschwemme mein Bett
jede ganze Nacht, mit meinen Tränen
spüle ich mein Lager hinweg.
Dunkel vor Kummer mein Auge,
getrübt durch alle, die mich bedrängen.
Weicht zurück von mir alle, die ihr mir Übles antut.
Denn gehört hat Gott mein lautes Weinen.
Gehört hat Gott mein Flehen.
Gott ergreift mein Gebet.
Sie sollen sich schämen und unsagbar starr
vor Schreck werden, alle, die mich anfeinden.
Sie sollen umkehren und zuschanden werden
– jetzt gleich.
Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh (Gütersloher Verlagshaus) 2006
„…damit keine einsam bleibe“ – Wie viele Frauen sind mit ihren Erfahrungen und Verletzungen, mit den Folgen ihrer Entscheidungen, mit den Spuren erlittener Gewalt, mit ihrer täglich erfahrenen Ausgrenzung allein. Wie viele Tränen werden einsam vergossen. Wir wollen – wie Gott – die Tränen, die einsam vergossen werden, sammeln. Die Schale – gefüllt mit Wasser – ist ein Zeichen dafür in unserer Mitte. Die Tränen welcher Frau nehmen Sie in unserer Schale wahr? Bleiben Sie einen Moment bei Ihren eigenen Gedanken; tauschen Sie sich anschließend mit Ihren Nachbarinnen zur Linken und zur Rechten aus. Ich gebe Ihnen ein Zeichen für Beginn und Ende beider Phasen mit einem Ton der Klangschale.
In der stillen Phase eventuell Musik einspielen – sie sollte ca. 2–3 Minuten dauern, der Austausch je nach Intensität 6 – 8 Minuten.
„…und sie blieb einsam im Hause ihres Bruders.“ Tamar, vergewaltigt und verstoßen von ihrem Halbbruder Amnon, bleibt einsam, zum Schweigen ermahnt, mit ihrer un-erhört-en Erfahrung. Zwar aufgenommen in das Haus ihres Bruders, aber nicht angenommen mit dem Leid und dem Unrecht, das sie erlebt hatte. Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt: „So blieb Tamar völlig zerstört im Haus ihres Bruders wohnen“. In ihrer Einsamkeit, in ihrer Zerstörtheit ist Tamar verbunden mit unzähligen Frauen. Tamar hat viele Schwestern.
Die Geschichte Tamars wird erzählt im 2. Samuelbuch (2 Sam 13,1-22) als eine „Episode“ am Rande der Erzählung um den Aufstieg Davids und seine Thronnachfolge. Viele Söhne Davids werden erwähnt, ihre Rivalitäten, Streitigkeiten, Parteiungen und Intrigen. Die einzige Tochter, die wir kennen lernen, ist Tamar. Sie wird von ihrem Halbbruder Amnon im Rahmen einer bis ins Detail geplanten, hinterhältigen Inszenierung vergewaltigt und schließlich auf seinen Befehl hin aus dem Hause gejagt. Der Widerwille des Täters richtet sich gegen das Opfer.
„… und Tamar blieb einsam“ ist der letzte Satz, in dem Tamar erwähnt wird. Kein Satz über ihre Tränen und Ängste, ihre Hoffnungen und Sehnsüchte, ihre Lebensperspektiven; kein Satz über ihre Rehabilitation. Sie hat die Tat überlebt, vom Leben jedoch ist sie abgeschnitten. Nach der Tat hatte Tamar ihr Kleid zerrissen und Asche auf ihren Kopf gestreut. Ihr entstelltes Äußeres ist Bild ihres verletzten Körpers und ihrer verletzten Seele.
„…und so blieb Tamar einsam, völlig zerstört im Hause ihres Bruders wohnen.“ Wie wäre es gewesen, hätte Tamar eine Schwester gehabt? Wie wäre es gewesen, hätte es ein Gespräch, eine Umarmung gegeben? Wie wäre es gewesen, hätte es gemeinsame Empörung, geteilte Tränen gegeben? Wie wäre es gewesen, hätte eine Tamar zugesagt, dass weder Gott noch die Menschen in Israel eine solche Tat billigen; dass sie eine Menschenrechtsverletzung und eine Gotteslästerung ist?
„…und sie blieb einsam, völlig zerstört im Hause ihres Bruders.“ Sie wird mit ihrer aufreizenden Art sich zu kleiden nicht ganz unschuldig sein an dem, was da passiert ist. Was hat sie auch abends noch allein auf der Straße gemacht? Sie hätte ja auch ein Taxi nehmen können, statt durch den Park oder den Bahnhof zu gehen. Sie hätte doch wissen müssen, dass das kein seriöser Job sein kann, den ihr da eine Cousine in Kiew versprochen hat. Wie kann eine denn ihren Pass abgeben? Wenn eine meint, in der Prostitution das große Geld verdienen zu können, muss sie sich die Folgen vorher klarmachen. – Wir könnten sie endlos fortsetzen, diese Sätze, die Frauen zerstören und noch einsamer machen können. Diese Sätze, die Frauen zu Mittäterinnen oder gar Täterinnen machen. Ihnen die Verantwortung zuschieben für alles, was in einem Frauenleben geschehen kann: für erfahrene Gewalt und Vergewaltigung, für Täuschung, Verschleppung und Ausbeutung durch Zwangsprostitution.
Alte Frauen in unseren Gruppen sind oft diejenigen, die das Schema durchbrechen. Sind diejenigen, die sich dieser schnell gesprochenen Sätze enthalten, die Verantwortung und Mitleid verweigern. Flucht und Vertreibung, Besatzungszeiten, Internierung und Gefangenschaft, Hunger und einsamer Kampf um das Überleben der Kinder, der Eltern haben sie gelehrt, Erfahrungen und Entscheidungen, Verletzungen und Verirrungen jenseits der Schuldfrage zu betrachten. Es sind Erfahrungen, die einsam gemacht haben, weil sie niemals darüber gesprochen haben. Es sind Erfahrungen, die die einen einsam und hart und die anderen einsam und offen und barmherzig gemacht haben für Frauenleben anderer Generationen. Auch um ihretwillen sollten wir vorsichtig sein mit den schnellen Urteilen. Manche unter uns wird zu Beginn unserer Andacht auch an die eigenen einsam geweinten Tränen gedacht haben.
„…und sie blieb einsam und völlig zerstört im Hause ihres Bruders.“ Barmherzigkeit und Solidarität, Verkündigung, Seelsorge und Diakonie durchbrechen Einsamkeit und heilen Zerstörung. Barmherzigkeit fragt nicht nach dem Woher, Wohin und Warum. Sie wendet sich bedingungslos zu. Sie tut das Nächstliegende. Sie verbindet, wenn auch zunächst provisorisch. Sie sorgt für Raum und Zeit zum Ausruhen und macht stark für die nächsten Schritte.
Solidarität trägt weiter. Sie nimmt Partei. Sie ist gegründet im Frauen(hilfe)-Bewusstsein, in der Grenzen überwindenden Schwesterlichkeit. Sie sagt Frauen zu: „Mein Gott ist ein Gott, der mitgeht; der Frauen nachgeht, wenn sie verzweifelt und einsam sind. Mein Gott will Recht und Gerechtigkeit für alle Menschen; ein Leben in Würde, ein Leben in Fülle für alle Menschen. Mein Gott kennt Leiden und Einsamkeit, Verleugnung und Gewalt. Und gerade deshalb ist er mir und vielleicht auch Dir ein glaubwürdiger Gott. Mein Gott ist durch ein ganzes Menschen leben gegangen mit allem, was dazu gehört. Und zu seinen Vorfahren zählten Frauen, die sich ihr Recht durch Prostitution verschafft haben, die als Prostituierte ihre ganze Familie gerettet haben, die als Ausländerin um ihr Recht gekämpft haben und in diesem Kampf eng verbunden mit einer anderen Frau waren. (1) Mein Gott ist ein Gott, der mit Dir geht. Meine Solidarität ist gegründet im Glauben an diesen Gott.“
Barmherzigkeit und Solidarität, die Verkündigung dieses Gottes, setzt sich um in Seelsorge und Diakonie. Unser Glaube an Gott, der befreit und heilt, und die Nähe zu den Frauen drängen zu politischem und institutionellem Handeln; ob in Kampagnen oder Beratungsstellen, in Aktionstagen oder Spendenprojekten.
„…und sie blieb einsam und zerstört im Hause ihres Bruders.“ In unseren Gruppen und Gemeinden, in unseren Werken und Verbänden mögen „Frauenhäuser“ und „Schwesternhäuser“ entstehen aus Barmherzigkeit und Steinen, aus Solidarität und Geld, aus Verkündigung und Kampagnen, aus Fantasie und Menschenliebe. In unserer Nachfolgegemeinschaft wirft keine mit Steinen. Wir achten aufeinander, hören aufeinander; wir nehmen einander ernst und wichtig; wir glauben einander. So kann Einsamkeit überwunden und Zerstörung geheilt werden. Zum Wohle und zur Heilung von Frauen und zur Ehre und im Sinne unseres Gottes. Amen.
Gott, wir haben der Tränen gedacht, die Frauen einsam weinen; unerhört, ungetröstet.
Wir haben uns deiner guten Absichten mit uns erinnert.
Gestärkt durch dein Wort und deine Verheißungen bitten wir dich für alle, die deinen und unseren Beistand brauchen; für die Verletzten, Missbrauchten und Gedemütigten bitten wir dich;
für die Trauernden, Orientierungslosen und Kranken an Leib und Seele.
Wir bitten dich für die Zukunft unserer Arbeit.
Wir bitten dich um Vertrauen und Begeisterung, um Mut und Treue bitten wir dich.
Wir bitten dich um Klarheit und Solidarität in unserem Reden und Handeln.
Als Zeichen der Verbindlichkeit unserer Solidarität und unserer Entschlossenheit zum Handeln legen wir Blüten in die Schale in unserer Mitte.
Recht und Gerechtigkeit werden unter uns wachsen, damit keine einsam bleibe.
Gott segne uns und behüte uns.
Gott schenke uns Barmherzigkeit, Aufmerksamkeit und Liebe.
Gott öffne unsere Herzen und stärke unsere Hoffnung.
Gott ermutige uns zur Verantwortung.
Gott nähre unsere Sehnsucht nach einem Leben in Fülle für alle Menschen. Amen
Angelika Weigt-Blätgen, Jg. 1955, ist Leitende Pfarrerin der Ev. Frauenhilfe in Westfalen. Die Überwindung von Gewalt gegen Frauen ist seit mehr als 20 Jahren ein Schwerpunkt der gemeindebezogenen und sozialdiakonischen Arbeit der EFHiW. Zu deren Einrichtungen gehören seit 1990 das Frauenhaus Soest und seit 1997 die Beratungsstelle für Opfer von Zwangsprostitution und Menschenhandel in Herford.
Anmerkungen:
1 Im Stammbaum Jesu Mt 1,1-17 werden fünf Frauen erwähnt: Tamar (1. Mose 38,1-30); Rahab (1. Mose 2,1-24; 6,1-27); Ruth; „Frau des Uria“ – Batseba (2. Mose Sam 11; 12). Die Geschichten der genannten Frauen werden eindrucksvoll beschrieben in: Dorothee Sölle, Gottes starke Töchter, Große Frauen der Bibel, Schwabenverlag 2003. Die Geschichten der Tamar und der Rahab eignen sich besonders gut, um die vielfältigen Motive der Prostitution aufzuzeigen und Frauen, die der Prostitution nachgehen, mit ihren starken und verantwortungsbewussten Seiten zu zeigen.
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